Das Konsens-Prinzip als Wikipedia-Gift

Ein mir bis dahin unbekannter Wikipedianer namens Tolanor hat einen interessanten Aufsatz zu den Mängeln der Wikipedia geschrieben, den ich Wortwahl und Zuspitzung nicht unterschreiben würde, der aber interessante Argumente aufbringt.

Wikipedia […] hat ein Problem: Den Verlust der Offenheit, die Wikipedia groß gemacht hat. Das gilt nicht nur für die Offenheit der eigentlichen Enzyklopädie, d. i. der Artikel, die nach und nach durch technische, teilweise notwendige Finessen wie Sperren oder Sichtungen eingeschränkt wurde, sondern auch und vor allem für die Sozialstruktur. Die Wikipedianer begrüßen Neulinge meist mit Löschanträgen und Textbausteinen, die Außenwelt wird, sobald sie sich – ob in Form von wissenschaftlichen Konferenzen, von Blogbeiträgen oder gar von neuangemeldeten Benutzern, die in der Wikipedia ihre Meinung kundtun – zunächst misstrauisch beäugt und schließlich verhöhnt, angegriffen, rausgeworfen.

Woher kommt diese Xenophobie und Intoleranz? Ich versuche es mal mit einer „ideengeschichtlichen“ Antwort, geleitet von einer provokanten These: Einer der ärgsten Feinde der offenen Wikipedia ist das Konsens-Prinzip.

In der Tat: einer der Grundgedanken war, die Wikipedia möglichst frei von Hierarchien zu halten. Wenn sich jeder auf Augenhöhe begegnet, sollte sich schon alles zum Besten wenden. Für Tolanor war dieser Ansatz jedoch falsch — zumindest nach der Anfangsphase:

Fakt ist: Konsens im eigentlichen Sinne funktioniert nur in kleinen Gruppen. Solange die Wikipedia noch aus 20 Leuten bestand, die sich mehr oder weniger einig waren und sich darüber hinaus nur schwer in die Quere kommen konnten, weil die weiten Felder des menschlichen Wissens weitgehend unbeackert waren, konnte man für alle akzeptable Entscheidungen treffen. Nun hatte man Wikipedia aber als ein offenes System konzipiert, an dem wikiprinzipiell jeder teilnehmen durfte (sic Präteritum). Die Zahl der Mitarbeiter stieg rasch an, und damit geriet der bisher erreichte Konsens unter den Benutzern zunehmend in Gefahr – denn mit der Zahl der Mitarbeiter stieg auch deren Heterogenität im Denken und Handeln.

Gleich danach liefert uns Tolanor einen Einblick in die frühere Wiki-Politik, die absurd anmutende Regeln wie „Sei mutig“ in absurd anmutende Prozesse umsetzten, die – für viele unerklärlicherweise – zu einer der größten und qualitativ erstaunlich guten Enzyklopädie führten. Ein „inner core“ übernahm die Macht, focht Macht-Kämpfe um Straßennamen und Artikel-Bausteine aus und verschliss in dem ewig währenden Streit der Besserwisser.

Die Core-Community verstand sich als Streiter für den Konsens, der Neulingen auch gar nicht mehr auseinandergesetzt und erklärt, geschweige denn diskutiert und infrage gestellt zu werden brauchte. Weil diese Neulinge, denen man nichts erklärte, die man stattdessen vor vollendete Tatsachen stellte, nicht so einfach spurten, entwickelte sich ein Korpsgeist in der inneren Community. An diesem Punkt brauchte jemand, der zwar bewusst und ganz offensichtlich gegen Wikipedia-Regeln und -Gepflogenheiten verstoßen hatte – etwa indem er einen angeblich schlechten, aber vielleicht schon seit Jahren so dastehenden Artikel ohne Diskussion löschte – keine Sanktionen mehr zu fürchten. Das Konsens-Korps kam ihm sogleich zuhilfe, indem es einfach behauptete, der jeweilige Kritiker der Aktion habe keine Ahnung – nämlich von was? Vom Konsens.

Die Diagnose ist zweifellos richtig – alleine fehlt es in dem Beitrag an Lösungsmöglichkeiten. Denn „Wikipedia ist keine Demokratie“ ist keinesfalls nur eine xenophobe Kampfparole einer machtbessessenen Clique (die sich vor Jahren aufgelöst hat) – es ist ein Fakt. Denn wie sollte Wikipedia zur Demokratie werden? Um Abstimmungen zu ermöglichen, müsste Wikipedia sich mehr abschotten und eine feste Community bilden. Demokratie setzt ein Wahlvolk voraus, das sich nicht mit einem Mausklick vom Acker macht oder automatisiert (oder bezahlt) Tausende Stimmen abgibt. Nicht Mal ein System wie Liquidfeedback funktioniert, wenn ständig neue Leute kommen und gehen und niemand sich an die gefundenen Beschlüsse halten will.

Woher kann die Legitimität für Entscheidungen über Wikipedia kommen? Jimmy Wales war über lange Jahre als (Mit-)Gründer in der Position Diskussionen in Gang zu setzen und auch wieder beenden zu können – doch mit den Jahren ist die integrative Kraft geschwunden. Die Wikimedia Foundation hat sich auf der Plattform selbst sehr rar gemacht, will so wenig wie möglich mit Community-Prozessen und den Inhalten auf den Servern zu tun haben. Die Leser, das Publikum sind wiederum eine nicht greifbare Masse von Leuten, die in den meisten Fällen gar kein Interesse an der Meta-Ebene, an Entscheidungen und Spielregel-Aushandlung zu tun haben wollen.