Medienkompetenz fängt zu Hause an

Am Freitag macht die Parodie einer Antwort der Agentur Jung von Matt an Judith Holofernes die Runde — und ich muss zugeben, dass das Fake so gut gelungen war, dass ich mich fragte, ob er nicht doch echt sei.

Dabei fehlte es nicht an Warnsignalen, bzw. Misstrauensanlässen: Warum sollte die Antwort ausgerechnet an dieser Stelle erscheinen? Wer ist dieser „synthie_und_roma“ überhaupt, der den Text veröffentlichte? Und: Welcher ernstzunehmende Player im deutschen Medienzirkus würde sein Gegenüber so rüde attackieren?

Natürlich würden wir die Aussage: „Ich glaube es hackt“ groß bei Ihnen einbauen, Frau Meier. Ein bisschen Sex darf bei der BILD-Zeitung nicht fehlen. Auch wenn unsere Leser den Sex-Appeal einer weltverbesserischen Neofeministin mit Sendungsbewusstsein wohl nicht ganz erfassen werden. Denn für BILD- Leser haben Frauen nur eine Seite: Seite 1.

Nun hat sich der Autor der Satire geoutet und erklärt ganz richtig:

Die ganze Aktion macht klar: Es gibt auch unter superschlauen Nicht-BILD-Lesern jede Menge leichtgläubige Menschen. Man muss sich nur die Kommentare unter meinem Text ansehen. Sogar lange nachdem der Fake aufgeflogen war, wurde dort teilweise übel geschimpft: auf die BILD, die Werber und überhaupt.

Ein ähnliches Phänomen hatte ich schon hier festgestellt. Aber die Diagnose des ehemaligen Werbers Alf Frommer etwas kurz:

Einige Aspekte kamen zusammen, um das zu ermöglichen. Das Thema war hochaktuell und die Bereitschaft der User neue Informationen darüber weiter zu verbreiten, entsprechend groß. Zudem taugen Boulevard und Werbung bei einer bestimmten Klientel als wunderbares Feindbild. Speziell Werbern traut man wohl wirklich einiges an Arroganz und Überheblichkeit zu. Gerade die sehr erfolgreiche Werbeagentur Jung von Matt hat viele Neider innerhalb und außerhalb der Werbeszene, die sich richtig gefreut hätten, wenn die so einen Fehler gemacht hätten. Nicht umsonst hat kress.de mit großer Schadenfreude darüber berichtet. Sehr beliebt war darüber hinaus der Seitenhieb: „weltverbesserische Neofeministin“. Vielleicht, weil das viele Medienvertreter denken, aber niemals sagen würden. Aber gerade dafür gibt es ja Satire.

Ich mag nun wirklich nicht der liebenswürdigste Mensch sein, aber Neid auf Jung von Matt? Ich will bestimmt nicht durch die Kreativmühle gedreht werden, ich gönne anderen Leuten gerne ihr Gehalt — wer sollte auch sonst die tollen Wohnungen im „Perfekten Dinner“ bei VOX vorführen? Ich kenne schlichtweg niemanden von Jung von Matt — ich wusste spontan nicht einmal, dass sie hinter der BILD-Kampagne stehen. Sie sind nicht auf meinem Radarschirm.

Nicht der Neid machte mich schwankend, es war eher der Tabubruch, der natürlich zum ganz normalen Besteck von Agenturen wie Jung von Matt gehört. Ausgerechnet Willy Brandt für BILD werben zu lassen war für mich so ein Tabubruch, ebenso andere Motive der Kampagne. Die Jung-von-Matt-Satire hätte deshalb in meinen Augen die Chance gehabt, authentisch zu sein – gezielt lanciert, um für Empörung zu sorgen.

In seinem letzten Absatz teilt Frommer nochmal kräftig aus:

Überhaupt sind sich BILD und Holofernes eigentlich viel ähnlicher, als zumindest die Sängerin glaubt: Beide haben – auf ihre Weise – ein Weltbild, dass auf klarer Aus- und Abgrenzung beruht. Und nur weil die Gründe bei Judith Holofernes vielleicht bessere sind, als bei der Springer-Presse, ist Abgrenzung grundsätzlich abzulehnen. Denn das Ergebnis kann man jeden Tag in den Innenstadtbezirken Berlins bewundern: Wohlstands-Ghettos der Dienstleistungsgesellschaft für Leute, die gerne unter sich bleiben und sich gegenseitig versichern, was für gute Menschen sie sind. Und wie intelligent.

Damit zeigt Herr Frommer leider nur eins: er selbst ist auch etwas beschränkt, grenzt sich selber ab gegen die Menschen, die er nicht gut findet.

Aber das per se halte ich nicht für das Problem – diese Wahrnehmungsfilter sind bei uns Menschen eingebaut. Wir werden diese „Abgrenzung“ nicht aus anderen Menschen und erst recht nicht aus uns selbst herausbekommen. Deshalb müssen wir damit reflektiert umgehen und Mechanismen finden, wie wir damit umgehen können.

Länger als ein Sechs-Minuten-Ei

Eine Fage, die ich mir stelle: wieso hält sich die Empörung über Guttenberg länger als die über Dioxin in unserem Frühstücksei?

Guttbye

Ein Erklärungsansatz: wenn wir Ägypten, Tunesien spielen wollen, muss irgendwer der Mubarak sein.

Die BILD-Armee (eine kleine Polemik)

Empörung über den Militärisch-Guttenbergschen Komplex. Wie die Financial Times Deutschland meldet, bahnt sich eine lukrative Zusammenarbeit an:

Den Angaben des Ministeriums zufolge soll die Kampagne im März beginnen und bei den Zeitungen „Bild“ und „Bild am Sonntag“ sowie der Online-Ausgabe von „Bild“ laufen. Zu den Kosten machte das Ministerium noch keine Angaben.

Natürlich vermuten die Nicht-Fans des Barons im Ministerrang einen sinistren Zusammenhang: keine Zeitung stand dem Ehepaar Guttenberg so zur Seite wie BILD. Selbst Schwesterblatt Welt hat sich von den fadenscheinigen Ausflüchten zu den Plagiaten nicht wirklich beeindrucken lassen. Gibt es hier ein quid pro quo? Ich vermute keinen direkten Zusammenhang – aber es ist bemerkenswert instinktlos diese Pläne nun zu verkünden.

In der Debatte um die Wehrform hatten Gegner einer Berufsarmee vor einer Entwicklung der Bundeswehr zu einer Unterschichtenarmee gewarnt. Unter Verweis auf die Erfahrungen anderer Länder hieß es damals, ohne Wehrpflicht müsse die Truppe stärker auf Personal aus sozial schwachen Schichten und ohne andere berufliche Perspektive zurückgreifen.

Was den Empörten jedoch entgeht: Hier sollen BILD-Leser systematisch an Waffen ausgebildet werden. Es ist kein Geheimnis, dass RAF-Sympathisanten keine Terrorcamps in Pakistan aufsuchten, sondern sich gezielt bei der Bundeswehr an der Waffe schulen ließen. Eine Armee, die ihre staatsbürgerlichen Pflichten an Informationen ausrichtet, die sie aus BILD haben? Es braucht keine Volksaufstände in Nordafrika, um das beunruhigend zu finden.

Die Gelder für die Anwerbung für das Freiwillige Soziale Jahr, für die Ersatzdienste, die unseren prosperierenden Pflegesektor in Gang halten sollen, liegen bestimmt bei Guttenbergs Kabinettskollegin Kristina Schröder. Ich bin gespannt, welche Medienpartner sie findet.

Wie ich letztens gesehen habe, wird es nach den bemerkenswert folgenlosen Girls‘ Days in Zukunft auch Boys‘ Day geben. Der bundesweite Jungen-Zukunftstag, bei dem Fünftklässler Input zur Lebensplanung bekommen sollen. Ob hier die Bundeswehr auch ihre löchrigen Netze auswerfen wird?

Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Durch meine Timeline jagen Botschaften von Leuten, die sehr befremdet darauf reagierten, dass so viele Menschen der Pro-Guttenberg-Gruppe auf Facebook angehörten. Leute, von denen man eigentlich eine gute Meinung hatte. Denen man sich verbunden fühlte – zumindest so verbunden man durch eine Facebook-Freundschaft ist. Und diese Leute fanden plötzlich Guttenberg, den gegelten Populisten und Plagiator gut.

Wie konnten sie nicht sehen, was da abgeht? Wie konnten sie der Realität den Rücken zukehren und die Schandtaten des Ministers als Nebensache abtun? Diese Leute mussten die Augen und Ohren fest verschlossen haben, wenn sie nach wie vor an die linke Verschwörung der Hauptstadtpresse glaubten. Da schreiben sie, es seien ja nur Zitate „nicht ausreichend markiert“ worden, als ob das eine lässliche Sünde sei. Dabei wäre eine ausreichende Markierung einem einem Geständnis gleich gekommen.

Ganz klar: die Pro-Guttis leiden unter Realitätsverlust. Sie haben sich einen Wahrnehmungsfilter gebastelt, der alles ausblendet, was die Integrität ihres Lieblings gefährdet. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Aber was bedeutet das für uns, die Guten, die Aufrechten, die Netizens? Schließlich war die Facebook-Massengruppe bisher unser Ding.

Aber nein, das kann doch nicht wahr sein. „Das Netz“ ist nicht für jemanden, der so entgegen unseres Geschmacks ist. Der gelogen hat, betrogen, verarscht, verspottet. Der im Zwielicht steht.

Eigentlich kann das nicht mit rechten Dingen zugehen. Also auf an die Tasten. Schreiben wir es auf:

Nein, Beweise gibt es dafür nicht. Nicht mal Indizien. Aber verbreiten wir es Mal. Denn es kann ja nicht sein, was nicht sein darf.

BP zu Guttenberg

Grade verkündet die Tagesschau, dass Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg dauerhaft auf das Führen des Doktorgrades verzichten will. Damit erinnert er mich immer mehr an die Öffentlichkeitsarbeit von BP nach der Explosion von Deepwater Horizon. Vertuschen, kleinreden, andere beschuldigen. Über Tage hat der CSU-Politiker seine Partei und Koalitionspartner in Geiselhaft gehalten: Unterstützt mich. Ihr braucht mich! 21,9 Prozent! Afghanistan!

Das Problem ist nur: Mit einem Verzicht ist es nicht getan. Nun muss die Universität Bayreuth prüfen und – ohne vorverurteilen zu wollen – ich vermute, das Ergebnis sieht nicht gut aus. Die Frage ist: hat er betrogen? Zwar hat laut Guttenberg-fanclub.de Bild.de zu Guttenberg bei einer Wahlkampfveranstaltung seine eigene mühevolle Arbeit als „Blödsinn“ bezeichnet und Reue gezeigt. Aber wieder einmal schreckt er vor dem Schritt zurück, der mir unvermeidlich scheint: eigene Verantwortung zu übernehmen.

„Ich habe Fehler gemacht, ich habe sie nicht bewusst gemacht”, sagte er.

Genau das erscheint mir nach dem derzeitigen Informationsstand ausgeschlossen. Sieben Druckseiten aus einem Zeit-Artikel kopieren, über 20 Prozent der Textmasse plagiieren — das passiert nicht einfach. Guttenberg schützt Unkenntnis vor, um die eigene Ehre zu retten. Vielleicht sogar mit Erfolg: denn seine Gefolgschaft weiß es ja auch nicht oder will es nicht besser wissen.

Man könnte es nun auf sich beruhen lassen, so zumindest die Pro-Guttenberg-Fans. Er hat sich ja entschuldigt. Doch leider ist durch die anhaltende Nicht-Übernahme der Verantwortung dieser Weg versperrt. Er hat sich immer nur für die Light-Version des Geschehenen entschuldigt, immer nur die Hälfte von dem zugegeben, was eigentlich nicht mehr zu Leugnen war.

Journalisten werden weiter bohren, weiter bohren müssen. Denn der Klärungsbedarf ist groß: wie konnte die renommierten Prüfer so offenkundige Mängel übersehen? Wie tief ist der Sumpf, in dem solcher Blödsinn nicht nur durchgewunken, sondern mit Auszeichnungen belegt werden? Welche politischen Deals werden geschlossen, um Oberfranken vor der Bedeutungslosigkeit zu retten?

P.S.: In der öffentlichen Diskussion kommt die tätige Reue etwas zu kurz. Nach wie vor entschuldigt sich Minister Guttenberg für eine lässliche Sünde, die er aus vermeintlicher persönlicher Größe als schwere Verfehlungen bezeichnet. Das ist natürlich nur ein persönlicher Eindruck.

Was mir aber eindeutig fehlt: Bevor man eine Entschuldigung akzeptieren kann, muss der Entschuldigende reinen Tisch machen. Doch das hat er bis heute nicht. Er hat nicht erklärt, wie viel er geschummelt hat, er hat nicht erklärt, wieso er geschummelt hat und seine Professoren haben nicht erklärt, wie sie die Arbeit mit summa cum laude bewerten konnten, obwohl der Prüfling selbst die Arbeit nun als „Blödsinn“ bezeichnet.

Einschreiben

Nach einer Woche Abwesenheit fand ich eine Post-Benachrichtigung im Briefkasten. Ein Einschreiben wartete auf mich. Eine Unterschrift war erforderlich.

Dem Blogger fallen sofort üble Dinge ein. Eine Abmahnung? Gerichtsschreiben? Einstweilige Verfügungen? Ich musste zwei Tage warten und dann zum örtlichen Postamt fahren, wo die mangelhafte Usability für lange Schlangen sorgte.

Es stellte sich heraus: das Einschreiben war eine Warensendung aus Großbritannien. Ich nehme an, irgendwas lief da schief beim Versand. Nun habe ich drei Staffeln einer TV-Serie mit denen ich mich langsam wieder beruhigen kann.

Aber der Vorgang stellte klar: De-Mail ist ein elektronisches Postfach für lauter Schreiben, die man als Normalbürger eigentlich nicht bekommen will. Wann bekommt man schon Einschreiben mit guten Nachrichten? Und bei den schlechten Nachrichten gibt es kein Entrinnen. Unterschrift erforderlich. Authentifikation. Biometrisch, chipgesteuert. Blicken Sie in die Kamera. Nicht blinzeln. Nicht lächeln! Sie haben die Vorladung erhalten, wir haben es registriert, auf die Zehntelsekunde genau.

Nee, danke.

Alles gutt

In der süddeutschen Zeitung von heute nennt Kurt Kister BILD das „Zentralorgan der Guttenberg-Verteidigung“. Ist das berechtigt? Sicherlich.

Kleines Beispiel: Mit einer Umfrage versichert sich die Redaktion heute der unverbrüchlichen Guttenberg-Treue ihrer Leser.

Wo ist der Unterschied zwischen „Er macht eine unglückliche Figur“ und „Ihm ist der Erfolg zu Kopf gestiegen“? Nun: es gibt keinen. Die Umfrage ist so konstruiert, dass die Guttenberg-Unzufriedenen zwischen drei indifferenten Antwort-Optionen wählen müssen, die unerschütterten Guttenberg-Anhänger versammeln sich hingegen bei einer Antwort-Option.

Praktischerweise unterscheidet die Option A nicht zwischen Amtsführung und Plagiatsvorwürfen, und fragt ausdrücklich nicht nach Konsequenzen. Trotzdem verkündet BILD.DE stolz:

Dennoch – einen Rücktritt lehnt die Mehrheit der BILD.de-User ab. Mehr als 50 Prozent sagen: Guttenberg macht seinen Job GUTT!

Hätte Bild.de einfach die Frage gestellt: „Soll Guttenberg zurücktreten – Ja oder Nein?“ — ich glaube, die Leser von Bild.de hätten den Rücktritt (noch) mehrheitlich abgelehnt. Aber so sicher scheint man sich im Axel-Springer-Haus nicht gewesen zu sein.

Nachtrag, 22. Februar: Ein wenig zu lange hat Bild.de die Umfrage in seine Guttenberg-Artikel eingebaut. Nun lautet das Ergebnis tatsächlich so:

Und war die Umfrage zum Beispiel am Samstag noch ein Beleg dafür, was Deutschland denkt, findet sich in dem heutigen Artikel kein Hinweis mehr auf das Ergebnis.

Openleaks – der Flicken an der falschen Stelle?

Derzeit tobt ja der Kampf Openleaks versus Wikileaks, Daniel versus Julian durch alle Gassen. Dabei gehen nicht nur die Inhalte der berüchtigten „cables“ in Vergessenheit, sondern auch das Leaken selbst, das Veröffentlichen von Geheimnissen, die Kontrolle der Macht ist aus dem Blickfeld geraten.

Constanze Kurz hat es bei einer Veranstaltung der Böll-Stiftung richtig gesagt: Ohne eine Organisation wie Wikileaks wären die Depeschen der US-Diplomaten wohl nie so groß veröffentlicht worden. Die meisten NGOs und Zeitungen wären vor dieser gewaltigen Aufgabe zurückgeschreckt. Oder kurzscher ausgedrückt: „Also den Arsch in der Hose muss man erst mal haben.“

Für fast alle anderen Leaks gilt aber: dazu hat es Wikileaks nicht gebraucht. Zumindest im Prinzip nicht. Denn wir feiern Jahrestag um Jahrestag wieder die Erfindung einer Technik, mit der quasi jeder Dokumente weltweit veröffentlichen kann: das Internet. Das World-Wide-Web war nicht als Lesemedium gedacht, sondern sollte vor allem das Publizieren vereinfachen. Wenn Dokumente tatsächlich so brisant sind, dass sie sich selbst verbreiten reicht es aus, die Dokumente einem einigermaßen bekannten Blogger in die Hand zu drücken, auf Google zu stellen oder sogar – wenn es die Kürze erlaubt — in Webcomics einzuschmuggeln.

De facto hat Wikileaks schon vor über einem Jahr das Publizieren eingestellt — und trotzdem ging das Leaken weiter. ACTA-Dokumente, Bankenskandale Geheimberichte der Bundeswehr fanden ihren Weg an die Öffentlichkeit. Für 99,9 Prozent der Fälle gilt: ohne Wikileaks geht es ohne Probleme weiter wie bisher. Wikileaks war nicht die Kommunikationsrevolution, sondern nur das Symptom, eine Entwicklung die eigentlich unvermeidbar war. Halbe Bibliotheken passen auf Daumennagelgröße, das IT-Sicherheitsverständnis der Mächtigen ist unterentwickelt und die Skandalmaschinerie der Medien verlangt nach ständig neuer Nahrung.

Nur um nicht missverstanden zu werden. Leaken ist für Informanten nach wie vor mit hohen Risiken verbunden — ich möchte das nicht klein reden. Aber das Risiko ist zu managen. Beziehungsweise: der Leaker macht sich nicht nur durch die simplen Fehler bei der Datenübermittlung angreifbar. Insofern ist es zwar ganz interessant und ehrenvoll, dass Daniel Domscheit-Berg mit OpenLeaks einen Kommunikationskanal plant, der Informanten unterstützen will, indem er anonyme Kommunikation absichert und Metadaten entfernt.

Aber das deckt eben nur einen sehr kleinen Teil des Leakens ab. Die mutmaßliche Quelle von Wikileaks wurde verhaftet, weil er sich auf anderen Kanälen bemerkbar machte. Ein Whistlerblower, der allein in seinem Kämmerlein sitzt, Dokumente in einen toten Briefkasten wirft und keinerlei Rückmeldung erhält, tendiert dazu sich auf andere Weise sichtbar zu machen.

Zudem: nur in seltenen Fällen ist eine Akte ohne Kontext oder andere begleitende Dokumente schon ausreichend, einen Skandal aufzudecken. Selbst wenn man als Bestandteil eines Systems Informationen zuordnen kann – außerhalb der Organisation sind im Zweifel nur wenige Menschen fähig, die richtigen Zusammenhänge zu sehen. Oder gar die Irrtümer eines Whistleblowers fachgerecht zu sehen. Wikileaks selbst hat es demonstriert: die Redakteure des Collateral Murder“-Videos haben geflissentlich die Waffen der angeblichen Zivilisten am Boden übersehen, haben ignoriert, dass es bereits ein Buch gab, dass die Geschehnisse an diesem Tag in Baghdad beschrieben hatte. Die Bilder waren stark und emotional, der Kontext komplett falsch. Auch so kann man die öffentliche Meinung beeinflussen und sogar Geschichte schreiben.

Lange Rede, kurzer Sinn: ich glaube nicht, dass es derzeit einen Mangel an Publikationsmöglichkeiten gibt. Was fehlt: Organisationen, die Kontexte herstellen können, die es sich erlauben auch Mal 15000 Seiten Aktenmaterial durchzuarbeiten ohne einen Skandal zu finden oder daraus zu konstruieren. OpenLeaks will dies nicht sein. Zusammengesparte Redaktionen haben es schwer, und die öffentliche Aufmerksamkeit ist durch die fortwährende Skandal-Kanonade schon fast taub geworden.

Was benötigt wird ist: guter Journalismus.

Netzethik als Loriot-Film

Die Bundesregierung will uns mit einer Netz-Ethik beglücken. Und geht gleich forsch dabei vor – ohne falsche Schüchternheit.

Wettengel stört sich an den gängigen „Phantasienamen“ in Online-Foren. Normalerweise sei es ein Zeichen von Höflichkeit, dass sich der Bürger „zu sich selbst bekennt“. Er warf die Frage auf, was die „ständige Verwendung“ von Pseudonymen „für Rückwirkungen auf die reale Welt haben wird“.

Ja, was mag das für Auswirkungen haben? Ich war zum Beispiel heute am Supermarkt und habe mich weder an der Metzgereitheke, noch an der Kasse vorgestellt. Dabei wissen wir doch, wie das korrekt ablaufen muss. Das Vorbild der Netzethik des Herrn Wettengel ist offenbar Loriots Pappa ante Portas: „Guten Tag, mein Name ist Lohse! Ich kaufe hier ein!“

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Mal im Ernst: die Phantasienamen stammen daher, dass im digitalen Raum unsere Umgangsformen eingeschränkt sind. Was ist das für einer, unser Gegenüber? Wir sehen ihn nicht. Wir wissen nicht wie alt er ist, wie er sich kleidet, wer er ist. Und da im Netz Millionen von Fremden mit Millionen von Fremden zu tun haben, ist es sogar ganz praktisch, wenn das Gegenüber sich durch einen Nicknamen etwas mehr zu erkennen gibt. Was weiß ich, wenn mir jemand „Lohse“ ins Kommentarfeld schreibt? Nichts.

Darüberhinaus wird man im Netz ständig nach seiner Identität gefragt. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mich in der „realen Welt“ das letzte Mal den Personalausweis vorzeigen musste — ich glaube, es war als ich in ein Flugzeug steigen wollte. Der Normalfall ist, dass wir uns nicht ausweisen, sondern einfach sind. In der stofflichen Realität tragen wir Kapuzenpullis oder Krawatte, Nasenpiercing oder Halbglatze, im Netz tragen wir Nicknamen. Es ist wenig, aber es ist etwas. Es ist eine Notwendigkeit, wenn man unter Fremden ohne große Angst kommunizieren will. Man stelle sich vor, die Stammkneipe verlangt Ausweise und schickt uns alle paar Minuten einen misstrauischen Aufseher vorbei, der gerne alle Gäste abmahnen würde.

Bezeichnend ist auch dies:

Derzeit werde das von Bundesinnenminister Thomas de Maizière ausgearbeitete „Gesetz zur Verhinderung schwerer Eingriffe ins Persönlichkeitsrecht“ in den Ministerien abgestimmt, das besser bekannt sei unter dem Titel „Rote-Linie-Gesetz“.

Rote-Linie-Gesetz? Ich weiß, dass der US-Kongress seinen Gesetzen gern blumige Namen gibt – aber im bürokratischen deutschen Gesetzes-Slang soll diese frivole Namensgebung wohl auch ein Signal sein: Hier ist die rote Linie!“, sagt uns der Innenminister. Denn wir sind 6-jährige Rotzlöffel, denen man Grenzen setzen muss. Anscheinend steht hier nicht der Schutzgedanke an erster Stelle, sondern ein Erziehungsauftrag. Herr de Maizière erklärt uns, wie man sich zu benehmen hat.

Mein Name ist Torsten. Ich werde hier bloggen, Herr Minister.