Die Debatte ist richtig! Die Fakten nicht so.

Es gibt ja einige, die sagen: egal ob die Thesen von Thilo Sarrazin nicht mehr als ein Aufguss von missverstandenem Infoabfall sind – Hauptsache, die Debatte wird angestoßen. Denn die Debatte ist wichtig und deswegen ist sie auch richtig!

Und natürlich findet sie ihren Wiederhall in der politischen Arena. So sagt Unionsfraktionsvize Michael Fuchs der Rheinischen Post:

Wenn etwa die Kinder nicht in die Kita oder die Schule geschickt werden, dann muss das mit Hartz-IV-Kürzungen sanktioniert werden.

Wenn Kinder nicht in die Kita geschickt werden, ist das die freie Entscheidung der Eltern. Werden die Kinder hingegen nicht in die Schule geschickt, dann ist dies Verstoß gegen die Schulpflicht, was in Deutschland zu Geldbußen oder sogar – ob Hartz IV, Migrant oder Mutter Beimer – zu einem Gefängnisaufenthalt der Eltern führen kann. Die Forderung von Herrn Fuchs ist purer Blödsinn und das weiß er auch. Aber er wird Applaus bekommen, von denen, die immer gerne Sanktionen gegen andere fordern.

Herr Sarrazin hat keine Integrationsdebatte angestoßen, sondern einen Wettbewerb: wer kann am besten Stimmung machen? Wer ist am wenigsten auf Fakten angewiesen? Wir argumentieren nicht, wir verbalisieren Bauchgefühle. Und darauf kann man getrost verzichten.

PS: Oswald Metzger skizziert die Lage bei FOCUS Online so:

Denn die Causa Sarrazin belegt doch auch, dass ohne die Skandalisierung von Missständen, ohne Übertreibung und Polemik kaum eine öffentliche Resonanz in unserer Mediendemokratie zu erzielen ist.

Aber was nutzt alle Resonanz, wenn nur Polemik auf Polemik gestapelt wird? Eine Debatte mag vorhanden sein, aber statt einen kleinen Schritt näher an die Lösung der Probleme zu gehen, sind wir nun drei riesige Schritte zurückgefallen.

Ermäßigter Privatsphärensatz

Immer wenn uns Journalisten nicht wirklich etwas einfällt, um die Absurditäten des Staatswesens zu beschreiben, zücken wir die Mehrwertsteuer-Karte: 19 Prozent auf Windeln, 7 Prozent auf Trüffel. Wie absurd! Dass das Problem unterschiedlicher Steuersätze nicht konsistent zu lösen ist, ignorieren wir. Wenn das Prinzip durchgesetzt wird, beklagen wir den Einzelfall. Werden für den Einzelfall Ausnahmen gemacht, beklagen wir das Prinzip.

Eine ähnliche Situation existiert grade bei der Privatsphäre. Ist Streetview der Untergang des Abendlandes? Ja: unser Fassaden, unsere Adressen! Die Einbrecher, die SCHUFA! Nein: der Falk-Stadtplan mit Patentfaltung hat uns auch nicht die Privatsphäre geraubt. Soll Facebook wissen, wo ich bin? Klar: so können mich meine Freunde finden. No way: Facebook vermarktet die Daten und Dritte melden unseren Standort ohne zu fragen.

Okay: diese digitalen Medien sind so neu, im Analogen war es so viel einfacher. Da wusste man noch, was öffentlich und was sehr, sehr privat ist. Den Chef oder die eigene Oma nackt sehen? Nicht mal im Traum! Doch wenn ich arte glauben darf, ist das in finnischen Saunen Alltag. Polizeiberichte einsehen? Doch nur mit Presseausweis oder Anwaltsmandat, sagt der Deutsche! Ich bin Steuerzahler und ich muss kontrollieren ob King George nicht wieder die Regierung an sich reißt, sagt der Amerikaner! Selbst auf die Frage ob wir mit offenem oder geschlossenen Mund kauen, ob wir uns dezent räuspern oder herzlich rülpsen sollen, scheint keine universelle Antwort zu existieren.

Kurz gesagt: Was privat ist und was nicht, ist nicht gottgegeben. Wir alle haben zwar irgendwie dringenden Bedarf nach Feigenblättern – aber wir sind uns nicht sicher, ob wir damit lieber unserer Scham oder über unseren Kontoauszug verdecken sollten. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Antworten gefunden. Und da diese Antworten sehr, sehr verschieden sind, lassen sie sich nicht einfach auf eine globale Plattform übertragen.

Eine einigermaßen konsistente Antwort auch nur für unsere bundesdeutsche Gesellschaft zu finden, wird uns noch fünf, zehn Jahre beschäftigen. Mindestens. Und definitive Lösungen wird es auch nicht geben – im besten Fall angreifbare Gesetze und schon bald überkommene Konventionen.

Swift Slammer Justice

Gestern war ich wieder beim fabulösen Kölner Poetry Slam Reim in Flammen. Obwohl der Veranstaltungsraum jetzt bedeutend größer ist als zuvor, war es proppenvoll.

Etwas fand ich sehr bemerkenswert: die Art, wie die Slammer mit einem vermeintlichen Textklau umgingen. Einer der Teilnehmer – ein arbeitsloser Lehrer – hatte einen Text vorgelesen, im dem er schilderte wie toll doch die Welt sein könnte, wobei er sich in immer fantastischere Visionen hineinsteigerte, bei denen es doch meist wieder um Sex ging.

Nach dem Vortrag jedoch kam es zum Eklat. Jemand aus dem Publikum rief „Das ist geklaut“, „Das ist von Sebastian 23“, das Wort „YouTube“ war zu hören. Kurze Konfusion, der Moderator erinnerte sich an einen ähnlichen Text und rief ohne langes Federlesen zur Abstimmung auf. Von den fast 300 Zuhörern hob niemand seine Hand. Es war das erste Mal, dass ich einen Slammer mit Null Punkten von der Bühne gehen sah. Keine Diskussion, keine Textanalyse, keine Abmahnung – die Strafe der öffentlichen Demütigung wurde sofort vollstreckt. (Das klingt jetzt vilelleicht dramatischer als es ist: wer nicht Gefahr laufen will ohne Applaus von einer Bühne hinunterzusteigen, darf sie nie betreten.)

Erst in der Finalrunde wurde der Vorfall nochmal thematisiert. Michael Goehre schickte seinem Auftritt voraus, dass er einzelne Worte verwendet, die auch schon Mal Sebastian 23 in den Mund genommen habe. „Und dennoch ist das mein Text. Genau so wie das eben sein Text war.“ Kurzer Zwischenapplaus, dann weiter nach Schema F. In der Abschlussrunde stand der vermeintliche Textdieb wieder auf der Bühne und wurde mit den anderen Slammern mit Applaus verabschiedet.

Glaube, Liebe, Hoffnung

Es gibt ja dieses geflügelte Wort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ Da jeder von uns täglich in mehr oder minder schwerer Weise lügt, habe ich dem nie besonders viel Bedeutung beigemessen. Und dazu schaffen es manche Menschen immer wieder Vertrauen zu gewinnen, obwohl sie dem Publikum riesige Bären aufgebunden haben.

Ein Artikel im Lawblog zeigt, dass man das Ganze aus einem anderen Blickwinkel sehen kann. Wenn man jemandem vertraut, so investiert man sozusagen in ihn. Eine desaströse Lüge kann das Vertrauen erschüttern – aber so ganz möchte man sich von seinem Investment nicht verabschieden. Betrüger machen sich das zu Nutze, in dem sie ihrem Opfer erst eine falsche Prämisse verkaufen und darauf dann – Stein für Stein – ein ganzes Lügengebäude errichten.

Daher könnte man das Sprichwort umdrehen:

Wem man einmal glaubt, dem glaubt man auch ein zweites Mal.

Netzneutralität? Gesundheit!

Die Pressearbeit der Deutschen Telekom hat sich zur Verteidigung des Angriffs auf die Netzneutralität ein schönes Thema ausgesucht: Gesundheitsanwendungen über das Internet. Wer würde auch gegen Gesundheit sein wollen?

Wo könnte latenzfreie Verbindungen wichtiger sein als bei Herz-OPs, bei denen der Operateur ein paar Tausend Kilometer entfernt ist, wie es in den weiten Steppen Deutschlands immer wieder der Fall ist. Wo?

Richtig: im Finanzsektor. Hier wird Diskriminierungsfreiheit und Latenz so groß geschrieben, dass die New Yorker Börse die Länge der Netzwerkkabel überprüfen muss, damit niemand eine Millisekunde mehr herausschlagen kann.

Warum hat die Finanzbranche also noch nicht den Abbau der Netzneutralität verlangt? Sonst sind die Ackermänner doch gar nicht schüchtern, wenn es um Forderungen geht.

Nun, einen Hinweis bietet eine Pressemitteilung von Level3, die mich heute erreichte.

Frankfurt/Main, 17. August 2010 – Level 3 bietet ab sofort eine direkte Anbindung an BATS Europe, den Betreiber einer europäischen Multilateral Trading Facility (MTF). Damit erhalten Level 3-Kunden aus der
Finanzdienstleistungsbranche Zugang zum internationalen Tier-1 Glasfasernetz von Level 3 und profitieren von niedrigen Latenzzeiten bei der Ausführung von europäischen Aufträgen in Nordamerika.

„Bei Finanztransaktionen zählen häufig Bruchteile von Sekunden, deshalb haben wir unsere Lösungen so ausgerichtet, dass sie auch den extrem hohen Ansprüchen der Finanzindustrie genügen“, erklärt James Heard, President European Markets bei Level 3. „Die an BATS angeschlossenen Händler haben jetzt Zugang zu Lösungen, die neun von zehn Top-Banken im Tagesgeschäft nutzen. Dazu gehören der Handel mit geringer Verzögerung, skalierbare Hochgeschwindigkeitszugänge und die Datenübertragung auf einem Sicherheitsniveau, das die wichtigen Industriestandards erfüllt.“

Aber über dieses Netz kann man sicher keine Herz-OPs ausführen. Welches Herz ist auch so viel wert, wie eine Million Finanzobligationen, die man 20 Sekunden später für einen Cent mehr weiter verkaufen kann?

Netzneutralität für Fortgeschrittene

Drüben auf dem Planeten Rot-Grün gibt es grade eine Petition Unterschriftenliste Pro Netzneutralität. Und es geht um wichtiges:

Ein freies und barrierefreies Internet ermöglicht es, dass innovative Produkte und Dienstleistungen überall auf der Welt angeboten werden können. Dies fördert Innovationsprozesse.

Das ist zwar korrekt – ohne Netzneutralität hätten wir heute in Deutschland vielleicht ein stark ausgebautes BTX an Stelle des Internets. Niemand will das. Aber Netzneutralität kann man auf so viele Weisen interpretieren, dass letztlich auch René Obermann den Appell unterschreiben könnte. Machen wir es daher etwas konkreter: Statt dem gefälligen „Seid ihr für Netzneutralität?“ sollte man vielleicht spezifischer fragen:

  • Wer soll ein Internet „ohne staatliche oder wirtschaftliche Eingriffe“ durchsetzen, wer entscheidet wann sie von einem Provider gebrochen wurde? Die Bundesnetzagentur nach den Vorgaben von Enquette-Kommission, Bundestag und Wirtschaftsministerium? Eine amerikanische Regierungsbehörde?
  • Darf die Telekom Bandbreite für ihr T-Entertain-Multicast reservieren oder soll im Zweifel das Fernsehbild gestört werden, wenn ein besonders großer Download läuft?
  • Darf mein Voice-over-IP-Telefon meinem Provider signalisieren, dass ein Telefongespräch unfreundlicher auf Verzögerungen im Datenfluss reagiert als die E-Mail, die ich parallel abschicke?
  • Darf ein Mobilfunkprovider gesonderte Datentarife für das neuste iPhone erheben? (Zusatzfrage: wenn ihr dagegen seid, warum kauft ihr es dann massenhaft?)

Medienkompetenz, Lektion 2

Erstaunlich wenige Menschen wollen Dich tatsächlich anlügen. Das bedeutet aber nicht, dass sie die Wahrheit sagen.

Sie werten anders, sie priorisieren Informationen, die aus ihren Augen zu kurz kommen, sie schwimmen gegen den Strom. Und die Wahrheit – das ist ja schließlich mehr als die Summe der Fakten, oder? Aus der Wahrheit wird die einzige Wahrheit(TM).

In den allermeisten Fällen irren sich die Menschen aber auch schlicht.

Die Leaks der anderen

Whistleblower sind Vorbilder, Vorreiter der Demokratie, Helden – solange man selbst nicht betroffen ist. Auf der Antragsseite zur Piratenpartei-Vorstandssitzung von gestern zeigt sich diese Dualität sehr schön:

Antrag Nummer 1:

Der Bundesvorstand möge beschließen, Wikileaks Unterstützung anzubieten und dementsprechend auch eine Pressemitteilung rauszubringen.

Begründung

Die schwedische Piratenpartei bietet mittlerweile Unterstützung für Wikileaks an [1]. Würden wir dasselbe machen, würden wir einerseits auch das Projekt unterstützen und andererseits auch unseren Programmpunkt „Whistleblowing“ aktiv besetzen.

Wie die Unterstützung genau dann ablaufen soll/wird, müsste geklärt werden. Wichtig ist jedoch, dass wir nicht noch weiter warten können, bis das Rechtliche/Technische „Gebilde“ steht, wir müssen aktiv werden. Es reicht doch schon nur seine Unterstützung zuzusagen und entsprechend eine Pressemitteilung rauszubringen. Der Rest sollte dann allerdings nicht in Vergessenheit geraten!

Antrag Nummer 2:

Hier beantrage ich gegen den Beisitzer im Bundesvorstand Christopher Lauer, eine Verwarnung gemäß §6(1) Bundessatzung der Piratenpartei Deutschland auszusprechen.

Begründung

Christopher Lauer hat mich am 28. Juli um 21:14 in meiner Eigenschaft als Richter am BSG gebeten, ihm ein Urteil vorab zukommen zu lassen um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. Er sandte mir dazu eine Direktnachricht per Twitter mit dem Wortlaut „also vielleicht könntest du mir dann das Urteil leaken, damit wir wissen welcher Server am Start sein muss“.
Gerade für ein Mitglied des Bundesvorstandes ist es eine Ungeheuerlichkeit, entgegen besseren Wissens zu versuchen, ein Urteil vorab erhalten zu wollen. Er ist aufgrund dieses Verhaltens zu verwarnen.

Zukunftsplanung mit Ulfkotte

Wer ist Deutschlands führender Autor im Bereich „Städtebau & Stadtplanung“? Nun – laut Amazon ist es Udo Ulfkotte:

Autor und Leser sind aber augenscheinlich nicht an architektonische Debatten oder kommunaler Verwaltung interessiert. So schaltet Ulfkottes Verlag – der auch andere prominente und ähnlich rational argumentierende Autoren publiziert – offenbar auch Anzeigen bei Google:

Endlich Wut! Endlich Bürgerkrieg! Endlich!