Man wird doch wohl noch träumen dürfen…

Ein paar Menschen. von denen ich die meisten seit Jahren kenne und schätze, haben ein Internet-Manifest veröffentlicht, das aus 17 „Behauptungen“ besteht.

Einige der Aussagen lassen mir die Zehennägel hochrollen. Zum Beispiel diese:

16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.

Das Internet entlarvt gleichförmige Massenware. Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist. Die Ansprüche der Nutzer sind gestiegen. Der Journalismus muss sie erfüllen und seinen oft formulierten Grundsätzen treu bleiben.

Leider nein. Ja, das Internet entlarvt ganz gerne Massenware – das stimmt zweifellos. Aber es gibt ein großes Publikum, das Massenware liebt. Man kann 20 Mal entlarven, dass Stefan Raabs Sportveranstaltungen nur Dauer-Werbesendungen sind, sie finden immer noch ein Publikum.

Herausragend, glaubwürdig und besonders zu sein, ist leider kein Erfolgsrezept. Herausragend unglaubwürdige Angebote scheinen hingegen zu boomen – offline wie online.

Ein Beispiel: Michael Arrington – der zu den Erfolgreichen gehört, von dem wohl niemand ungesehen einen Gebrauchtwagen kaufen würde – lästert heute über ein vermeintliches Problem der New York Times. Deren Redakteur David Pogue schreibt, bloggt, podcastet überaus distanzlos über seinen Lieblings-Konzern Apple – und ist damit besonders erfolgreich ist. Die aktuellen deutschen Blogcharts wimmeln vor Blogs, die ihre Artikel niemals recherchieren, geschweige denn Fehler zugeben können. Vor ein paar Monaten konnte ich mir auf einer Fachkonferenz anhören, wie sich die Corporate-TV-Anbieter die Zukunft planen: Statt Werbepausen zu buchen, finanzieren BMW, Daimler Benz und Co einfach ihre Werbefilme in Überlänge und machen einen eigenen Internet-Sender daraus. Glaubwürdig? Wen juckt’s – guckt doch mal die tollen Bilder!

Lange Rede, kurzer Sinn: Der Satz müsste wohl heißen: „Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig oder besonders ist.“ Und da man jedem mit einem Publikum irgendeine Besonderheit nachsagen kann, ist das eine Binsenweisheit

Die traurige Realität: viele Leute wollen keine Fakten, Distanziertheit oder Objektivität. Glaubwürdig ist sehr oft der, der mir am besten nach dem Mund redet. Wer auf dem niedrigstem Niveau losschimpft, ist eine Edelfeder, ein Satiriker – sofern er gegen die richtigen lästert. Wer nur laut genug ist, wird ernst genommen. Nennen wir es: Qualität 2.0.

Twitterfreiheit

Viel ist über den Twitter-Nutzer geschrieben worden, der illegal den Polizeifunk abgehört und Nachrichten über eine Geiselnahme gleich getwittert hat. Und sich unverschämt auf die Pressefreiheit berufen wollte.

Nun kann man lange über Bürgerjournalismus und Ethikfragen debattieren – aber in meinen Augen ist das hier nicht der Skandal. Das Problem ist viel mehr, dass die Polizei heute immer noch unverschlüsselt sensible Informationen in die Gegend sendet. Dass der Täter die Informationen mit einem kleinen Funkscanner direkt mithört war in diesem Fall wahrscheinlicher als dass er es über Twitter mitliest. Unter der Ägide von Herrn Schäuble und seinen Vorgängern wurden Milliarden Euro verjubelt ohne bis heute zu einem vorzeigbaren Ergebnis zu kommen. Dass der Twitter-Nutzer mitgeschrieben hat, macht nur deutlich wie viele andere heimlich und unbehelligt mithören konnten.

Das Problem: Wenn Polizeireporter und Funkamateure nicht mehr mithören können, geht ein Stück Transparenz und Kontrolle verloren. Hier wäre es an der Zeit, dass Deutschland einführt, was woanders selbst verständlich ist: Einsatzberichte und Alarme so offen und frei wie möglich zu machen. Als in Amsterdam ein Flugzeug abstürzte, ging die offizielle Alarmmeldung der Feuerwehr ganz legal über Twitter, in den USA kann man in öffentlichen Registern nachschlagen, wann und wo denn ein Polizist im Einsatz war.

Vor Ort mit Google Maps

Auslandskorrespondent müsste man sein. Am besten in den USA. Eintauchen in die kulturelle Weltmacht – in den Straßen des Big Easy, auf den Avenues des Big Apple, unter Orangenbäumen in der Stadt der Engel. Ja, wenn man in Los Angeles wäre, könnte man jetzt zum Beispiel direkt vor Ort dabei sein, wie Gerichtsmediziner Plastiktüten mit Medikamenten aus einer Luxusvilla schleppen oder die Nase rümpfen über die Boulevardreporter, die das so aufmerksam beobachten.

Ja, man könnte sein wie Gregor Peter Schmitz, der über die Klatsch-Webseite TMZ schreibt und zu diesem Anlass gleich bei der Zentrale des Klatsches vorbei gefahren ist – während wir in Deutschland auf den billigen Plätzen saßen und das Ganze per Glotze und Internet verfolgen mussten:

Als die Gründer der Internet-Seite TMZ ein Büro suchten, wurden sie im Westen Hollywoods direkt am Sunset Boulevard fündig. Hier bietet sich dem jungen angesagten Traumfabrik-Menschen alles, was er braucht: noble Nightclubs wie die „Hyde Lounge“, schicke Sonnenbräunungsstudios – und Fitness-Center mit dem schlichten Namen „Crunch“, was frei übersetzt nahelegt, den eigenen Körper für die perfekte Figur ordentlich in die Zange zu nehmen.

Dieses Stimmungsbild konnte Schmitz nur einfangen, weil er eben vor Ort ist – am Puls des Geschehens. Warum er nicht aus dem Auto gestiegen ist, um mit den TMZ-Redakteuren zu reden und stattdessen nur ein paar Presseberichte zitiert, ist allerdings rätselhaft.

Aber was soll nur der Neid? Muss ich mich halt selbst nach L.A. begeben und mir das Ganze anschauen. Das TMZ-Büro, den Fitness-Club Crunch, die Hyde Launch und die vielen Sonnenstudios im verregneten Kalifornien.

Irgendwie habe ich ein Déjà-vu.

Von der Altersangabe bis zur Nekrophilie

Wer Lokaljournalismus lernt, erfährt recht schnell, dass einige Basisinformationen einfach dazu gehören. Zum Beispiel muss man alle möglichen Beteiligten immer nach dem Alter fragen. Das ist ein nettes persönliches Detail und erleichtert das Schreiben ungemein: Man kann zum beispiel „Die 18jährige“ statt „Die Täterin“ oder „Christiane F.“ schreiben – das sorgt für Abwechslung.

Bei wohl keiner anderen Zeitung hat sich die Altersangaben-Manie so weit fortentwickelt wie bei der BILD. Und so sehe ich grade auf der Titelseite von BILD.de diese tolle Meldung:

Neues Buch enthüllt
Jackie Onassis verführte Marlon Brando
Nach 45 Jahren kommt heraus: Jackie Onassis († 64) verführte Schauspieler Marlon Brando († 80)! Das enthüllt ein neues Buch.

Da die Online-Redaktion bei beiden Protagonisten das Todesalter in Klammern schreibt, scheint es sich um eine Liaison im Jenseits zu handeln. Oder einen besonders seltenen Fall beidseitiger Nekrophilie. In beiden Fällen gilt: das will ich nicht wirklich lesen.

We don’t need no expertise

Adam Davidson von Planet Money hat ein interessantes Interview gegeben:

I mean, I think it’s a more trustworthy journalism if the journalist reveals their process of discovery. I don’t think it weakens our authority. I think it strengthens our authority ’cause it’s closer to the actual truth, and it’s closer to the world that our audience experiences on a day-to-day basis. They know we don’t, we’re not experts in that sense, and frankly, the expert we quote isn’t an expert in that sense — that he’s definitely right, or he can speak with objective truth about things.

Im Internet sind alle Surfer grau

Die Empörung ist wieder groß:

Unbekannte Internet-Surfer haben die Opfer des Amoklaufs von Winnenden und Wendlingen verhöhnt.

Und ja: es war mal wieder krautchan, die mehr oder weniger gelungene Kopie von 4Chan. Interessanterweise sieht sich keiner der Kollegen in der Lage seinen Lesern zu vermitteln, was krautchan denn nun ist. Würde man die Seite als „Forum für meist geschmacklose Witze“ bezeichnen, wäre die Luft aus der Meldung raus. Der Neuigkeitswert wäre so groß wie die Schlagzeile „Franz-Josef Wagner hat wieder was unglaublich Borniertes geschrieben“. Nach der rudimentären Beschreibung des Bildes gehe ich zudem davon aus, dass nicht die Opfer von Winnenden, als vielmehr bild.de und Angela Merkel Ziele der „Verhöhnung“ waren.

Interessant ist der Kontext. So schließen die Stuttgarter Nachrichten die Meldung mit einem Absatz über die 60 Beschwerden, die beim Presserat eingegangen sind. Wohlgemerkt: nicht über „das Internet“, sondern über die besten Adressen des deutschen Journalismus.

Die Süddeutsche schließt auch mit einem ganz anderen Thema:

Unterdessen hat EU-Kommissarin Viviane Reding den Umgang einiger Medien mit dem Amoklauf in Winnenden scharf kritisiert und mehr Datenschutz im Internet gefordert. „Ich glaube, dass zumindest die Online-Profile von Minderjährigen unbedingt standardmäßig als ‚privat‘ eingestuft und für Internet-Suchmaschinen unzugänglich sein müssen“ […]

Auch hier wird der Eindruck vermittelt, dass „das Internet“ irgendwie Schuld wäre. Das Gegenteil ist hier der Fall: StudiVZ-Bilder sind zum Beispiel schon immer für Internet-Suchmaschinen unzugänglich, einige Medien dringen aber gezielt in diesen privaten Bereich ein.

Nachbrenner des Sensationsjournalismus?

Es ist fast wie immer. Wenn rudelweise Journalisten über eine menschliche Tragödie berichten, kommen anschließend die guten Journalisten, die vorführen wie böse Journalisten arbeiten.

Ich frage mich – und ich bitte das wirklich als Frage zu verstehen: Ist das die Antithese oder die Fortsetzung des Sensationsjournalismus? Wenn das ZAPP-Team Anwohner befragt und die Kameraleute vor dem Friedhof filmt, gehören es dann nicht auch zu dem Rudel dazu? Ist dieses Lästern über „die Journalisten“ nicht so indifferenziert wie die Lästereien über die Killerspieler oder über die Schützenvereine? Wird hier wieder nur ein vermeintlich Schuldiger präsentiert, auf den sich die Empörung konzentrieren kann?

Mir fehlt ein wenig die Alternative, der Lösungsansatz. Was ZAPP sehr richtig anspricht: viele Journalisten sind frei, stehen unter Druck. Das Hauptproblem in Winnenden – so erscheint es mir jedenfalls nach dem Zapp-Bericht ist ein logistisches: zu viele Journalisten in einer zu kleinen Stadt. Kann man das irgendwie anders organisieren? Soll man die Vor-Ort-Berichterstattung einigen Agenturjournalisten überlassen und die anderen schreiben ab?

Was man auch sehen muss: die Grenzverletzungen werden belohnt – die Zuschauer-, Klick- und Auflagenzahlen explodieren. Verkauft sich das Nachrichtenmagazin mit dem Bild des Serienmörders besonders gut? Ich würde darauf wetten. So wie sich die Empörung über die Journalisten sicherlich auch gut verkaufen lässt.