Wikileaks – Substanz und Inszenierung

Mittlerweile ist es ein mediales Dauerfeuer – Wikileaks hier, Wikileaks da, hier, da, hier, da, hier, da und dort sowieso. Doch leider geht unter dem Aktualitätsdruck das Gefühl dafür verloren, was eine relevante Entwicklung ist und was nur Theaterdonner. Alle Seiten in dem Konflikt inszenieren, was das Zeug hält — doch gleichzeitig geht es auch um höchst wichtige Fragen zur Informationsfreiheit, zur internationalen Politik und auch zum digitalen Zusammenleben.

Ein Beispiel: Julian Assange hat sein Schweizer Bankkonto verloren. Skandal oder Anekdote? Ich meine: letzteres. Wikileaks und Julian Assange haben manchmal einen bemerkenswert hohen Verpeilungsfaktor. Schon mehrmals musste Wikileaks Nachteile in Kauf nehmen, weil sich Assange und seine Mitarbeiter sich nicht um Formalien scherten.

MasterCard, PayPal und VISA sperren Wikileaks die Konten? Sehr relevant. Denn hier geht es um das finanzielle Äquivalent zur Netzneutralität. Dass PayPal dauernd Konten sperrt, gehört zwar seit Jahren zum Alltag — in diesem Fall wird jedoch klar der illegale Charakter von Wikileaks angeführt. Dafür liegt aber nichts weiter vor außer ein paar vagen Behauptungen der US-Regierung. Wenn eine Anklage vorläge, könnten die Dienstleister zumindest ihre Rechtsgutachter prüfen lassen, wie sich die Rechtsvorschriften auf sie als vermeintliche Mitstörer auswirkt. Da die amerikanische Regierung dies jedoch bisher vermieden hat, ist klar: Hier wird mit politischem Druck wird hier ein unbequemer Kritiker behindert – ein Armutszeugnis für jeden Rechtsstaat. Man muss jedoch auch fragen, ob tatsächlich die derzeitige amerikanische Regierung die treibende Kraft ist oder gerade das andere politische Lager.

Wikileaks.org ist down? Absolut irrelevant – den Domainnamen hat Wikileaks entweder mutwillig oder grob fahrlässig selbst riskiert. Theaterdonner, um die Unterstützer zu mobilisieren. Die gerichtliche Auseinandersetzung zur Abschaltung von Wikileaks.org gab es schon Anfang 2008 im Streit mit dem Bankhaus Julius Baer. Ergebnis: Wikileaks bekam den Domainnamen zurück. Auch die Aktion Wikileaks auf über 1000 Servern zu verteilen ist vorrangig Fassade – Backups sind einfach gemacht, Ausweichquartiere schnell gefunden.

Das führte aber zur Debatte deutscher Provider, ob das Spiegeln von Wikileaks-Akten gemäß den AGB erlaubt ist. Dies sollte eigentlich nicht relevant sein, weil die Rechtslage eigentlich relativ klar ist. Hier gilt die gleiche Situation wie bei den Finanzdienstleistern — die Haftung der Provider für vermeintlich illegale Inhalte ist wieder in der politischen Diskussion. Solange nirgendwo ein Referenzfall, eine Anzeige oder gar ein Urteil existiert, können Hosting-Provider nicht zu den Richtern über legal oder illegal gemacht werden. Sie haben aber freilich die Möglichkeit eine eigene Entscheidung zu treffen.

Eine der Frauen, die Assange angezeigt hatte, hat um drei Ecken irgendwie mit bösen Ex-CIA-Extremisten zu tun? Derzeit absolut irrelevant. Diese guilt-by-association-Methode wird gewöhnlich gezückt, wenn man nichts Substantielles in der Hand hat und man den Gegner anschwärzen will. Doch bei jedem politisch aktiven Menschen kann man solche Verbindungen aufbauen, wenn man böswillig genug sucht.

Ein britisches Gericht lehnt Kautionszahlungen für Assange ab? Spannend im Moment, aber substanziell absolut irrelevant. Denn der Promi-Auflauf zur Unterstützung von Assange machte eine Kaution eigentlich unmöglich: Die ach so großzügigen Spender riskierten ja nicht einmal die Einschränkung ihres Lebensstils, wenn die Kaution denn verfallen wäre. Wichtig ist vor allem eins: das britische Gericht muss zügig entscheiden, ob die Vorwürfe, die auch von zwei schwedischen Gerichts-Instanzen validiert werden, für eine Auslieferung reichen. Der Prozess um die Auslieferung des „UFO-Hackers“ Gary McKinnon zeigt die vielen Fallstricke in solchen Verfahren. Wichtiger ist hingegen wie zügig die Auslieferung läuft. Wenn Assange seinen Prozess in Schweden hinter sich gebracht hat, bevor die US-Staatsanwälte eine Anklage formuliert haben, ist das Verfahren in erster Linie sein persönliches Problem.

Die australische Regierung prüft, ob man Assange den Prozess machen kann? Auf den ersten Blick Theaterdonner, auf den zweiten Blick aber durchaus im Interesse von Assange, wenn er denn je in sein Geburtsland zurückkehren will. Daniel Elsberg, der die pentagon papers veröffentlicht hatte, stellte sich damals dem Prozess in den USA und konnte auch nur so langfristig die Gesetzgebung beeinflussen.

Die Untiefen des schwedischen Sexualrechts? Spannend für die gesellschaftliche Debatte, nicht wirklich für Wikileaks. Wenn ein Mann mit einer schlafenden(!) Frau, die er kaum kennt, gegen ihren erklärten Willen ungeschützten Geschlechtsverkehr beginnt, kann (und sollte) er in allen westlichen Ländern Ärger bekommen. Ob es denn tatsächlich so war, müssen aber nun Richter entscheiden.

Mastercard.com ist down? Auf den ersten Blick eine weitere Aktion des niemals endenden shitstorms, ohne den sich netizens wohl nicht mehr zu einer Teilhabe entscheiden können. Man attackiert ein paar Stunden MasterCard und sonnt sich im vermeintlichen Erfolg. Doch: das haben die Leute wahrscheinlich auch gedacht, die Wikileaks.org seit zwei Wochen massiv attackieren. Statt dem Cyber-War der Nationalstaaten könnte es schon längst um einen digitalen Bürgerkrieg der Onliner gehen, die mit 4Chan und Co die digitale Lynchjustiz zum Spiel erhoben haben und nun als Machtmittel entdeckt haben.

Ach ja — eine relevante Sache bekommt zur Zeit relativ wenig Aufmerksamkeit: die Inhalte, die auf Wikileaks veröffentlicht wurden.