Wikileaks muss nicht gerettet werden, Amerika schon

Es ist wahr, Wikileaks sieht sich herben Attacken ausgesetzt: DDOS-Angriffe, gekündigte Accounts und Geschäftsbeziehungen, sogar merkwürdige Kollateralschäden bei anderen Organisationen werden berichtet. Aber muss Wikileaks jetzt unbedingt gerettet werden? Derzeit wohl eher nicht.

Auch wenn es schwer fällt — analysieren wir die Lage nüchtern: Amazons Cloud war nie der Haupt-Provider von Wikileaks. PayPal hatte den Wikileaks-Account schon vor knapp einem Jahr gekündigt. Der Bezahlservice, der einerseits für Einfachheit und andererseits für willkürliche Kündigungen berühmt ist, war zuletzt auf Platz 5 der Wikileaks-Spendenseite. Selbst wenn dieses Konto die Haupt-Einnahmequelle von Wikileaks gewesen sein sollte, ist der Einfluss aufs operative Geschäft von Wikileaks nicht unmittelbar spürbar. Wie bereits vor ein paar Monaten berichtet, rief Wikileaks die Spenden, die bei der Wau-Holland-Stiftung eingingen über lange Zeit nicht ab, da die gemeinnützig anerkannte Stiftung auf steuerlich verwertbare Belege bestand. Auch die Drohungen mit Gerichtsverfahren und Anklagen gegen Julian Assange scheinen vorerst leeres Geschwätz zu sein, wie die neue (untaugliche) Gesetzesinitiative zeigt.

Der unmittelbare Eindruck einer Attacke, eines Informationskriegs um Wikileaks entsteht daher, dass die Haupt-Domain wikileaks.org derzeit nicht erreichbar ist. EveryDNS soll die Domain blockiert haben, berichten viele. Das Unternehmen selbst besteht darauf, dass es lediglich die grassierenden DDOS-Angriffe nicht im kostenlosen Service bewältigen kann. Bleibt die Frage: Warum hat Wikileaks überhaupt die Dienste eines Kostenlos-Providers mit Sitz in den USA in Anspruch genommen? Und: warum zieht man den Domainnamen nicht einfach um, wie es ja bei wikileaks.ch problemlos möglich war?

Dies erinnert an das Pseudo-Drama um die Domain wikileaks.de, die sich im Frühjahr 2009 abgespielt hatte. Wikileaks gerierte sich hier als Opfer des deutschen Bundesnachrichtendienstes, der die Sperre der deutschen Domain erwirkt haben sollte. Die Wahrheit jedoch war anders: ein Wikileaks-Enthusiast hatte die Domain registriert und danach versucht illegal die Domain des Bundesnachrichtendienstes zu übernehmen. Daraufhin kündigte ihm sein Provider fristgerecht die Verträge und stellte die Domain nach mehreren Monaten Wartezeit ab. Die Domain konnte anschließend problemlos an einen anderen Anbieter übertragen werden, trotzdem ging Wikileaks mit einer Revolverstory über den vermeintlichen BND-Angriff an die Presse.

Hilfe wird aber derzeit wirklich gebraucht, in meinen Augen aber vor allem jenseits des Atlantiks. Dass die Library Of Congress Wikileaks sperrt, hat eher anekdotischen Charakter — besonders wenn man die Diskussionen um Sperren an Bibliotheks-Computern des letzten Jahrzehnts kennt. Wenn aber tatsächlich Studenten der Columbia University gewarnt werden, dass alleine man seine Jobchancen riskiert, wenn man sich die Wikileaks-Inhalte ansieht oder gar über Wikileaks spricht, dann ist etwas faul im land of the free. Und wenn man im Kontrast dazu sieht, dass die Washington Times einen unverhohlenen Mordaufruf ohne Kontext oder Distanzierung abdruckt, dann stimmt es nicht nur mit der Meinungsfreiheit nicht, dann ist auch die Ethik schwer verrutscht.