Lamestream Media

In diesen Tagen ist es so einfach zum Medienkritiker zu werden: jeder Fernsehsender, der nicht 24 Stunden am Tag vom Gemetzel in Kairo berichtet, ist ein Relikt vergangener Tage, versündigt sich am Erbe der friedlichen Revolution in der DDR, die wir nun am Bildschirm nochmal nacherleben wollen. Live. Jeder Kommentar, jede Überschrift muss die unverbrüchliche Treue mit den Regimegegnern ausdrücken — wer immer sie sein mögen — und den Westen für seine Unterstützung Mubaraks verdammen.

Ich muss übertreiben – sicherlich. Oder etwa nicht? Zum Beispiel hat der allzeit streitsame Jens Best bei tagesschau.de einen Propaganda-Stoßtrupp des ägyptischen Regimes geortet:

Gemeint war dieser Beitrag, in dem der Autor zum Beispiel dies schreibt:

In Kairo, Suez und Alexandria gilt eine verlängerte Ausgangssperre, die um 15.00 Uhr nun eine Stunde früher beginnt und bis morgens 8.00 Uhr andauert. Diese Maßnahme wird von Beobachtern als Bestätigung für den Verdacht gewertet, dass die Plünderungen und das Chaos der vergangenen zwei Tage vom Regime bewusst verursacht worden waren, um die Demonstranten zu schwächen.

Jens Best und viele andere Twitterer haben das wohl nicht gelesen – sie nahmen die Überschrift, ergänzten sie durch ein paar Worte aus ihrer Fantasie und erregten sich. Aber gut, was will man von dem 140-Zeichen-Schnell-Schnell erwarten?

Wenden wir uns also der FAZ zu, in der Jochen Hieber den öffentlich-rechtlichen Sendern ein miserables Zeugnis ausstellt.

Nein, genau das hatten wir eben nicht – knapp elf Minuten hatte Mubaraks Rede gedauert, sie war für den Moment das Ereignis schlechthin und fand just während der Sendezeit des „Journals“ statt. Wir aber sind, Goethe abzuwandeln, eben nicht dabei gewesen, nicht in der ersten, der zweiten oder wenigstens der letzten Reihe. Dass auch die „Tagesthemen“ der ARD, die am Dienstag um 22.30 Uhr begannen, nicht in der Lage waren, die Rede ausführlich (am besten: ganz) zu dokumentieren und deren Wortlaut einer ersten Interpretation zu unterziehen, macht die Sache vollends zum Trauerspiel. Wovon erzählt es?

Nun — es erzählt davon, dass Herr Hilber seine Fernbedienung verlegt hat oder sie nicht bedienen kann. Ich wunderte mich nämlich wie er über den Mini-Ausschnitt der Mubarak-Rede im heute-journal – war aber nicht wirklich erstaunt oder sauer. Stattdessen schaltete ich auf Phoenix um, wo ich mit einigen Minuten Verzögerung die Ansprache in voller Länge sah. Ich kam zum Schluss, dass „das Ereignis schlechthin“ eine Ansammlung von Phrasen war, die nur eine wesentliche Information enthielt: Mubarak will bis September an der Macht festhalten.

Diese Staatspropaganda in voller Länge vorzuspielen gehört in meinen Augen nicht zu den vorrangigen Zielen im Programmauftrag der GEZ-finanzierten Sender, wenn mit eben diesen Gebühren bundesweit ein Nachrichtenangebot finanziert wird, das mit einem Druck auf die Fernbedienung zu erreichen ist. Mit der gleichen Berechtigung könnte man kritisieren, dass der FAZ-Artikel nicht das Nachtprogramm abdeckt. Redaktionsschluss oder Schlaf sind in diesen Zeiten der Moment-Ereignisse doch irrelevant geworden.

Die Ereignisse in Ägypten zeigen, wie viel Macht Informationen und damit auch „die Medien“ haben. Diese Macht verlangt nach Kontrolle und Kritik. Haben die Medien im Verbund mit den westlichen Regierungen ein Unrechtsregime gestützt? Sind die Journalisten so gefangen im Schema von „Die Regierung hat gesagt, die Opposition erwiderte“, dass sie vergessen, dass sie über echte Menschen, über fundamentale Umstürze berichten? Wie kann die ARD sein Korrespondentennetz effektiv nutzen, wenn das Publikum bei Revolutionen 24/7-Berichterstattung fordert, aber beim Weltspiegel oder den Hintergrundberichten von Deutschlandradio gelangweilt wegschaltet?

All dies sind legitime Fragen. Um sie zu beantworten, muss man jedoch hinsehen, hinhören und nachdenken.

P.S. Bei mir zu Hause liegt die ARD auf Programmplatz 1, arte auf der 2 und Phoenix auf der 3. Medienkompetenz fängt zu Hause an.

P.P.S.: Nach einem weiteren FAZ-Angriff schlägt ARD-Aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke zurück:

Wir hätten die Rede von Hosni Mubarak am Dienstag live übertragen sollen, heißt es da. Meint der Autor das ernst? Das wäre so als wenn wir jetzt jede Rede von Fidel Castro live zeigen würden. Es könnte ja die letzte sein. Was würden wir den machen, wenn Husni zwei Stunden lang Parolen absondert – draufbleiben, weil’s so toll ist? Unser Job als Journalisten ist es, zu bewerten, zu gewichten, auszuwählen und nicht einfach laufen zu lassen.

Die Presse ist gar nicht so

Nachdem Jon Stewart unter anderem den Medien am Wochenende so phänomenal die Leviten gelesen hat, fühlen sich einige Medienvertreter zu Unrecht angegriffen.

So schreibt David Carr in der New York Times:

So instead the host of “The Daily Show” took steady aim on the one American institution that everyone can agree to hate: The Media. Within the first minute of his deft, very articulate stump speech at the end of the rally, Mr. Stewart turned his gun sights on the, um, fake news, which he called, “the country’s 24-hour political pundit perpetual panic conflictinator,” which, he added, “did not cause our problems, but its existence makes solving them that much harder.”

Dem mag sich Carr nicht ganz verschließen — er sieht die Prioritäten aber falsch gesetzt. Schließlich haben Medien doch nur einen so beschränkten Einfluss:

But here’s the problem: Most Americans don’t watch or pay attention to cable television. In even a good news night, about five million people take a seat on the cable wars, which is less than 2 percent of all Americans. People are scared of what they see in their pay envelopes and neighborhoods, not because of what Keith Olbermann said last night or how Bill O’Reilly came back at him.

Warum also hat Jon Stewart die Medien attackiert? Sie sind – so argumentiert Carr – willkommene Sündenböcke für eine Realität, die den Menschen nicht gefällt. In dem Jon Stewart die pundits beschimpfte, musste er nichts über Arbeitslosigkeit, Staatsschulden und Kriegen sagen.

His barrage against the news media Saturday stemmed from the fact that, on this day, attacking the message would have been bad manners, so he stuck with the messengers.

Ähnlich argumentiert Hamilton Nolan bei Gawker:

The media does not have the power to convince liberals or conservatives that their position is incorrect. The media does have the power to do this: draw a box, and say, „This box represents the boundaries of acceptable opinions.“ The boundaries of this box are arrived at by sampling a small range of politically acceptable pundits—say, from Arianna Huffington to Charles Krauthammer—and declaring them to represent the absolute extremes of rationality. Any opinions that fall outside of this box are dismissed as lunacy, and may be freely ignored.

Nicht Schreihälse wie Glenn Beck oder Keith Olbermann seien die Wurzel des Übels, sondern Journalisten, die Wischi-waschi-Standpunkte vertreten, um nicht aus dem Rahmen zu fallen. Der Konsens — wie auch anderswo — sei Gift.

Fuck bipartisanship. Politics is about different ideas, and many of them are irreconcilable. You have to choose one or the other. Jon Stewart is right to call for civility, but he should recognize that the real enemy is agreement, rather than disagreement. Social niceties blunt honesty, which renders our public dialogue coded and often worthless. Democracy thrives on the thesis-antithesis-synthesis process of open and uninhibited discussion and, yes, argument.

Der demonstrativ linke Talkmaster Keith Olbermann sieht sich zu Unrecht angeprangert. Stewart sei naiv — die anderen hätten schließlich angefangen. Wer zuerst aufhöre zu schreien,habe den meinungskampf verloren. Und wohin so etwas führt, wissen wir doch alle, oder?

P.S.: Olbermann will nun zumindest nicht mehr regelmäßig die „worst persons of the world“ küren — und Jon Stewarts Rede wurde autotuned:

Hier klicken, um den Inhalt von www.youtube-nocookie.com anzuzeigen

I have a… point

If we amplify everything, we hear nothing.

Danke, Jon!

Hier klicken, um den Inhalt von YouTube anzuzeigen.
Erfahre mehr in der Datenschutzerklärung von YouTube.



P.S.

I can only tell you my intentions. This was not a rally to ridicule people of faith or people of activism or to look down our noses at the heartland or passionate argument or to suggest that times are not difficult and that we have nothing to fear. They are and we do. But we live now in hard times, not end times. And we can have animous and not be enemies.

But unfortunately one of our main tools in delineating the two broke. The country’s 24 hour political pundit perpetual panic conflinctinator did not cause our problems but it’s existence makes solving them that much harder. The press can hold it’s magnifying glass up to our problems bringing them into focus, illuminating issues heretofore unseen or they can use that magnifying glass to light ants on fire and then perhaps host a week of shows on the sudden, unexpected dangerous flaming ant epidemic.

If we amplify everything we hear nothing. There are terrorists and racists and stalinists and theocrats. But those are titles that must be earned. You must have a resume. Not being able to distinguish between real racists and Tea Partiers or real bigots and Juan Williams and Rick Sanchez is an insult — not only to those people but to the racists themselves who have put in the exhausting effort it takes to hate. Just as the inability to distinguish terrorists from Muslims makes us less safe not more. The press is our immune system. If we overreact to everything we actually get sicker and perhaps eczema.

And yet with that being said I feel good — strangely, calmly good. Because the image of Americans that is reflected back to us by our political and media process is false. It is us through a fun house mirror and not the good kind that makes you look slim in the waist and maybe taller, but the kind where you have a giant forehead and an ass shaped like a month old pumpkin and one eyeball.

So — why would we work together? Why would you reach across the aisle to a pumpkin-assed forehead eyeball monster? If the picture of us were true of course our inability to solve problems would actually be quite sane and reasonable. Why would you work with Marxists actively subverting our constitution or racists and homophobes, who see no ones humanity but their own? We hear every damn day about how fragile our country is—on the brink of catastrophe—torn by polarizing hate and how it’s a shame that we can’t work together to get things done, but the truth is we do. We work together to get things done every damn day!

The only place we don’t is here or on cable TV. But Americans don’t live here or on cable TV. Where we live our values and principles form the foundation that sustains us while we get things done not the barriers that prevent us from getting things done. Most Americans don’t live their lives solely as Democrats, Republicans, Liberals or Conservatives. Americans live their lives more as people that are just a little bit late for something they have to do—often something that they do not want to do — but they do it. Impossible things every day that are only made possible by the little reasonable compromises that we all make.

Look on the screen this is where we are this is who we are. (points to the Jumbotron screen which show traffic merging into a tunnel. These cars—that’s a schoolteacher, who probably thinks his taxes are too high. He’s going to work. There’s another car — a woman with two small kids who can’t really think about anything else right now. There’s another car swinging I don’t even know if you can see it—the lady’s in the NRA. She loves Oprah. There’s another car—an investment banker, gay, also likes Oprah. Another car’s a Latino carpenter. Another car a fundamentalist vacuum salesman. Atheist obstetrician. Mormon Jay-Z fan. But this is us.

Everyone in the cars in D.C. is filled with individuals with strong believe and principles they hold dear. Often principles and believes in direct opposite to their fellow travellers. And yet this million cars have to find a way to squeeze one bye one in a mile long 30 foot wide tunnel, carved underneath a mighty river. Carved By people by the way who had their differences. And they do it. Concession by concession. You go, then I’ll go. You go, then I’ll go. Oh, is that an NRA sticker on your car? Is that an Obama sticker on your car? But thats OK. You go, then I’ll go.

And sure — at some point there will be a selfish jerk who zips up the shoulder and cuts in at the last minute, but that individual is rare and he is scorned and not hired as an analyst. Because we know instinctively as a people that if we are to get through the darkness and back into the light we have to work together and the truth is, there will always be darkness. And sometimes the light at the end of the tunnel isn’t the promised land. Sometimes it’s just New Jersey. But we do it anyway, together. If you want to know why I’m here and want I want from you I can only assure you this: you have already given it to me. You’re presence was, what I wanted.

Sanity will always be and has always been in the eye of the beholder. To see you here today and the kind of people that you are has restored mine. Thank you.

BILD kämpft für SIE (oder sich?)

Kai Diekmann ist in ein ausgezeichnet vernetzter Mann. Kaum berichten die Medien über seinen Versuch, einen Nachlass auf seine enorme Telefonrechnung herbeizumauscheln, hat er offenbar zur Gegenoffensive ausgeholt. Heute erschien ein vermeintlicher Spiegel-TV-Beitrag auf YouTube, in dem Diekmann als Roaming-Opfer „Kai D. aus Brandenburg“ posiert:

Wir sehen ihn mit LIDL-Tüten auf dem Weg zu der Springer-Zentrale, die Sprecherin erzählt über die vermeintlichen Ehe-Probleme durch die Rechnung und Kai D. räsonniert: „…und dann hat es auch noch dauernd geregnet“. Gekonnt gemacht.

Gut verdienende PR-Facharbeiter lachen sich eins, wie der mächtige BILD-Chefredakteur sich da als Hinz und Kunz inszeniert. Der Angestellte, dessen Ehefrau dauernd die Telefonrechnung hochtreibt, der Pauschalurlauber, der sich über das Wetter mokiert. Ehen, die durch fünfstellige Beträge ruiniert werden können. Die alberne Anonymisierung, die durch das riesige BILD-Logo im Hintergrund ad absurdum geführt wird.

Doch: ist das Selbstironie? Oder zeigt da nur jemand, was er von den Leuten hält, die er mit Slogans wie „BILD kämpft für Sie!“ einzuwickeln versucht? Die Leute, die nicht den Telekom-Chef persönlich um Nachlässe angehen können. Angestellte, deren Arbeitgeber nicht Mal eben einen fünfstelligen Betrag zahlt, um deren Ego-Eskapaden zu bezahlen.

Diekmann ist sich selbst in die Fall gegangen: Hätte er sein Roaming-Malheur gleich thematisiert, hätte er ja sogar noch als glaubwürdiger Anwalt derer fungieren können, die auf die unverschämt hohen Roaming-Tarife hereingefallen sind. Dass er es erst einmal hinterrücks beim Telekom-Chef versuchte und sich dann keinesfalls hinten anstellen will, zeigt hingegen, dass BILD sich zunächst um sich selbst kümmert und vielleicht dann mal anfängt an die Leser zu denken.

Aber das YouTube-Filmchen ist eh nicht für den BILD-Leser gedacht. Hier zeigt ein Alpha-Tier lediglich, dass die kleinen Pinscher aus den kaputtgesparten oder trivialisierten Medienressorts nicht an seinem enormen Ego kratzen können.

Unbiased

Newsmax ist laut Sarah Palin eine „sehr wertvolle , sehr hilfreiche“ Nachrichtenquelle. Wie hilfreich, kann man derzeit im Google Reader betrachten, wo diese Anzeigen an scheinbar jeder Ecke auftauchen:

Um einen uralten Wired-Artikel zu zitieren:

On a shoestring budget compared to other media sites, Newsmax has attracted a loyal audience of a few hundred thousand visitors a month, many of whom swear that it offers the only unbiased news available in the United States.

Leider sind diese Leute nicht die einzigen, die eine Berichterstattung nach Ihrem Geschmack nicht von einer neutralen Berichterstattung unterscheiden können. Oder wollen.

Glaubwürdigkeit

Gestern hatte ich mich ja schon kurz mit dem aus meiner Sicht allzu internet-optimistischen Internet-Manifest beschäftigt. Eine der Behauptungen ist, dass die Ansprüche des Publikums gestiegen sei: „Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist.“ Ich persönlich fände es sehr bedauerlich, wenn nur noch herausragende Menschen vom Publizieren leben könnten – man stelle sich vor nur Madonna verdient mit Musik Geld und alle gehen leer aus. Aber das ist eine Petitesse, das Thesenpapier wurde einfach zu hurtig formuliert um tatsächlich fundierte Analysen zu bieten.

Trotzdem möchte ich hier nochmal drauf eingehen. Eine der Lieblings-Quellen für deutsche Netizens ist das Blog von Fefe, der beim Chaos Communication Congress immer die unterhaltsamen Jahresrückblicke veranstaltet. Ist die Quelle glaubwürdig? Auf den ersten Blick: nein – ganz oben steht: „Wer schöne Verschwörungslinks für mich hat: ab an felix-bloginput (at) fefe.de!“ Das Blog ist demnach eher ein alternate reality game als eine Nachrichtenquelle. Was stimmt, was nicht? Wer erkennt das bekannte Muster? Wo sind die 23 CIA-Agenten versteckt?

Der Inhalt des Blogs stammt zum großen Teil aus Agenturen, Stücke von Spiegel Online, dem Guardian – kurz: die Massenmedien, die Fefe so gern verhöhnt, sind seine wichtigste Informationsquelle. Deren Kurzmeldungen dampft er nochmal auf ein zweizeiliges Zerrbild ein. Aber Fefe hat mehr: zusätzliche Infos, die die vielen Zuträger einsenden: unbekannte Fakten, neuer Kontext, verschrobene Interpretationen. Manchmal ist das sehr unterhaltsam – aber glaubwürdig? Nein.

Das Problem: Trotzdem wird Fefe geglaubt. Ihm selbst ist das furchtbar unangenehm und er hat zur Abschreckung einen Beitrag verfasst, der seine Arbeitsweise als inoffizielles Redaktionsstatut von bild.de entlarvt: von ihm kann man weder Neutralität, noch Korrekturen erwarten. Überhaupt: alles, was er schreibt, sind ja eh nur Meinungsäußerungen. Wer will, kann ja den Links folgen, die oft – aber keineswegs immer – die Quelle der Kurz-Anekdoten zeigen.

Und noch immer kommt es bei dem Publikum nicht an. So ist heute morgen wieder eine Fefe-Meldung in meinen Twitter-Horizont geschwappt.

Die SPD ist so verzweifelt, dass sie schon alte Schröder-Plakate aufhängt. Aufgenommen gestern in Berlin Pankow. Im Hintergrund sieht man ein großes Steinmeier-Plakat, falls jemand zweifelt, dass das eine aktuelle Aufnahme ist.

Wirklich lustig ist das ja nicht, und so blöd sind SPD-Plakatierer auch nicht. Ein Blick auf das Beweisfoto offenbart, was man eh schon vermutet hat: jemand hat das Steinmeier-Plakat abgerissen und darunter kam ein Schröder-Plakat zum Vorschein. Oben hängt sogar noch ein Fetzen Steinmeier herum. Und dennoch: auf Twitter wird die Falschinterpretation ohne jede Kritik weiter verbreitet – von Menschen, die eigentlich selbst denken können, die eine so billige Manipulation mit einem Blick erkennen müssten.

Ich bin mal gespannt, wie viele Leute heute glauben werden, dass der Axel-Springer-Verlag Welt.de und Bild.de noch in diesem Jahr für den freien Zugriff sperren will. Schließlich hat es ja RIA Novosti in einem Fünfzeiler gemeldet. Zwar sind glaubwürdigere Quellen nur einen Klick entfernt, man kann die Rede von Herrn Wiele sogar komplett online ansehen – aber wen interessieren schon Fakten?

Was bleibt zu sagen? Medienkompetenz wird nicht automatisch mit einem Internet-Anschluss erworben, objektive Wahrheiten sind eh nur eine Illusion und daher auch komplett verzichtbar.

Big Brother und die Medienkompetenz

Die britische Boulevardzeitung Sunday Express hat eine Hammer-Story:

The Children’s Secretary set out £400million plans to put 20,000 problem families under 24-hour CCTV super-vision in their own homes.

They will be monitored to ensure that children attend school, go to bed on time and eat proper meals.

Big Brother am Werk: So weit ging nicht Mal Orwells Version eines Überwachungsstaates – hier wurden nur Parteimitglieder mit Kameras überwacht, das Proletariat lebte unreflektiert und weitgehend unüberwacht, wurde mit Alkohol, Massenmedien und Lotterien unter Kontrolle gehalten.

Ein Skandal! Kein Wunder, dass die Nachricht flugs reichweitenstark weiter verbreitet wird, auch in tendentiell seriöseren Medien.

Komisch: über die Pläne von Ed Balls haben damals – die Story ist fast zwei Wochen alt – auch diverse andere britische Medien berichtet. Das entscheidende Detail mit den Überwachungskameras ist aber offenbar niemandem außer der Express-Autorin aufgefallen. Beim Guardian liest sich der Part so:

Balls said that so far only half of local authorities – 75 – were taking part in the scheme. So far there are 2,000 families in the intensive family support programme with 42 new projects set up since the publication of the youth crime action plan 12 months ago. Balls hopes it will expand to cover 20,000 problem families within the next 18 months.

The scheme uses a key worker to deliver intensive support to particularly chaotic or challenging young people and families, with non-negotiable elements and sanctions if behaviour does not change. The programme costs between £5,000 and £20,000 per family.

The action plan has also seen the involvement of 26,000 young people in extra activities on Friday and Saturday nights and the introduction of street teams of youth workers to 65 local areas. Operation Staysafe removes vulnerable young people from the streets at night and takes them to a place of safety.

Hat der Express vielleicht etwas genauer hingehört als die Kollegen von Guardian, BBC oder anderen Medien? Spätestens hier sollte der Denkreflex einsetzen: Überwachungskameras in Wohnungen für 5000 Pfund? Die Preise für Hardware und Überwachung müssen extrem gesunken sein, um ein solches Programm durchzuziehen. Zudem auch noch die ganzen angekündigten Programme bezahlt werden müssen.

Lange Rede – kurzer Sinn: die Autorin einer Boulevard-Zeitung hat das Wort „supervision“ gehört, grotesk aus dem Zusammenhang gerissen und daraus eine Horror-Story gemacht. Man könnte jetzt sagen, dass es Bände spricht, wenn erfahrene Journalisten solche Fehlinterpretationen für möglich halten. Aber die Titelstory von express.co.uk ist grade „Omega 3 is the secret of long life“ – so tief sinkt selbst bild.de nicht. Diese Geschichte erzählt mehr über britische Boulevardzeitungen und die Unwilligkeit der IT-Blogger, Quellen kritisch zu hinterfragen, wenn sie Ihnen in den Kram passen.

PS: Mit einer einfachen Mail habe ich das auch ganz offiziell von der britischen Regierung bestätigt bekommen.

Families will not be monitored by CCTV in their own homes. Through Family Intervention Projects (FIPs) we are supporting and challenging the small number of families involved in persistent anti-social behaviour. FIP workers spend time observing families in their own homes, helping them to recognise that their anti-social behaviour is unacceptable. They focus on the causes of their behaviour, and challenge them to make changes so they can turn their lives around. A very small
number of families who need further intensive support are placed in residential units with project workers living with them – this does not involve CCTV.

„This is part of the Government’s approach to preventing and tackling anti-social behaviour and youth crime. In the last year alone, FIPs have challenged and supported over 2,300 families to turn their behaviour around. Twelve months on from the Youth Crime Action Plan, Ed Balls and Alan Johnson have written to all local authorities in England asking them to expand and accelerate FIPs. Councils and police have reported that FIPs are an excellent way of preventing and tackling crime and anti-social behaviour.“

Wohlgemerkt: Das Dementi ist glaubwürdig. Der Express hatte von einer offiziellen Pressekonferenz berichtet, auf der mehrere Minister ein Aktionsprogramm vorgestellt haben, dessen Details in vielen Publikationen vorgestellt wurden und auf der niemand sonst etwas von Überwachungskameras gehört hat.

Der Express hat meine Anfrage nicht beantwortet, ob man zu dem Artikel steht. Offenbar hält die Redaktion auch das offizielle Dementi des Bildungsministers für nicht berichtenswert. Die Autorin Alison Little hält es dieser Tage für weit wichtiger, wie die britische Regierung Einwanderern Steuergelder hinterherwirft.

Davon abgesehen: In Großbritannien läuft allerhand falsch, was Überwachung betrifft – hier ein aktuelles Beispiel. Das sollte aber nicht dazu führen, dass man schlichtweg unreflektiert alles glaubt.

Blame Game

Politiker beuten den Amoklauf aus! Medien vergessen jede Ethik, amoktwittern, provozieren neue Gewalttaten geradezu! Die Polizei und der Innenminister haben falsch informiert, gelogen! Die Waffenlobby tut unschuldig, wo man doch weiß, was das für gun nuts sind! Das Publikum ist sensationsgeil: seht nur die Einschaltquoten und Auflagenzahlen! Spiele-Fans haben den Blick für die Realität verloren, attackieren alle, die auch nur Gewaltspiele erwähnen! Die Spießer der Nation wollen mit dieser Tragödie das Rat der Zeit zurückdrehen!