Es ist ein beliebtes Argument von Start-ups, die ein undurchdachtes, unvollständiges, vielleicht sogar ein unmögliches Produkt herausbringen wollen: Ja, es gibt Probleme, aber schließlich wurde ja auch Steve Jobs mit seinem iPhone verlacht. Macht Euch nur lustig, übt nur Kritik, aber ich trete das Erbe von Steve Jobs an und zeige Euch Neidern schon, wie es denn funktioniert. Irgendwann. Die Begeisterung für diesen Mythos ist so hoch, dass sich Theranos-Gründerin Elizabeth Holmes sogar zu einer Steve-Jobs-Kopie umstylte, um ein nicht existentes Produkt zu vermarkten. Mit gewaltigem Erfolg.
Es ist aber eine Geschichtsfälschung, wenn man behauptet, Steve Jobs sei für sein iPhone verlacht worden. Allein schon die Prämisse ist albern: Apple war schon lange kein Start-up mehr, als das iPhone vorgestellt wurde. Es war keine vage Idee, sondern ein jahrelang gründlich vorbereiteter Produktstart eines milliardenschweren Konzerns, der seine Dominanz in bestimmten Märkten auf einen neuen Markt übertragen wollte. Damals genügte es nicht, die Baupläne an einen Auftragsfertiger in Shenzen zu schicken und dann auf einen vollen Schiffscontainer mit der Ware zu warten. Zu Innovation gehört nicht nur eine Idee und ein Design, sondern auch die Fähigkeit, diese Idee umzusetzen und zu vermarkten.
Schauen wir doch einfach mal ins Presse-Archiv, das mir meine Stadtbibliothek zur Verfügung stellt. Was schrieb die Weltpresse, nachdem Steve Jobs im Januar 2007 das iPhone der Öffentlichkeit vorgestellt hatte?
Fangen wir der Einfachheit halber an mit der Pressemeldung, die Apple selbst ausgesandt hat:
Apple(R) today introduced iPhone, combining three products-a revolutionary mobile phone, a widescreen iPod(R) with touch controls, and a breakthrough Internet communications device with desktop-class email, web browsing, searching and maps-into one small and lightweight handheld device. iPhone introduces an entirely new user interface based on a large multi-touch display and pioneering new software, letting users control iPhone with just their fingers. iPhone also ushers in an era of software power and sophistication never before seen in a mobile device, which completely redefines what users can do on their mobile phones.
„iPhone is a revolutionary and magical product that is literally five years ahead of any other mobile phone,“ said Steve Jobs, Apple’s CEO. „We are all born with the ultimate pointing device — our fingers — and iPhone uses them to create the most revolutionary user interface since the mouse.“
Was auffällt: Viele Features, die wir heute mit dem iPhone verbinden, kommen nicht vor. Etwa ist der App Store nicht erwähnt, dafür aber einige wenige Programme wie Google Maps und die eingebaute Suchfunktion von Google und Yahoo. Apple schließt mit einem wichtigen Absatz: Die Firma ist kein Anfänger, sondern hat die Kompetenz, Neuerungen nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen. Und sie hat eine kampferprobte Rechtsabteilung:
Apple ignited the personal computer revolution in the 1970s with the Apple II and reinvented the personal computer in the 1980s with the Macintosh. Today, Apple continues to lead the industry in innovation with its award- winning desktop and notebook computers, OS X operating system, and iLife and professional applications. Apple is also spearheading the digital music revolution with its iPod portable music players and iTunes online store.
NOTE: Apple, the Apple logo, Mac, Mac OS, Macintosh, iPod, iTunes, Apple TV and Safari are trademarks of Apple. Other company and product names may be trademarks of their respective owners.
Die Financial Times schrieb am 10. Januar 2007:
Apple yesterday laid out ambitious plans to broaden its early lead in the digital entertainment business, announcing an iPod mobile phone and an Apple TV set-top box that together could extend the US technology company’s reach into big new consumer electronics markets.
Speaking at Apple’s annual MacWorld trade show in San Francisco, Steve Jobs, chief executive, claimed the widely anticipated cellular device, the iPhone, represented a breakthrough.
„Apple is going to reinvent the phone,“ he declared, showing off a thin, handheld device with a3.5-inch screen that displays touch-screen controls.
Der britische Guardian:
An sleek black device, almost certain to be found in thousands of handbags and pockets before the end of the year was seen for the first time yesterday when Apple unveiled its widely anticipated iPhone.
The touchscreen handset will combine internet access and iPod music with a built-in 2 megapixel digital camera and video playback features.
Apple’s chief executive, Steve Jobs, launched what he called a „magic“, „super-smart“, super-hyped device, which also provides the more mundane functions of the traditional phone.
Die New York Times:
With characteristic showmanship, Steven P. Jobs introduced Apple’s long-awaited entry into the cellphone world Tuesday, pronouncing it an achievement on a par with the Macintosh and the iPod.
The creation, the iPhone, priced at $499 or $599, will not be for everyone. It will be available with a single carrier, Cingular Wireless, at midyear. Its essential functions — music player, camera, Web browser and e-mail tool as well as phone — have become commonplace in hand-held devices.
But it was the ability to fuse those elements with a raft of innovations and Apple’s distinctive design sense that had the crowd here buzzing.
Schauen wir nach Deutschland:
Apple steigt mit dem iPhone in einen Markt ein, der im Gegensatz zu den Musikplayern bei Einführung des iPod bereits viele starke Konkurrenten aufweist und streckenweise nahezu gesättigt erscheint. Marktbeobachter glauben dennoch, Apple könne auf dem Handymarkt zu einem wichtigen Faktor werden – und nicht nur hier Maßstäbe setzen. Die neuartige Bedienoberfläche, bei der offenbar einige Neuentwicklungen zum Tragen kommen, die in den vergangenen Monaten beispielsweise als Patentanmeldungen bekannt wurden, eignet sich nicht nur für Mobiltelefone.
Noch ist Apples neue Umsatz-Geheimwaffe (wenn sie denn dazu wird) nur ein Prototyp. Was man anderen Herstellern als zu früh angekündigte heiße Luft vorwerfen würde, wirkt auf Apple-Fans wie eine die Konsumlust befeuernde Verheißung.
Etc, pp, usw.
Wichtiger jedoch als die anfänglichen Berichte war die Intensität der Berichterstattung. In den kommenden Wochen erschien kaum eine Ausgabe irgendeines Print-Massenmediums, in der das iPhone nicht thematisiert wurde. Nicht alles davon war positiv: Cisco stritt sich mit Apple um den Namen iPhone. Es gab einige ungeklärte Probleme mit der Börsenaufsicht SEC. Und einige Analysten bezweifelten, dass das iPhone den erfolgreichen Blackberry sofort wegfegen würde. Überhaupt bemühte sich jeder Hersteller von Mobiltelefonen darum, Hoffnung zu verbreiten: Ja, das iPhone ist spannend, aber und unsere Produkte sind solide. Was für sich genommen schon ein riesiges Kompliment für Apple war: Bisher hatte man das mysteriöse iPhone schließlich nur in der Hand des Chefverkäufers gesehen, während die Geräte von Nokia, Blackberry und sonstigen überall auf der Welt von Millionen Leuten benutzt wurden. Warum sollten sie überhaupt über ein Produkt reden, das nicht am Markt war?
Kurzum: Das iPhone war ein unbeschreiblicher Medienhype. Dass man heute ohne Probleme Kolumnen und Analysen von damals findet, die das iPhone kleinredeten und Steve Jobs überhaupt sehr fragwürdig fanden, liegt daran, dass quasi alles Vertretbare gedruckt wurde, solange nur der Publikumsliebling iPhone in der Schlagzeile erwähnt werden konnte. Sie waren jedoch krasse Außenseitermeinungen – zu einer Zeit, als krasse Außenseitermeinungen noch nicht der Kern vieler Geschäftsmodelle waren, aber in der sich neue Blogs irgendwie vom Mainstream abheben mussten.
Wenn Euer Pläne und Visionen also verlacht oder schlicht ignoriert werden, ist Steve Jobs und das iPhone so relevant für Euch wie Mahatma Gandhi.