Datenjournalismus braucht Kontext

Die neue Datenjournalismus-Website „The Markup“ ist nach langem Trommelwirbel und einigen Querelen endlich online. Die mit dem Geld von Craig Newmark finanzierte Website verspricht journalistische Hilfestellung dabei, Wahrheit von Meinung, Anekdote, Spin und richtiggehende Propaganda zu unterscheiden. Es ist Tag 2 und ich muss sagen: Nein, da stimmt etwas ganz gehörig nicht.

Heute bringt das Journalismus-Startup eine Geschichte, wie unterschiedlich Google die Kampagnen-E-Mails der unterschiedlichen Präsidentschaftsbewerber behandelt. Das ist eine legitime Fragestellung und eine systematische Untersuchung zum Thema ist sicher einen Blick wert. Auf Twitter zeigt The Markup, wie sexy die Statistik doch ist. Der Artikel wird mit der maximal tendenziösen Frage eingeleitet: „Google the Giant — Swinging the vote?“ – eine Verschwörungstheorie in Frageform.

But there were huge differences. Gmail sent 63 percent of  @PeteButtigieg 's campaign email to the primary inbox.   But it sent none of  @ewarren 's campaign email there. And only 2 percent of  @BernieSanders 's campaign email landed in the primary inbox.

Natürlich verbreitet sich die Story gleich enorm schnell. Google bevorzugt Buttigieg! Und Sanders wird fast komplett ausgefiltert!

Das Problem ist: Die Methodik der Untersuchung ist so fehlerbehaftet, dass jeder, der daraus eine Erkenntnis ziehen will, grob fehlgeleitet wird.

Für den Laien mag die Idee nachvollziehbar klingen: Man sammelt vier Monate lang alle Emails aller Kandidaten und gibt Google keinerlei Anlass E-Mails auszusortieren. Damit keine Daten das Experiment verseuchen könnten, loggt man sich per Tor Browser ein. Also müsste Google doch eigentlich alle eingehenden E-Mails gleich behandeln. Richtig?

Nein, das ist falsch. Denn das Grundkonzept von E-Mail-Filtern wie bei Gmail ist ein anderes. Ein Funktionsprinzip: Wenn 50000 User eine bestimmte E-Mail als Spam markieren, dann wird die Email beim Nutzer mit der Nummer 50001 die E-Mail automatisch in den Spam-Ordner vorsortiert. Man kann dies wie ich als Grund nehmen, Google Mail nicht zu benutzen. Es ist jedoch journalistisch nicht in Ordnung so zu tun, als habe man dieses einfache Prinzip nicht verstanden.

Zudem ignoriert der Text eine grundlegende Wahrheit. Tatsächlich ist politische Werbung per E-Mail spätestens seit dem Obama-Wahlkampf zu einem schieren Ärgernis für viele Nutzer geworden. Seien wir realistisch: Wenn Amy Klobuchar in nur vier Monaten 312 E-Mails verschickt — wer soll all das noch lesen? Und hier kommt dann der Google-Filter ins Spiel. Er sortiert nicht nur Spam aus, sondern sortiert auch „Promotions“ in einer Extra-Box um, die nicht so prominent angezeigt wird. Wenn nun Kampagnen-Emails in der Promotions-Sparte landen, kann man sagen: Der Filter funktioniert. Die befragten Vertreter der Sanders-Kampagne sehen deshalb auch kein Faulspiel von Google. So funktioniert E-Mail-Marketing nunmal.

Natürlich hat Google hier ein kritikwürdiges Eigeninteresse. Wenn nicht jeder gleichberechtigte Sichtbarkeit im Google-Postfach bekommt, dann kann Google Werbeanzeigen verkaufen. Wahr ist aber auch: Wenn jeder gleichberechtigt Sichtbarkeit im Google-Postfach bekommt, dann wird das Postfach für viele Nutzer nicht mehr nutzbar. Es werden viele Witze über Milennials gemacht, die ihre Mailbox nicht mehr abhören und damit wichtige Nachrichten verpassen. Das ist sicher eine Wahrheit. Aber eine andere Wahrheit ist: Im vergangenen Jahr wurden 58,5 Milliarden Robocalls in den USA getätigt. Wer da nicht mehr ans Telefon geht, hat sich schlicht an eine Realität angepasst.

Zurück zu Google: Es ist nicht verkehrt, die Google-Algorithmen unter die Lupe zu nehmen. Doch das wurde hier ja explizit nicht getan. Wenn Pete Buttigieg nicht in den Promotion-Filter abgeschoben wird, hängt das sicher auch damit zusammen, dass er weniger E-Mails als fast alle anderen Kampagnen versandt hat. Wenn die Post von Bernie Sanders komplett in dem Promotions-Ordner landet, hat es damit zu tun, dass er schon seit über fünf Jahren Wahlkampf macht und Google-Nutzer sehr viel Zeit hatten, seine Kampagnen-Emails als Promotion einzustufen. Ohne diese Kontexte sind die Daten ziemlich wertlos. Die Präsidentschafts-Kampagnen sind schließlich nicht vor vier Monaten vom Himmel gefallen.

Wenn man wirklich über den Einfluss von Google schreiben will, müsste man schon ein paar Gegentests einbauen: Zum Beispiel: Arbeiten Outlook, Yahoo und andere Webmail-Provider wirklich anders? Und: Warum sagt die Sanders-Kampagne, dass sie keinerlei Problem hat, wo doch alle E-Mails im Promotion-Tab landen? Man könnte sich auch ansehen: Nutzen politische Kampagnen das Angebot, einen ersten Platz in der Promotion-Inbox zu kaufen? Notwendig wäre es auch gewesen, mal in die E-Mails hineinzugucken, die im Spamfilter gelandet sind. Gab es dafür vielleicht offensichtliche Gründe, wie extensive Tracking-Techniken? Bei Kampagnen mit hohen Spam-Anteilen wäre auch zu fragen: Woher beziehen sie die E-Mail-Adressen der Empfänger? Nichts davon ist hier geschehen. Wenn man sich den Input nicht ansieht, kann man nicht entscheiden ob der Output eines Algorithmus korrekt oder inkorrekt ist.

Erst ganz zum Schluss des statistischen Addendums räumt The Markup dann schließlich ein, dass die Mühe, die sie sich gegeben haben, eigentlich zu nichts geführt hat:

We were unable to discern from the data we gathered why Gmail treated emails from different political entities differently.

Ich würde es sogar etwas härter formulieren: Die Untersuchung hat nicht mal ergeben, ob E-Mails der Kandidaten tatsächlich unterschiedlich behandelt werden. Das wird aber leider viele Fans von Kandidaten und Journalisten-Kollegen aber nicht davon abhalten, das absolute Gegenteil zu verbreiten.

FAQ You, Bonpflicht!

Seit dem neuen Jahr wird mein Erklärartikel zu den Kassenbons in sozialen Medien eifrig geteilt. Dabei sind viele Fragen aufgetreten, die ich hier mal zusammenfasse.

Es gibt doch sichere Kassen, warum also noch Bons?

Nein, es gibt keine sicheren Kassen in Deutschland — zumindest nicht aus Sicht des Finanzamts. Es gibt in Deutschland mehrere Hundert verschiedene Kassenhersteller. Auf denen kann eine Vielzahl von Software installiert sein – mitunter sogar ein völlig veraltetes Windows. Und deshalb kann man auch verschiedene Programme ausführen oder die offiziellen Kassenprogramme mitunter sehr einfach umschreiben. Es wird sicher viele Abzeichen und Siegel geben, dass eine Kasse einen Funktionstest bestanden hat. Das hat aber wenig mit Sicherheit vor gezielter Manipulation zu tun.

Aber die neuen Gesetze schreiben doch sichere Kassen vor?

Jein, mit Betonung auf Nein. Vorgeschrieben ist ab 2020 ein so genanntes TSE — eine Technische Sicherheitseinrichtung — wenn man denn eine Registerkasse hat. Das TSE ist ein Speicher mit einem zusätzlichen Sicherheitselement. Im Prinzip ein USB-Stick oder eine SD-Karte mit einem Extra-Chip, die in die altbekannten Kassen eingesetzt werden. Was darauf einmal gespeichert ist, kann der Kassenbesitzer nicht mehr einfach herunterlöschen. Der bis dahin übliche Trick, einfach am Abend Buchungen aus dem elektronischen Kassenbuch zu löschen ist damit nicht mehr möglich. Stornos gehen immer noch — aber die müssen transparent gespeichert werden.

Also ist alles gut. Weshalb die Bons?

Kryptografie kann nicht zaubern. Selbst wenn man die besten Algorithmen verwendet und die sichersten Schlüssel — sie können nicht für sich selbst stehen. Mit installiertem TSE hat der Steuerfahnder eine Buchführung und eine Garantie vorliegen, dass diese tatsächlich so eingegeben wurde. Doch wer sagt ihm, dass die Eingabe stimmt? Hierzu sind die Bons gut, denn darauf ist eine Art digitalen Stempel enthalten.

Warum kann nicht nur dann ein Bon gedruckt werden, wenn ein Kunde das will?

Zunächst einmal: Gedruckt werden muss gar kein Bon — sie können auch elektronisch übermittelt werden. Bis auf den E-Bon von Rewe für Payback-Kunden ist mir aber keine massenfähige Lösung bekannt, die schon im breiten Einsatz wäre. Es gibt viele Ideen und Startups, aber noch wenig Umsetzungen. Ein Hersteller hat mir im Dezember eine begeisterte Pressemitteilung geschickt. Auf meine zweimalige Nachfrage, wo das tolle neue System denn im Einsatz sei, habe ich bis heute keine Antwort.

Zurück zum Thema: Warum soll denn ein Bon ausgedruckt werden, wenn der Kunde das gar nicht will?

Kernproblem ist: Der Staat will sicherstellen, dass ein Gewerbetreibender nicht einfach jeden Kauf löscht, der nicht mit einem Bon verbunden ist. Trotz der TSE wäre das weiterhin möglich. Denn wenn die Kasse keine Buchung schreibt, kann das TSE keine Manipulation verzeichnen. Und wie gesagt: Nichts hält den Kassenbesitzer wirklich davon ab, die Software zu manipulieren. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Alle Buchungen ohne Bon könnten ins Nichts geschrieben werden. Oder ein verkauftes Motorrad könnte als Weizenbrötchen im Speicher landen. Die Bundesregierung hat auch von der Einführung einer ähnlichen Sicherheitseinrichtung in Österreich gelernt, wo diese Lücke nicht ganz geschlossen wurde. Die Lösung ist: Ein Kassenbesitzer darf vorher nicht wissen ob ein Kunde einen Bon/E-Bon verlangen wird.

Der Bon sagt das doch auch nicht?

Nun: Der Bon erschwert den Betrug doch ganz erheblich. Zum einen sieht jeder Kunde, ob ein Bon aus der Kasse kommt. Der Steuerhinterzieher hat also plötzlich eine Vielzahl von Mitwissern. Und wenn das Finanzamt zur unangemeldeten Kassennachschau anrückt — diese Befugnisse des Finanzamts wurden auch grade sehr erweitert — können die auch mal eben ein Brötchen, eine Pizza oder eine Bohrmaschine kaufen und sehen, was die Kassierer machen.

Ist in den Kassen wirklich eine Blockchain?

Nein, nicht wirklich. Aber etwas verwandtes. Auf jedem Bon muss nicht nur die Seriennummer des TSE vermerkt sein, sondern auch eine kryptografische Signatur. Darin ist nicht nur festgehalten, was auf dem Bon steht — sondern auch eine Art kryptografischer Fingerabdruck des ganzen Kassenbuchs. Wenn das Finanzamt dann diese Signatur mit den elektronischen Aufzeichnungen vergleicht, muss jede Manipulation auffallen.

Auf meinen Bons ist aber keine tolle Signatur zu sehen. Wieso?

Auf meinen Bons leider auch noch nicht. Grundproblem: Die TSEs wurden grade erst vor Kurzem vom BSI zertifiziert und werden nun produziert. Erst wenn die neuen Speicher montiert sind, werden nach und nach die Signaturen auf den Kassenzetteln zu sehen sein. Die Bonpflicht gilt dennoch bereits. Die Finanzämter verfolgen es lediglich bis September nicht, wenn die TSEs und damit die Signaturen fehlen.

Aber das System ist doch ganz leicht zu umgehen!?

Nein.

Muss ein Kunde den Bon mitnehmen wie in Italien?

Nein. Dank der Signatur ist es unnötig, viele Belege von Kunden einzusammeln, wenn eine Kassenprüfung ansteht.

Aber ich hab eine ganz tolle Idee! Was wäre, wenn…?

Ich habe mir in den letzten Wochen bestimmt 50 solcher Ideen angehört. Keine hatte auch nur ansatzweise mit den Sicherheitsmechanismen auseinandergesetzt. Wer sie nachlesen will, kann sich zum Beispiel durch diese 111 Seiten vom Bundeszentralamt für Steuern wühlen. Das ist nur eins von vier wesentlichen Dokumenten, aber es hat einen unbestreitbaren Vorteil: Der untere Teil des Bons wird hierin tatsächlich „Bonpo“ genannt.

Aber es soll doch nicht mal Bußgelder geben, wenn man keine Bons ausgibt. Warum sollte ich überhaupt mitmachen?

Natürlich kann man weiterhin einfach in die offene Kassenlade Geld einnehmen und nichts in die Kasse eintippen. Die Entdeckungswahrscheinlichkeit ist halt sehr viel höher. Ob die neue Gesetzeslage erfolgreich sein wird, hängt auch wesentlich davon ab, wie effektiv die Steuerfahndung kontrolliert. Hier haben die Landesregierungen die Zügel in der Hand. Ich vermute, dass die Gesetzgebung in den kommenden Jahren nachgebessert wird. Etwa wäre eine Erleichterung denkbar, dass Mini-Beträge nicht mehr in jedem Fall gebont werden müssen. Oder auch eine Bußgeldvorschrift, um die Bonpflicht durchzusetzen.

Warum werden die Kleinen kontrolliert und nicht die Cum-Ex-Betrüger, die so viel mehr Schaden verursachen?

Nun, das wissen wir nicht, es ist aber sehr unwahrscheinlich. Zur neuen Gesetzgebung wurden Schätzungen angeführt, die alleine durch Registrierkassenbetrug von einem jährlichen Schaden von fünf bis zehn Milliarden Euro ausgehen. Es gibt auch wesentlich höhere Schätzungen. Vor kurzem haben Richter in Osnabrück errechnet, das ein Betrüger-Duo ohne technische Ausbildung oder die Unterstützung einer kriminellen Organisation alleine einen Schaden von einer Milliarde Euro angerichtet hat. Und das war bei weitem kein Einzelfall. Die meisten Betrüger von damals dürften aber nicht erwischt werden, da die Kassen bisher viel zu einfach zu manipulieren waren.

Warum zwingt der Staat Gewerbetreibenden so viel Thermopapier auf? Das ist Sondermüll!

Nun: Soweit ich weiß, gibt es keinerlei Verpflichtung, Thermopapier zu verwenden. Realistisch betrachtet wird der Thermopapier-Verbrauch aber zunehmen. Immerhin: Ab diesem Jahr gelten auch neue Umweltvorschriften, so dass das Thermopapier zumindest deutlich weniger schädlich sein soll. Wer will, kann sich auch bei Spezialhändlern mit „Ökobons“ eindecken. Wenn ihr jedoch wütende Protestplakate beim Bäcker seht: Fragt doch mal, warum sie überhaupt eine Registrierkasse da stehen haben. Denn bis heute besteht in Deutschland keine allgemeine Pflicht, eine solche Computerkasse zu haben. Und ohne Computerkasse gibt es auch keine Bonpflicht. Man muss dann halt ein altmodisches Kassenbuch führen, das weder an die Warenwirtschaft angeschlossen ist, noch verhindert, dass sich ein Kassierer heimlich an den Firmenumsätzen bedient.

Der Clou am Targeting

Alle paar Tage sehe ich eine neue Studie zu Social Bots und Microtargeting aufpoppen. Und sie haben im wesentlichen eine gemeinsame Botschaft: Auch wenn es diese Phänomene gibt, so ist ihre Wirkung höchst zweifelhaft. So zum Beispiel in diesem Beitrag von Keno C. Potthast über „Political Microtargeting“ – kurz:PMT.

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Twitter-Werbeprofil ansehen. Hunderte vermeintliche Interessen werden mit den Interessen aus anderen Datenbanken zusammengeführt und ab und zu bindet ein besonders eifriger Werbekunde noch eine Schleife darum und bindet ein Profil an eine „maßgeschneiderte Zielgruppe“. Das ist nur die alleroberste Schicht des Targetings. Wo diese Daten überall eingesetzt werden, weiß vermutlich nicht mal Twitter. Screenshot Twitter-Werbeprofil

Zweiter entscheidender Schritt: Das Micro-Targeting beruht auf einem Auktionssystem. Das mag bestimmte Anzeigenplätze zuweilen sehr teuer machen — aber durch die Bank wird Werbung sehr, sehr billig. Ich hatte vor Jahren mal das Anzeigen-Tool von Facebook erprobt und mit einem Gesamtbudget von unter 25 Euro konnte ich gezielte Anzeigen an meinen Redakteur schicken. Wer tatächlich länger im Markt ist und sich nicht davor scheut, in zwielichtigen Kontexten aufzutauchen, kann den gleichen Effekt mit Ausgaben von einigen Cent erreichen. Mit Microtargeting wird es weitgehend irrelevant, auf welcher Website, neben welchem Inhalt man wirbt. Und wer keine ethischen Maßstäbe hat, der kann sich heute an dem reichhaltigen Buffet bedienen, das als nicht „brand safe“ gilt und die Anzeigenplätze bekommen, wo Coca-Cola, MacDonalds und Nivea keine Werbung machen wollen. Zum Spottpreis.

Was haben wir nun? Eine fast unendliche Vielfalt von Werbeplätzen, die für unglaublich billige Preise und ohne Transparenz anzusteuern sind. Nun kommt noch das Profiling. Wenn man einmal als Black-Friday-Fan markiert ist, wird man mitunter einen schlagenden Effekt bemerken. Plötzlich handeln alle Anzeigen nur noch von diesem geheiligten Tag des Konsums. Keine Werbung für Autoversicherungen, keine Werbung für Blockchain-Anlegerverladen, und erheblich weniger Werbung, um in nur acht Tagen sieben Sprachen zu lernen! Stattdessen: Black Friday en masse. Und dann Cyber Monday.

Ähnlich kann dies auch in einem Wahlkampf passieren. Der Clou — insbesondere im US-Wahlkampf: Verschiedene Kampagnen können aufeinander aufbauen. Wer beispielsweise einmal auf eine Anzeige mit einer Fake-News geklickt hat, kann plötzlich zum Ziel legitimerer Werbung eines Super-PACs werden. Oder eines Kandidaten selbst. Oder der Firmen in Mazedonien, die keinerlei Interesse an einer politischen Kampagne haben, aber entdeckt haben, dass sie nur ein paar Fake-News-Websites aufbauen müssen, um all ihre Werbeplätze automatisch zu verkaufen.

Ein AI-gestütztes Marketing-Tool kann zum Beispiel die Kategorie „Judenhasser“ schaffen. Es ist niemand nötig, der diesen Effekt durchplant. Wahrscheinlich verpufft die Fake-News-Kampagne bei den allermeisten Nutzern. Bei einigen erreichen sie jedoch wahrscheinlich eine lawinenartige Masse und Geschwindigkeit und schlägt mit voller Wucht zu. Vielleicht reicht es aus, um die gesamte Facebook-Timeline umzuprogrammieren. Vielleicht reicht es aus, einen Menschen in einen Dauer-Aktivisten zu verwandeln, der 14 Stunden am Tag bei Twitter und Facebook postet und von einem Social Bot nicht mehr zu unterscheiden ist. Denn für soziale Netzwerke ist das Werbeprofil das entscheidende Profil. Und danach werden die Beiträge sortiert, die wir tagtäglich als erstes sehen. Vielleicht geht es sogar soweit, dass „Asylkritiker“ auf Porno-Seiten maßgeschneiderte Inhalte sehen, die sie in ihren ärgsten Ängsten bestätigen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fake-News und Social-Bots basiert weitgehend auf einem Werbesystem, das längst durch eine viel komplexere Version ersetzt wurde. Es ist nicht mehr notwendig, dass irgendjemand die Beeinflussung von Wählern zentral durchplant. Das dominierende Werbesystem hat viele verstärkende Effekte eingeführt, die so manche Kampagne unvermutet nach oben schwimmen lässt, so dass sie schließlich die komplette Online-Wahrnehmung eines Menschen prägen kann. Wer wirklich ergründen will, welchen Einfluss Micro-Targeting, Social Bots und Fake-News haben, muss daher den Werbemarkt mitanalysieren.

Impeachment-Podcasts

Es gibt wohl kein besseres Themas für Podcasts als das Impeachment-Verfahren gegen US-Präsident Donald Trump. Jeden interessiert das Thema irgendwie und trotz eines Überangebots an Berichterstattung gibt ein großes Bedürfnis nach einzelnen Stimmen, die Ordnung ins Chaos bringen. Zudem: Der Werbemarkt floriert und man kann endlich gutes Geld mit Podcasts verdienen. Ergebnis: US-Medien haben in den letzten Wochen eine ganze Flut an Spezial-Podcasts gestartet – von CNN bis zu Buzzfeed. Sogar Rudy Guiliani plante einen eigenen Podcast.

Ich habe mir alle angehört und fand die Erfahrung spannend. Denn obwohl sich mittlerweile ein recht einheitliches Podcast-Format herausgebildet hat — vom musikalischen Intro über die Anzahl der Gäste bis zum Tonfall des Moderators — sind die Ansätze sehr verschieden. Sie illustrieren, wie Medienunternehmen funktionieren, wie sie mit Standpunkten und Neutralität umgehen und welches Publikum sie suchen, um Geld zu verdienen. Ein Überblick.

 

Buzzfeed und iHeartRadio: Impeachment Today

Buzzfeed und iHeart Radio haben in ihrem Impeachment-Podcast die gesammelte Kompetenz zur Millenial-Bespaßung zusammengeworfen. Moderiert wird die Sendung vom Buzzfeed-Redakteur Hayes Brown, der ständig viel zu gut gelaunt zu sein scheint. Seine Attitüde: Er trifft seine Zuhörer auf ein IPA-Bier und erzählt ihnen, was heute wieder voll krasses passiert ist. Es ist ein wenig so, als ob er dem Hörer die letzte Folge von Games Of Thrones nacherzählt. Dabei lässt er kaum ein Klischee aus. Um die Abfolge der Zeugen zu erklären, greift Brown etwa zu einem Pokémon-Vergleich.

Trotz der kumpeligen Attiüde ist der Podcast sehr professionell: prägnant, auf den Punkt, durchformatiert. Nach ein paar Minuten, in denen Brown das Tagesgeschehen zusammenfasst gibt es den „Nixon-O-Meter“, auf dem jeweiligen Tag eine Wertung verpasst wird. Dann ein Studiogespräch mit einem Reporter oder einem Experten. Oder ein Hintergrundstück zu einer Person. Am Schluss gibt es dann noch den „Kicker“, also ein Share-Quote, ein Tweet oder ein Meme, das den Tag möglichst prägnant zusammenfassen soll.

Alles in allem ist der Podcast sehr gut produziert und versucht zwischen „News“ und „Noise“ zu unterscheiden. Die allzu gute Laune, die dabei verbreitet wird — Slogan: „Impeachment. What a time to be alive! 🍑“ — stößt mit manchmal etwas störend auf. Der Informationsgehalt hält sich aber deutlich in Grenzen — viel zu bemüht, versucht das Format zu vermeiden, dass die Aufmerksamkeit abschweift und die Hörer einfach auf den nächsten Podcast wechseln. Deshalb lohnt eher für Leute, die sich noch nie mit den Unterschieden zwischen Senat und Repräsentenhaus befasst haben und dringend eine positive Attitüde suchen.

 

Washington Post: Impeachment Inquiry

Deutlich anders ist die Herangehensweise der Washington Post — wenn auch nicht weniger professionell. Die Hauptstadt-Zeitung baut hauptsächlich auf eigene Reporter und das eigene Motto: „Democracy dies in darkness“. Statt um die Unterhaltung der Zuhörer geht es um pure Information und Analyse. Wer hat was gesagt? Was bedeutet das im Kontext des Verfahrens? Welche Bezüge muss der Zuhörer ziehen, um die gesamte Tragweite zu verstehen?

Der Podcast ist deutlich mehr aktualitätsorientiert — deshalb kann es auch schon mal passieren, dass gleich zwei Folgen an einem Tag veröffentlicht werden. Zielgruppe sind offenbar die Polit-Junkies, die sich dauernd auf dem Laufenden halten wollen. Gleichzeitig muss man sagen: Die Investitionen von Jeff Bezos ins Digitale und Multimediale haben sich gelohnt. Wir haben es mit Reportern zu tun, die am Mikrofon trainiert sind, zuweilen untermalt Hintergrundmusik die aktuelle Zusammenfassung.

Während der Buzzfeed-Podcast zu gut gelaunt, kommt die Washington Post stellenweise etwas zu trocken rüber. In Gesprächen mit den eigenen Reportern wird ab und zu etwas Persönlichkeit eingebracht, was dann teilweise wieder zu Lasten der Genauigkeit geht.

 

NBC News: Article II: Inside Impeachment

Wie sehr das Ursprungs-Medium auf einen Podcast wirkt, kann man bei NBC verfolgen. Wir kennen den Vorwurf seit vielen Jahren, dass Journalisten und insbesondere Fernseh-Nachrichtenprogramme eine Pseudo-Neutralität entwickelt haben: Sie wollen grundsätzlich beide Seiten eines Konflikts darstellen — selbst wenn es eigentlich nur eine Seite gibt. Ergebnis: Experten für den Klimawandel mussten sich konstant den Bildschirm mit Leuten teilen, die aus eigener Überzeugung oder gegen Bezahlung die Realität negierten und deren einziges Arguiment daraus besteht, die andere Seite niederzuschreien. Oder anders gesagt: Good TV.

Diese Haltung merkt man auch noch im Jahr 2019 und auch in einem Podcast, der sich ja nicht an die Konventionen des Bildschirms halten müsste. Schließlich gibt es hier auch keine Splitscreens wo bis zu acht Leute durcheinander reden. Dennoch zeigt sich der Gedanke, dass sich journalistische Fairness in Sendeminuten manifestiert, auch hier. Oft hören wir etwa erstaunlich lange die Einlassungen von Devin Nunes, selbst wenn der absolut nichts Erhellendes sagt. Denn schließlich hat auch der Podcast lange O-Töne von den Zeugen und Demokraten.

Immerhin: Im Podcast tut niemand mehr so, dass alles legitime Standpunkte wären. In einer Episode rechtfertigt sich der für das Weiße Haus zuständige Korrespondent Geoff Bennett sogar, dass seine Analyse so einseitig ausfällt.

And when I say that, I realize that we live in an era in which the President has cast the pursuit of truth as a partisan enterprise. And so saying things that are steeped in my own reporting and my own just knowledge of how this whole thing has worked because I’ve been so close to it for three months, it sounds as if I’m editorializing. It sounds as if I’m being partisan. But it really is not. It’s a reflection of the now 15 witnesses who have provided 112 hours of testimony, our reporting based on that testimony, and then the 11 transcripts that we’ve read so far.

Man kann aus dem Eingeständnis eine positive und eine negative Erkenntnis ziehen. Über Jahrzehnte haben Medien aus falsch verstandener, institutionalierter und ineffektiver Neutralität immer extremeren Positionen eine Plattform geboten, während der gesellschaftliche Diskurs immer mehr von Leuten bestimmt wird, die keinerlei Neutralitätsgebot mehr kennen. Der Impeachment-Prozess ist auf viele Weise das Ergebnis dieser Entwicklung: So sind es auch Artikel in etablierten Medien wie Politico, The Hill und The New York Times, auf die sich die Verschwörungstheorien stützen, die Trump und Konsorten zu ihrem Vorgehen in der Ukraine inspiriert haben. Die positive Nachricht: Die institutionalisierten Journalisten bemerken es nun.

CNN: The Daily DC: Impeachment Watch

CNN hatte dieses Neutralitätsproblem in den vergangenen Jahren auf die Spitze getrieben. Man lädt nicht nur die eifrigsten und lautesten Partisanen in die eigenen Sendungen ein, man engagiert sie direkt. Dies gipfelte in einem Anstellungs-Vertrag für Trumps Kampagnen-Manager Corey Lewandowski, obwohl der eine Breitbart-Reporterin sogar physisch angegriffen haben soll und offensichtlich keinerlei Interesse an einer faktenbasierten oder ehrlichen Berichterstattung hat.

Screenshot CNN-Podcast

In „Impeachment Watch“ zeigt CNN, das eine solche Drehtür zwischen Politik und Massenmedien nicht nur Schreihälse nach vorne holt, sondern auch institutionelles Gedächtnis nutzbar macht. Dies wird zum Beispiel klar, wenn Samantha Vinograd auftritt, die unter Obama im National Security Council gearbeitet hat. Diese Perspektive bietet durchaus interessante Punkte. So kennen die ehemaligen „political operatives“ das Geschäft und verschwenden keine Zeit damit, sich darüber zu amüsieren, dass Republikaner einem Zeugen wie David Holmes keine Fragen stellen, sondern die TV-Übertragungen lieber für eigene Statements nutzen. Denn natürlich spielt der Zeitablauf des Verfahrens eine große Rolle und man will der amerikanischen Öffentlichkeit über Thanksgiving die wichtigsten Talking Points mitgeben.

 

Vox: Impeachment, Explained

Ezra Klein hat einen ähnlichen Weg gewählt. Seine Karriere startete er als Wahlkämpfer für die Demokraten, sattelte aber recht schnell zum Politjournalismus über. Mit VOX.com hat er das onlinejournalistische Äquivalent der TED-Talks geschaffen: Hier bietet er dem Publikum nicht nur einen Point Of View an, sondern erklärt auch in langen Hintergrundstücken, wie man zu diesem Standpunkt gelangen musste. Wöchentlich spricht Klein in seinem Podcast mit Autoren über ihre neuen Bücher über Politik und Gesellschaft, indem er über mehr als eine Stunde den Eindruck erweckt, jedes Buch tatsächlich gelesen zu haben. Kleins Fairness-Doktrin lässt sich so beschreiben: Wer ein Argument vorzubringen hat, hat einen Platz im öffentlichen Diskurs. Dabei lädt er auch konservative Denker ein, zieht dort aber eine Grenze zum „Denker“. Sprich: Trump-Fans wird man bei ihm nicht hören. Klein hat die These der Demokraten, dass „government“ eine positive Kraft ist, die das Leben der Menschen verbessern soll, auf seinen Journalismus übertragen.

In Impeachment, Explained gibt es zirka einmal pro Woche einen Podcast, der die Hintergründe des Impeachment-Prozesses erläutert. Es ist in gewisser Weise ein Best Of der Berichterstattung der vergangenen Woche bei VOX. So erklärt Klein in „What’s wrong with the Republican Party?“ eine seiner liebsten Thesen: Der politische Prozess hat sich hauptsächlich geändert, weil sich die republikanische Partei geändert hat — von einer werteorientierten Partei nach europäischem Vorbild zu einem prinzipienfreien Kampagnentool, das mal von Abtreibungs-Gegnern, mal von der NRA, mal von radikalen Steuer-Gegnern genutzt wird und sich zu ständig neuen Extremen aufschaukelt.

Klein beleuchtet die Situation aus demokratischer Perspektive, separiert sich aber klar von den institutionellen Demokraten selbst. Dadurch, dass er immer einen Schritt vom aktuellen Geschehen zurücktritt, kann er Unterschiede klarer benennen. So wird bei ihm deutlicher als bei anderen, dass EU-Botschafter Gordon Sondland, einen wichtigen Punkt für eine Impeachment-Anklage gerade nicht unterstützt wollte — nämlich, dass die Militärhilfe für die Ukraine aus politischen Gründen zurückgehalten werden sollte.

 

Crooked Media: Rubicon – The Impeachment of Donald Trump.

Ein Gegenstück zu Ezra Klein ist Crooked Media. Doch statt sich dem Journalismus zu verschreiben, haben die Gründer, die allesamt Posten in der Obama-Regierung hatten, eine andere Strategie gewählt: Sie betreiben politischen Aktivismus mit den Mitteln des Journalismus. So wie Trump-Anhänger sich einst stolz als „deplorables“ präsentierten, hat „Crooked Media“ den Vorwurf angenommen, dass die Medien immer auf Seiten der Demokraten seien. Und produziert Shows, die sich durchweg an „the Resistance“ reden.

Immerhin macht Chefredakteur Brian Beutler aus diesem Umstand kein Geheimnis. Trumps Getreue werden etwas durchweg als „henchmen“ bezeichnet. Wenn er einen O-Ton von David Nunes einspielt, blendet er auch gleich künstliches Gelächter ein, um keinen Zweifel daran zu lassen, wie lächerlich er die Argumente der Gegenseite findet. Das zentrale Thema des Podcasts ist eine unbändige Wut. Wie der Titel sagt: Donald Trump hat den „Rubicon“ überschritten. Und wie vermutlich jeder mit großem Latinum weiß, war das der Punkt, als Julius Caesar mit seiner Armee die römische Republik beendete und aus dem Imperium ein Kaiserreich machte.

Die Wut ist das Erfrischende an dem Podcast. Zuweilen machen Beutler und sein Gast einen Punkt, der im Wirrwarr der aktuellen Berichterstattung unterging. Etwas lähmend wird es dann jedoch meist im zweiten Teil der Sendung, wenn es nicht mehr um Empörung geht, sondern um eine Art Brainstorming: Wie kann man die Blöße des Präsidenten am effektivsten im politischen Prozess gegen ihn einesetzen? Es ist eine kleine Planungs-Session inoffizieller demokratischer Strategen. Und wenn man Wut im Bauch hat — will man dann wirklich durch den legislativen Kalender blättern? Hier zeigt sich, dass Crooked Media nicht etwa das Geschöpf von Aktivisten wie AOC ist, sondern eine Bastion im Clinton-Lager darstellt: Zentristisch, institutionell, leidenschaftlich und zutiefst awkward.

 

WNYC: Impeachment: A Daily Podcast

Brian Lehrer ist ein Urgestein des NPR-Rundfunks in den USA. Seit 1989 hat er eine Call-In-Show, in der die insbesodnere politischen Themen des Tages besprochen werden. Dabei hat er Autoren zu Gast, Experten und einmal die Woche den Bürgermeister von New York City Bill de Blasio. Die Gesprächspartner dürfen zuerst über ihre Arbeit sprechen und müssen sich dann einigen Hörerfragen stellen.

Screenshot Brian Lehrer Podcast

Lehrers Heimatstation WNYC ist grade voll auf den Podcast-Zug aufgesprungen und hat auch meinen Lieblings-Podcasts-Client Pocket Casts gekauft. Deshalb gibt es nun einen eigenen Impeachment-Podcast. Der ist freilich nur eine Auskopplung aus Lehrers täglichen Sendung, die sich in mindestens einem Segment mit der Amtsenthebung und dem Neuen aus Washington beschäftigt.

Wer wissen will, was an dem Tage grade die Geschichte ist, über die jeder sagt, dass jeder über sie spricht, ist bei Brian Lehrer richtig. Seine väterliche, immer freundliche Stimme geht leicht ins Ohr, er leitet die Gäste gekonnt durch alle wichtigen Argumente und bringt auch mal Widerspruch an, wenn dieser bereits medial hörbar war. Beim Anruf-Part muss man sich aber auch auf Schocks gefasst machen. Denn wie die scheinbar so klaren Narrative bei dem anrufenden Publikum aufgenommen werden, ist oft genug überraschend. Hier hat die Redaktion sogar eine neue Form der Interaktion gefunden: Hörer sollen ihren eigenen „Article Of Impeachment“ gegen Trump schreiben, auf die dann die Trump-Unterstützer und Konservative schließlich live auf Sendung antworten können sollen.

„Verbot“ ist verboten

Heute gibt es mal wieder eine besonders verquaste Sommerloch-Mediendebatte. Carsten Linnemann, Vize-Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, hat ein Interview mit der Rheinischen Post geführt. Die dpa-Zusammenfassung führte zu heftiger Kritik, weil die Nachrichtenagentur in der Überschrift von einem „Grundschulverbot“ sprach. Dieses Wort war in dem Interview aber gar nicht gefallen.


Die dpa hat sich entschuldigt und eine neue Meldung hinterhergeschickt. Also eigentlich alles wie üblich und erledigt, oder?

Das Kuriose ist aber: Linnemann hat tatsächlich ein Verbot gefordert. Ja, die dpa hat diesen Aspekt in der Überschrift zu sehr zugespitzt und der Bundestagsabgeordnete hatte sich nicht ganz zu unrecht beschwert. Aber wenn man sich die Korrektur durchliest, geht es um Präsentation und weniger um die Substanz:

Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) weist den Begriff „Grundschulverbot“ für seinen Vorstoß zurück. Ihm gehe es darum, dass es Konsequenzen haben müsse, wenn Kinder vor der Schule die sogenannten Sprachstandstests nicht bestünden. Wenn dann trotzdem eingeschult würde, hätten weder die Kinder aus deutschsprachigen noch die aus nicht-deutschsprachigen Haushalten etwas davon, sagte Linnemann am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Die dpa hatte in der Überschrift einer Meldung vom Montag den Begriff „Grundschulverbot“ verwendet und dies am Dienstag nachträglich korrigiert.

Der „Rheinischen Post“ hatte Linnemann gesagt: „Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen.“ Er schlug für betroffene Kinder eine Vorschulpflicht vor. Notfalls müsse eine Einschulung auch zurückgestellt werden, sagte er.

Also: Linnemann mag den Begriff nicht, den die dpa gewählt hat. Aber seine Forderung ist: Wenn ein Kind den „Sprachstandstest“ nicht besteht, muss es eine Konsequenz geben. Diese Konsequenz heißt: Das Kind darf nicht in die Regelschule. Oder in anderen Worten: Es geht um ein Verbot.

Auch die entscheidenden Textstellen des Ursprungs-Interviews, die zum Beispiel Thomas Knüwer online stellt, da sich der Volltext hinter eine Paywall verbirgt, lassen eben den gleichen Schluss zu.

„Es reicht nicht nur, Sprachstandserhebungen bei Vierjährigen durchzuführen, sondern es müssen auch Konsequenzen gezogen werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen. Hier muss eine Vorschulpflicht greifen, notfalls muss seine Einschulung auch zurückgestellt werden.“

Das gleiche wie oben: Kinder sollen zu einem Test verpflichtet werden. Und wer den Test nicht besteht, darf nicht auf die Schule. Ein klassisches Verbot. Wenn ich den Führerschein nicht bestehe, ist es mir verboten, Auto zu fahren. Wenn ich den Alterstest bestehe, darf ich keine Zigaretten kaufen. Das Wort „Verbot“ alleine mag den Nuancen und Details des Vorschlags nicht gerecht werden, es bleibt aber ein Verbot.

Trotzdem hat sich erstaunlich schnell herumgesprochen, dass man Verbot nicht „Verbot“ nennen soll. So kommentiert Gökalp Babayiğit bei Süddeutsche.de:

Nein, als „Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können“, wie es die Deutsche Presse-Agentur anfangs umschrieb, lässt sich die Forderung von Carsten Linnemann nicht bezeichnen.

Einen Absatz später heißt es aber:

„Linnemann, immerhin stellvertretender Unionsfraktionschef im Bundestag, will Kindern mit ungenügenden Sprachkenntnissen die Einschulung verwehren.“

Also kein Verbot, sondern ein Verwehren? Ich bin mir ziemlich sicher, beide Worte sind in diesem Kontext Synonyme.

Auch Patrick Gensing hat sich im Tagesschau-Faktencheck verzettelt, indem er ebenfalls das Grundschulverbot dementiert. Aber dieses Interview ist — selbstverständlich — ein klassischer „Testballon“. Ein Politiker aus der zweiten Reihe bringt eine womöglich unpopuläre Maßnahme ins Spiel und die Partei wartet die Reaktionen ab, so dass sich die Politiker aus der ersten Reihe dem Thema entweder widmen oder es lieber auf die lange Bank schieben können. Natürlich ist der Vorschlag in Details äußerst vage. So will sich der Bundestagsvizefraktionsvorsitzende nicht wirklich im Detail äußern, da er beim Länderthema Schule eh keine Zuständigkeit hat und die super-teure Vorschule nicht aus seinen Etats bezahlen will. Wie es bei Testballons üblich ist, erscheinen die Reaktionen der politischen Kontrahenten darauf wieder überhitzt. Das kann man zurecht kritisieren.

Aber kann man es auf Fakten prüfen? Es wäre vielleicht eine andere Interpretation möglich: Herr Linnemann improvisierte in dem Interview und ihm fiel gar nicht auf, dass er in der Aufzählung seiner Gedanken zum Thema in der Konsequenz ein Verbot forderte. Es kann auch sein, dass er ein wesentliches Detail vergessen hat — etwa, dass die reguläre Einschulung maximal ein Jahr verschoben werden kann. Die Kernfrage wäre also: Wusste Herr Linemann, was er dort sagt und wie es ankommen wird? Ich vermute: ja. Aber das ist halt kein Fakt, den man so einfach zweifelsfrei checken kann.

Alles in allem: Die dpa hat ihre Meldung überspitzt und einen Fehler gemacht. Sie hätte in der Überschrift ein echtes Zitat verwenden können oder zum Beispiel die verpflichtenden Sprachtests thematisieren können. Im kollektiven Zurückrudern haben die vernetzten deutschen Journalisten aber dann auf bemerkenswerte Weise vergessen, was denn das Wort „Verbot“ bedeutet und dass man tatsächlich Schlussfolgerungen aus verquast formulierten Forderungen ziehen darf, sofern man denn den Leser mitnimmt. Eine klassische Überkorrektur.

PS: Eine Lehre kann ich vielleicht für meine Arbeit daraus zieht: Wann immer jemand eine unbestimmte Einschränkung wie „noch“ ins Spiel bringt, muss eine Nachfrage kommen: Wie lange denn? Was heißt das konkret?

Das Scheitern des Urheberrechts

Urheberrechtsvertreter feiern die Abstimmung im Europaparlament gestern als wichtigen Erfolg. Ich als Urheber sehe sie als Desaster. Denn leider hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass es nicht wirklich drauf ankommt, wie man das Urhebrrecht reformiert — es muss schließlich irgendetwas gemacht werden. Doch was da beschlossen wurde, ist ein Maßnahmenbündel, das aus einem Haufen falscher Annahmen und Überzeugungen beruht.

Wie das Scheitern von De-Mail ist auch die EU-Urheberrechtsreform mehr als nur ein gescheitertes Projekt. De-Mail hat das E-Government in Deutschland um Jahre zurückgeworfen, bei Artikel 13 und dem Rest gehe ich eher von einem Jahrzehnt aus.

Nicht nur, dass die meisten Urheber erst in zirka fünf Jahren feststellen müssen, dass das versprochene Geld ausbleibt. Es müssen auch mit viel Aufwand teure Strukturen geschaffen werden, die bald wieder obsolet sind. Nicht jede Verwertungsgesellschaft wird das überleben.

Unterdessen geht der Kahlschlag in den Medien weiter. Waren zu Beginn meines Berufslebens bei jedem Ortstermin mindestens drei andere Kollegen dabei, bin ich heute oft alleine. Stattdessen sitzt am Pressetisch das Content-Team eines PR-Dienstleisters.

Dabei muss Silicon Valley eigentlich nichts weiter tun, um das Projekt gegen die Wand fahren zu lassen. Facebook hat die Verlagerung auf Messenger bereits vor Jahren eingeleitet. Google hat Google+ zugemacht. Und Amazon hat eh eine Garantie bekommen, nichts zahlen zu müssen. Apple hat ein Lizenzmodell für Apple News+ aufgesetzt und beansprucht mal eben 50 Prozent des Umsatzes.

Das ist nur der Ist-Zustand – zwei Jahre bevor die Reform tatsächlich in Landesgesetzen umgesetzt sein muss. Sollte „GAFA“ hingegen aktiv gegen die Reform arbeiten, wird es sehr schmerzhaft. Die Mittel wurden ihnen gelassen. Facebook hat ja schon letztes Jahr die Verbreitung von Nachrichten eingeschränkt. Folge: Entlassungswellen bei Medien in den USA. Kleine und mittlere Anbieter haben längst das Mittel der Geosperre entdeckt. Wir müssen uns nicht mit Europa rumärgern, wenn wir nicht wollen. China ist sowieso ein viel wichtigerer Markt.

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Kommt alle mal wieder runter!

Robert Habeck hat seinen Twitter- und seinen Facebook-Account gelöscht. Ich halte den Schritt mittelfristig für einen Fehler und keine wirklich durchdachte politische Botschaft, aber ich verstehe sie menschlich.

Was ich nicht verstehe, ist der riesige Bohei, der nun darum veranstaltet wird und der sogar in meine Timelines rüberschwappt. Es gibt Leute, die ihm zustimmen und Leute, die in der Löschung mehr als ein persönliches Statement sehe. Und das ist Okay so. Was ich befremdlich finde, ist die Sprache.

Zum Beispiel bei denen, die sich auf Habecks Seite schlagen:

https://twitter.com/Schroeder_Live/status/1082311198794747905

Zum Beispiel bei denen, die sich nicht auf Habecks Seite schlagen:

https://www.facebook.com/micky.beisenherz/posts/10157331324466535

Habeck wurde gelyncht? Really? Weil er einen Trip ins Alttestamentarische unternahm??? Wovon redet ihr da eigentlich?

KOMMT MAL ALLE WIEDER RUNTER. Man kann auch über Dinge diskutieren, ohne in die absurdesten Metaphern oder Superlative zu verfallen.

Die Blockchain ist ein Stempel

Da der Bitcoin-Kurs grade abgestürzt ist, gibt es grade in den Breitenmedien eine ganze Reihe von Artikeln und Berichte zum Thema Bitcoin und Blockchain. Was war die Idee hinter Bitcoin? Ist sie nun gescheitert? Und: Ist die Technik nicht sehr viel größer als diese Exotenwährung? Leider rollen sich mir bei vielen Berichten die Zehennägel auf, weil die Kollegen zwar allerhand Leute interviewen, aber diese Äußerungen nicht in Kontext setzen können.

Sie haben sich offenbar damit abgefunden, dass die Blockchain nicht nur etwas ist, was sie ihrem Publikum nicht erklären können: Mehr als das: Sie selbst sehen sich außerstande das Grundprinzip zu begreifen. Blockchain ist Krypto. Und Krypto ist fortgeschrittene Mathematik. Und wer versteht schon fortgeschrittene Mathematik?

Für diese Kollegen habe ich eine einfache Formel, die ihre Fragen im Allgemeinen und auch im Speziellen erklärt.

Die Blockchain ist ein Stempel.

Es klingt allzu einfach, ist aber so. Die Blockchain ist eine Technologie, die einem Stempel gleicht, oder eher: einem System von Stempeln. Noch einfacher: Eine Blockchain ist — ganz wie das Wort aussagt — nichts weiter als eine Kette aus Datenblöcken. Jeder dieser Blöcke bekommt einen kryptographischen Stempel aufgedrückt. Und nun kommt der Clou dieser Stempeltechnik: Mit jedem weiteren Stempel wird die Authenzität der gesamten Kette abgesichert.

Das Prinzip ist eigentlich schon alt. Wer mit Verträgen umgeht, wird es vielleicht ab und zu schon gesehen haben: Eine Ecke eines Papierstapels wird umgeknickt, und ein Stempel darauf gedrückt. Folge: Statt nur die erste Seite wird so der ganze Stapel abgestempelt. Niemand kann einfach ein Blatt Papier nachträglich ohne weiteres hinzufügen oder entfernen.

Der Trick hinter der Währung Bitcoin ist: Alle Bitcoins stehen quasi auf einem gemeinsamen Kontoauszug. Die „Miner“ speichern diesen gewaltigen Kontoauszug und stempeln ihn in Etappen immer wieder neu ab. Wie das genau geht, ist nicht so wichtig – diese Erklärung reicht schon, um zu verstehen, wie Bitcoin und weitere Crypto-Währungen funktionieren.

Die Blockchain ist ein Stempel.

Ein großer Teil des Unverständnisses, das ich in der alltäglichen Berichterstattung sehe: Die Blockchain hat den Ruf dezentral zu sein. Nun — das sind Stempel auch. Wenn wir zum Beispiel früher die Kopie eines Zeugnisses beglaubigen lassen mussten, konnten wir zu jedem Menschen mit einem Amtssiegel gehen, um aus der Kopie quasi ein Original zu machen: Das Bürgeramt, der Schulleiter oder gar der Gemeindepfarrer haben Zeugnisse von mir beglaubigt. Keiner davon war graphologisch ausgebildet, keiner hätte gemerkt, wenn ich mein Zeugnis mit einem teuren Farbdrucker und einer rudimentären Bildverarbeitung manipuliert hätte. Wir als Gesellschaft vertrauen Stempeln — selbst wenn sie gefaxt werden.

Dieses Prinzip wurde auf die Blockchain übertragen. Zwar stempeln die Miner diesen riesigen Kontoauszug ab – es kümmert sie aber nicht, was darauf steht. Das erklärt auch die vielen spektakulären Diebstähle und Betrugsnummern, die immer wieder Schlagzeilen machen. Sofern die vorgelegten Werte dem richtigen Format entsprechen, dann drücken die Miner ihren Stempel drauf und bekommen dafür Stempelgeld. Deswegen dauert es immer eine gewisse Zeit bis Bitcoin-Transaktionen abgeschlossen sind. Man schreibt die Transaktion auf den einen riesigen, riesigen Kontoauszug und wartet, bis genug Stempel darauf sind. Ob nun auf dem Kontoauszug die Erpressungsgelder eines Krypto-Trojaners oder der Kaufpreis einer Pizza stehen, ist den Stemplern ziemlich egal.

Ein Stempel

Die Blockchain ist ein Stempel.

Oder: Ein ganzen Haufen Stempel. Eine Idee aus der Frühzeit von Bitcoin ist es, dass sich quasi jeder an der Berechnung der Blockchain beteiligen kann. Das kann man zwar noch immer – um tatsächlich zu stempeln, muss man aber so viel Rechenzeit investieren, dass Privatleute ohne Profitmotiv längst ausgebootet worden sind.

Es ist ganz wie mit Amtssiegeln. Theoretisch könnte man auch ein System schaffen, wo jeder Bürger so ein Siegel hat und die Leute sich gegenseitig einen Stempel geben, wenn sie etwas richtig bescheinigt haben. Doch wer will sich schon die Arbeit machen für jeden Stempel riesige Bände mit Stempelkarten durchzugehen? Es kam, wie es kommen musste: Die Blockchain von Bitcoin ist mittlerweile hoch zentralisiert – viel zentraler als unser deutsches System von Amtsstempeln.

Neue Blockchains sind in der Regel komplett zentralisiert. Ein Konzern entscheidet, was er abstempeln will und welche Preise er dafür verlangen will. Ganz selten mal findet sich ein Konsortium zusammen, das mehrere gleichwertige Stempel untereinander verteilt und verspricht, sie gegenseitig anzuerkennen. Der Normalfall ist aber inzwischen: Eine Organisation bestimmt die ganze Blockchain.

Die Blockchain ist ein Stempel.

Viel wird darüber orakelt, ob nun für die Blockchain neue Anwendungsmöglichkeiten gefunden werden. Kann höhere Mathematik unser Leben verändern? Wer will das schon ausschließen? Kann jedoch neue Stempeltechnologie unser aller Zusammenleben umkrempeln? Ich glaube, die meisten würden sagen: Stempel sind nützlich, aber nicht grade neu. Eine Revolution erwarte ich hier also nicht.

Und in der Tat muss man sich nicht lange fragen, ob die Technik hinter Blockchains nützlich sein kann. Denn sie ist es schon viele Jahre. Seit 2005 zum Beispiel gibt es das Programm Git, das vom Linux-Schöpfer Linus Torvalds geschaffen worden war, um die vielen Millionen Zeilen Programmcode von Linux besser zu verwalten. Und kryptografische Signaturen – sprich: Stempel — gehören so selbstverständlich zum System, dass es lange Zeit niemandem aufgefallen ist.

Glaubt jemand, dass Git den Handel mit Online-Medien revolutionieren wird? Natürlich nicht. Wird es unser Zusammenleben revolutionieren? Nun, für Softwareentwickler hat Git eine enorme Bedeutung. In der Nische sind Stempel wichtig. Aber dafür braucht man ein System, in dem sich Leute aufeinander verlassen können.

Die Blockchain ist ein Stempel.

Die Grundphilosophie von Bitcoin war, dass die komplexe Mathematik Vertrauen unter Menschen ersetzen können. Die Werbemasche der Blockchain-Buden: Smart Contracts sollen (korrupte) Mittelsmänner ablösen. Was die Buden nicht verraten: Sie selbst wollen die neuen Mittelsmänner sein. Und bei vielen würde ich das Wort „korrupt“ nicht in Klammern schreiben.

Eine Masche ist zum Beispiel, dass die Stempler gar nicht mehr offen Provisionen oder Stempelgeld verlangen. Stattdessen verkaufen sie eine weitere Krypto-Währung, mit denen man die Stempler künftig bezahlen soll. Das vorgebrachte Kalkül: Die Kunstwährung wird mehr und mehr wert, weil der Markt ja wächst. Die Realität: Die Kunstwährung wird so schnell wie möglich unter Spekulanten gebracht, die dann jeweils neue Kreise suchen, denen sie die neue Kunstwährung unterjubeln können. Jeder macht dabei satte Gewinne, bis der letzte Käufer schließlich in die Röhre guckt.

Die Blockchain ist ein Stempel.

Ja, es gibt durchaus auch Leute, die tatsächlich an die Anwendung von Blockchains glauben und nicht korrupt und gekauft sind. Wobei: gekauft sind sie meist doch: Denn dank des Buzzwords Blockchain können sie Investorengelder einsammeln, die sie für eine langweiligere Datenbanktechnik nicht bekämen. Die langweilige Technik wäre in den meisten Fällen sinnvoller, sparsamer, problemloser als eine Blockchain, könnte aber mangels Investoreninteresse nicht verwirklicht werden. Aber wenn das Endprodukt im Prinzip Sinn ergibt — warum nicht? Nachher kann man das Projekt immer noch auf eine bessere technische Basis stellen. Vielleicht.

An alle Kollegen — und auch an Politiker — appelliere ich daher: Nehmt jeden Vorschlag, der Euch unterbreitet wird und ersetzt überall das Wort „Blockchain“ durch „Stempel“. Klingt der Vorschlag dann lächerlich, dann ist er es höchstwahrscheinlich auch. Klingt der Vorschlag nicht lächerlich, fragt Euch, ob denn die Begleitumstände stimmen. Braucht dieser neue Stempel-Startup-Sektor wirklich eine komplett neue Gesetzgebung? Ist die neue Stempel-Technik von Walmart nicht exakt das gleiche, was ALDI Süd schon seit zehn Jahren auf seine Frischfleischpackungen stempelt? Hat der brandneu innovative Stempelanbieter die Kompetenz und Infrastruktur, um die Werte, die er abstempeln will, tatsächlich zu garantieren? Lasst Euch nicht ins Bockshorn jagen.

Die Blockchain ist ein Stempel.

Die Legende von mythischen Datenschätzen

Gestern bin ich auf Twitter in eine interessante Diskussion geraten: Soll man Geschäftsmodelle wie Uber und AirBnB erlauben, wenn diese Unternehmen dafür versprechen, ihre Daten öffentlich freizugeben? Schließlich kann man so vieles mit öffentlichen Daten machen. Denn Daten sind Wissen. Und Wissen ist Macht. Und all die innovativen deutschen Startups, die niemals an Google und Facebook verkauft werden, könnten so die Wertschöpfung vom Silicon Valley zurückholen.

Obwohl ich offene Daten, bzw Open Data prinzipiell sehr unterstütze, muss ich hier sagen: Nein!

Erstens: Man gibt Unternehmen keinen Bonus, wenn sie Transparenzpflichten erfüllen. Man sorgt für vernünftige Regulierungen und dann haben sich die Unternehmen dran zu halten. Punktum.

Regulieren, aber richtig

Neulich habe ich mal die AirBnB-Hilfsseiten durchstöbert, wie denn Gastgeber dabei unterstützt werden, sich an örtliche Regulierungen zu halten. Und das Ergebnis war: fast gar nicht. Es gibt ein paar schwer auffindbare und kaum verständliche Hilfstexte und den ultimativen Hinweis, dass das der Gastgeber doch bitte selbst mit den Behörden zu klären habe.

Nein, AirBnB — wenn ihr Provision kassiert, solltet ihr hier eine aktive Rolle übernehmen. Zumindest eine kostenlose Hotline, wo juristisch gebildete Mitarbeiter Einzelfälle kompetent bewerten können und auch im Zweifelsfall eine Haftung von AirBnB auslösen. Das ist meine persönliche Meinung, die konkrete Umsetzung wäre eine Sache der Politik. Denn mein Anspruch kollidiert natürlich mit solchen Dingen wie dem Rechtsberatungsgesetz.

Der zweite Punkt ist aber: Ich möchte AirBnBs Daten nicht. Ich will auch nicht wirklich dringend die Daten von Uber haben. Denn: Diese Daten mögen höchst praktisch für die Marktaufsicht sein, um eben diese Unternehmen zu überprüfen und nachzufragen, ob auch jeder Teilnehmer seine Steuern brav bezahlt. Ansonsten sind sie weitgehend nutzlos für die Allgemeinheit.

Marketing, nicht Daten!

Denn diese Unternehmen sind nicht so groß geworden, weil sie Datenanalyse auf einen neuen Gipfel gehoben hätten. Uber zum Beispiel hat es geschafft, sich als billige und gastfreundliche Alternative zum Taxi zu etablieren — mit Marketing. (Und mit den verbrannten Milliarden von Investoren, die diese beim baldigen Börsengang zurückhaben wollen.) AirBnB hat auch keinen geheimen Algorithmus, der neue Wohnungen generiert – Leute melden sich freiwillig auf der Plattform an, weil mittlerweile keine US-Sitcom mehr ohne eine Folge über die erstaunlichen Verdienstmöglichkeiten auskommt.

Wenn ihr Ubers Daten haben wollt, um mehr über den Verkehr in Eurer Stadt zu erfahren, kann ich nur sagen: Ihr seid auf dieses Marketing reingefallen. Denn Uber ist nur ein vergleichsweise kleiner Over-the-top-Player, der einen winzigen Ausschnitt des Verkehrsgeschehens wahrnimmt und sich auf Daten von anderen verlässt. Wisst ihr, wer sehr viel mehr Daten über innerstädtischen Verkehr erfasst? Busse. Denn sie müssen fast überall hin und sind nicht bevorzugt unterwegs um Millennials vom Club nach Hause zu bringen.

Die Daten liegen näher als das Silicon Valley

Aber selbst die Busse sind eine unterlegene Datenquelle. Wenn ihr heute zum Beispiel das WDR-Radio einschaltet, werdet ihr alle halbe Stunde die Verkehrsnachrichten überhören. Falls ihr aber mal wirklich zuhört, wird Euch auffallen, dass dort nicht mehr nur die physische Länge eines Staus durchgegeben wird, sondern auch wie lange die Verzögerung voraussichtlich dauern wird. Diese Daten werden aus den Bewegungsdaten errechnet, die notwendigerweise in Mobilfunknetzen anfallen. Denn fast jeder Autofahrer hat ein Handy dabei, das konstant seinen Standpunkt an die umliegenden Funkmasten sendet.

Oder anders formuliert: Alle Daten, die bei Uber anfallen, fallen auch bei Apple, Google und den Mobilfunkherstellern an. Also: Wozu soll Uber zur Verfügung stellen, was sie eh nur nachnutzen? Sicher: Wenn man sie bekommen kann und ihre systematischen Mängel berücksichtigt – warum nicht? Aber: Wollen wir wirklich, das all unsere Bewegungsdaten öffentlich werden? Zwar kann man Daten aggregieren und verschleiern, aber gerade in Randbereichen ist die nachträgliche Identifikation nicht hundertprozentig zu vermeiden.

Unterirdische Datenqualität

Eine weitere These: Die Datenqualität von kommerziellen Unternehmen ist oft unterirdisch. Schaut mal in Eure Werbeprofile bei Facebook und Google. Darunter wird vieles sein, was erstaunlich korrekt sind: Alter, Geschlecht, Interessen. Doch wann immer ich in solche Profile gucke, sind lächerliche Fehlannahmen darunter. Facebook meinte zum Beispiel, ich höre als liebstes Blues-Musik. Was nicht stimmt. Facebook ist das jedoch ziemlich egal. Aufgrund meiner vermeintlichen Vorlieben wird mir Werbung gezeigt. Wenn mir eine Werbung angezeigt wird, die mich nicht wirklich interessiert, muss sie dennoch bezahlt werden. Und selbst wenn nicht: Ab einem gewissen Punkt rechnet sich die Optimierung auf meine tatsächlichen Interessen nicht mehr.

Es ist aber nicht nur das Desinteresse von kommerziellen Entitäten an durchweg korrekten Daten – der profitorientierte Ansatz produziert andere Daten als Entitäten, die das Gemeinwohl im Blick haben. Beispielsweise veröffentlichte Forbes neulich einen Artikel darüber, wie Fodoora entdeckt hat, das Fahrräder das effizientere Verkehrsmittel sind, weil sie im Stadtverkehr Autos und sogar Motorroller hinter sich lassen.

Dabei darf man jedoch nicht vergessen, worum es hier geht. Die Lieferfahrer haben ein sehr spezielles Bewegungsprofil. Zum einen: Sie fahren immer nur wenige Kilometer. Wenn jemand vom anderen Ende der Stadt eine Pizza bestellt, wird sie auch von dort geliefert. Für mich als Radfahrer in Köln sind diese Daten nur beschränkt übertragbar. Denn ich kann mich nicht in die nächste Lieferpizzeria teleportieren lassen, um von dort meinen Weg zu meinem Ziel fortzusetzen.

Gut genug ist nicht genug

Doch die Daten, die ein Unternehmen produziert, sind auch auf andere Weise verzerrt. Wenn ich in den Straßenverkehr schaue, wird recht deutlich, dass sich Lieferfahrer deutlich anders verhalten als andere Verkehrsteilnehmer. So sind sie ökonomisch motiviert, jede Art von Abkürzung zu nehmen, sie wissen besser als andere, wo sie was können. Dadurch werden die Daten sozusagen verseucht: Nur weil ein Lieferfahrer eine Straße langgefahren ist, ist es noch lange kein Beweis dafür, dass es sich um keine Einbahnstraße in anderer Richtung handelt — nicht einmal, wenn es 100 Lieferfahrer machen. Eine Navigation, die auf solchen Daten aufzusetzen versucht, wird notwendigerweise Probleme bekommen.

Kurzum: Für Privatunternehmen ist die Maxime: Es reicht, wenn Daten gut genug für meinen Zweck sind. Öffentliche Daten sollten jedoch einem höheren Anspruch genügen.

Regulierung muss moderne Geschäftsmodelle verhindern

Der Satz wird so oft gesagt, dass man ihn schon nicht mehr wahrnimmt. „Regulierung darf moderne Geschäftsmodelle nicht verhindern“, heißt es immer wieder. Und jeder nickt.

 

Dabei ist der Satz grundfalsch. Denn es ist gerade die Aufgabe von Regulierung moderne Geschäftsmodelle zu verhindern. Früher verhinderte die Regulierung den Verkauf äußerst preisgünstiger und immens arbeitplätzeschaffender Dampfkessel, die dann beim Kunden irgendwann explodierten. Das war ein äußerst modernes Geschäftsmodell. Heute muss Regulierung Geschäftsmodelle verhindern, die rücksichtlos und dauerhaft schädigend mit Daten umgehen. Auch Crypto-Trojaner, die ganze Unternehmensnetzwerke lahmlegen, bis denn eine Zahlung geleistet wurde, sind ein sehr modernes und lukratives Geschäftsmodell.

Nun kann man drüber streiten, welches Geschäftsmodell genau mit welchen Mitteln verhindert oder eingeschränkt werden darf. Die Modernität ist jedenfalls kein Kriterium, das einen Regulierungs-Freibrief begründen könnte. Oder kurz gesagt: Regulierung muss moderne Geschäftsmodelle verhindern. Sonst kann man sie sich auch sparen.