Openleaks – der Flicken an der falschen Stelle?

Derzeit tobt ja der Kampf Openleaks versus Wikileaks, Daniel versus Julian durch alle Gassen. Dabei gehen nicht nur die Inhalte der berüchtigten „cables“ in Vergessenheit, sondern auch das Leaken selbst, das Veröffentlichen von Geheimnissen, die Kontrolle der Macht ist aus dem Blickfeld geraten.

Constanze Kurz hat es bei einer Veranstaltung der Böll-Stiftung richtig gesagt: Ohne eine Organisation wie Wikileaks wären die Depeschen der US-Diplomaten wohl nie so groß veröffentlicht worden. Die meisten NGOs und Zeitungen wären vor dieser gewaltigen Aufgabe zurückgeschreckt. Oder kurzscher ausgedrückt: „Also den Arsch in der Hose muss man erst mal haben.“

Für fast alle anderen Leaks gilt aber: dazu hat es Wikileaks nicht gebraucht. Zumindest im Prinzip nicht. Denn wir feiern Jahrestag um Jahrestag wieder die Erfindung einer Technik, mit der quasi jeder Dokumente weltweit veröffentlichen kann: das Internet. Das World-Wide-Web war nicht als Lesemedium gedacht, sondern sollte vor allem das Publizieren vereinfachen. Wenn Dokumente tatsächlich so brisant sind, dass sie sich selbst verbreiten reicht es aus, die Dokumente einem einigermaßen bekannten Blogger in die Hand zu drücken, auf Google zu stellen oder sogar – wenn es die Kürze erlaubt — in Webcomics einzuschmuggeln.

De facto hat Wikileaks schon vor über einem Jahr das Publizieren eingestellt — und trotzdem ging das Leaken weiter. ACTA-Dokumente, Bankenskandale Geheimberichte der Bundeswehr fanden ihren Weg an die Öffentlichkeit. Für 99,9 Prozent der Fälle gilt: ohne Wikileaks geht es ohne Probleme weiter wie bisher. Wikileaks war nicht die Kommunikationsrevolution, sondern nur das Symptom, eine Entwicklung die eigentlich unvermeidbar war. Halbe Bibliotheken passen auf Daumennagelgröße, das IT-Sicherheitsverständnis der Mächtigen ist unterentwickelt und die Skandalmaschinerie der Medien verlangt nach ständig neuer Nahrung.

Nur um nicht missverstanden zu werden. Leaken ist für Informanten nach wie vor mit hohen Risiken verbunden — ich möchte das nicht klein reden. Aber das Risiko ist zu managen. Beziehungsweise: der Leaker macht sich nicht nur durch die simplen Fehler bei der Datenübermittlung angreifbar. Insofern ist es zwar ganz interessant und ehrenvoll, dass Daniel Domscheit-Berg mit OpenLeaks einen Kommunikationskanal plant, der Informanten unterstützen will, indem er anonyme Kommunikation absichert und Metadaten entfernt.

Aber das deckt eben nur einen sehr kleinen Teil des Leakens ab. Die mutmaßliche Quelle von Wikileaks wurde verhaftet, weil er sich auf anderen Kanälen bemerkbar machte. Ein Whistlerblower, der allein in seinem Kämmerlein sitzt, Dokumente in einen toten Briefkasten wirft und keinerlei Rückmeldung erhält, tendiert dazu sich auf andere Weise sichtbar zu machen.

Zudem: nur in seltenen Fällen ist eine Akte ohne Kontext oder andere begleitende Dokumente schon ausreichend, einen Skandal aufzudecken. Selbst wenn man als Bestandteil eines Systems Informationen zuordnen kann – außerhalb der Organisation sind im Zweifel nur wenige Menschen fähig, die richtigen Zusammenhänge zu sehen. Oder gar die Irrtümer eines Whistleblowers fachgerecht zu sehen. Wikileaks selbst hat es demonstriert: die Redakteure des Collateral Murder“-Videos haben geflissentlich die Waffen der angeblichen Zivilisten am Boden übersehen, haben ignoriert, dass es bereits ein Buch gab, dass die Geschehnisse an diesem Tag in Baghdad beschrieben hatte. Die Bilder waren stark und emotional, der Kontext komplett falsch. Auch so kann man die öffentliche Meinung beeinflussen und sogar Geschichte schreiben.

Lange Rede, kurzer Sinn: ich glaube nicht, dass es derzeit einen Mangel an Publikationsmöglichkeiten gibt. Was fehlt: Organisationen, die Kontexte herstellen können, die es sich erlauben auch Mal 15000 Seiten Aktenmaterial durchzuarbeiten ohne einen Skandal zu finden oder daraus zu konstruieren. OpenLeaks will dies nicht sein. Zusammengesparte Redaktionen haben es schwer, und die öffentliche Aufmerksamkeit ist durch die fortwährende Skandal-Kanonade schon fast taub geworden.

Was benötigt wird ist: guter Journalismus.

Lamestream Media

In diesen Tagen ist es so einfach zum Medienkritiker zu werden: jeder Fernsehsender, der nicht 24 Stunden am Tag vom Gemetzel in Kairo berichtet, ist ein Relikt vergangener Tage, versündigt sich am Erbe der friedlichen Revolution in der DDR, die wir nun am Bildschirm nochmal nacherleben wollen. Live. Jeder Kommentar, jede Überschrift muss die unverbrüchliche Treue mit den Regimegegnern ausdrücken — wer immer sie sein mögen — und den Westen für seine Unterstützung Mubaraks verdammen.

Ich muss übertreiben – sicherlich. Oder etwa nicht? Zum Beispiel hat der allzeit streitsame Jens Best bei tagesschau.de einen Propaganda-Stoßtrupp des ägyptischen Regimes geortet:

Gemeint war dieser Beitrag, in dem der Autor zum Beispiel dies schreibt:

In Kairo, Suez und Alexandria gilt eine verlängerte Ausgangssperre, die um 15.00 Uhr nun eine Stunde früher beginnt und bis morgens 8.00 Uhr andauert. Diese Maßnahme wird von Beobachtern als Bestätigung für den Verdacht gewertet, dass die Plünderungen und das Chaos der vergangenen zwei Tage vom Regime bewusst verursacht worden waren, um die Demonstranten zu schwächen.

Jens Best und viele andere Twitterer haben das wohl nicht gelesen – sie nahmen die Überschrift, ergänzten sie durch ein paar Worte aus ihrer Fantasie und erregten sich. Aber gut, was will man von dem 140-Zeichen-Schnell-Schnell erwarten?

Wenden wir uns also der FAZ zu, in der Jochen Hieber den öffentlich-rechtlichen Sendern ein miserables Zeugnis ausstellt.

Nein, genau das hatten wir eben nicht – knapp elf Minuten hatte Mubaraks Rede gedauert, sie war für den Moment das Ereignis schlechthin und fand just während der Sendezeit des „Journals“ statt. Wir aber sind, Goethe abzuwandeln, eben nicht dabei gewesen, nicht in der ersten, der zweiten oder wenigstens der letzten Reihe. Dass auch die „Tagesthemen“ der ARD, die am Dienstag um 22.30 Uhr begannen, nicht in der Lage waren, die Rede ausführlich (am besten: ganz) zu dokumentieren und deren Wortlaut einer ersten Interpretation zu unterziehen, macht die Sache vollends zum Trauerspiel. Wovon erzählt es?

Nun — es erzählt davon, dass Herr Hilber seine Fernbedienung verlegt hat oder sie nicht bedienen kann. Ich wunderte mich nämlich wie er über den Mini-Ausschnitt der Mubarak-Rede im heute-journal – war aber nicht wirklich erstaunt oder sauer. Stattdessen schaltete ich auf Phoenix um, wo ich mit einigen Minuten Verzögerung die Ansprache in voller Länge sah. Ich kam zum Schluss, dass „das Ereignis schlechthin“ eine Ansammlung von Phrasen war, die nur eine wesentliche Information enthielt: Mubarak will bis September an der Macht festhalten.

Diese Staatspropaganda in voller Länge vorzuspielen gehört in meinen Augen nicht zu den vorrangigen Zielen im Programmauftrag der GEZ-finanzierten Sender, wenn mit eben diesen Gebühren bundesweit ein Nachrichtenangebot finanziert wird, das mit einem Druck auf die Fernbedienung zu erreichen ist. Mit der gleichen Berechtigung könnte man kritisieren, dass der FAZ-Artikel nicht das Nachtprogramm abdeckt. Redaktionsschluss oder Schlaf sind in diesen Zeiten der Moment-Ereignisse doch irrelevant geworden.

Die Ereignisse in Ägypten zeigen, wie viel Macht Informationen und damit auch „die Medien“ haben. Diese Macht verlangt nach Kontrolle und Kritik. Haben die Medien im Verbund mit den westlichen Regierungen ein Unrechtsregime gestützt? Sind die Journalisten so gefangen im Schema von „Die Regierung hat gesagt, die Opposition erwiderte“, dass sie vergessen, dass sie über echte Menschen, über fundamentale Umstürze berichten? Wie kann die ARD sein Korrespondentennetz effektiv nutzen, wenn das Publikum bei Revolutionen 24/7-Berichterstattung fordert, aber beim Weltspiegel oder den Hintergrundberichten von Deutschlandradio gelangweilt wegschaltet?

All dies sind legitime Fragen. Um sie zu beantworten, muss man jedoch hinsehen, hinhören und nachdenken.

P.S. Bei mir zu Hause liegt die ARD auf Programmplatz 1, arte auf der 2 und Phoenix auf der 3. Medienkompetenz fängt zu Hause an.

P.P.S.: Nach einem weiteren FAZ-Angriff schlägt ARD-Aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke zurück:

Wir hätten die Rede von Hosni Mubarak am Dienstag live übertragen sollen, heißt es da. Meint der Autor das ernst? Das wäre so als wenn wir jetzt jede Rede von Fidel Castro live zeigen würden. Es könnte ja die letzte sein. Was würden wir den machen, wenn Husni zwei Stunden lang Parolen absondert – draufbleiben, weil’s so toll ist? Unser Job als Journalisten ist es, zu bewerten, zu gewichten, auszuwählen und nicht einfach laufen zu lassen.

The Daily – Keine Zeitung für mich

Heute wurde mit viel Pomp die neue Super-Duper-Zeitung für das iPad vorgestellt: „The Daily“. Nach der Vorführung glaube ich nicht, dass dieses Medium die Antwort auf irgendeine Frage ist, die jemand zur Zukunft des Publizierens gestellt hat.

Zunächst einmal präsentierten Murdoch & Mitarbeiter, zwei ach so tolle Features: schwenkbare Panorama-Aufnahmen und Sportlerköpfe, die sich plötzlich von unten in das Layout schieben. Das fand ich schon schlimm, als sich Netscape an DHTML versuchte. Erinnert sich noch jemand an die Schmetterlinge, die plötzlich über jede zweite Webseite flogen? Es war schrecklich. Die 3D-Ansichten kamen ein paar Jahre später, verlangten die Installation irgendeines Plugins. Das lag dann bis zur Neuinstallation auf der Festplatte lag ohne je wieder genutzt zu werden.

Die Redaktion von „The Daily“ hat zwei Alternativen: Entweder baut sie Geschichten um dieses tolle Rundumblick-Feature herum. Das erfordert einiges an Personalaufwand: Mindestens zwei Leute müssen um die Welt reisen, um wirklich spektakulären Bilder zu bauen und dazu eine spannende Geschichte zu erzählen. Wahrscheinlicher ist die Lösung: Murdochs Mannen bedienen sich bei irgendeinem Katalogs fertiger Panoramen und bringen die unter wo es grade rein passt. Oder auch nicht. Wer das Wort „Symbolfoto“ hört, weiß welches Ungemach solche fest installierte Features haben – wenn man nichts findet, was in den redaktionellen Kontext passt, nimmt man halt irgendwas.

Die Fixierung auf das Interface scheint einem der Präsentatoren direkt aufs Hirn geschlagen zu sein, indem er die unglaublich guten Bilder aus Ägypten lobt, ohne mit einem Wort auf den Inhalt einzugehen – eine Revolution als herrliche Staffage für das neue Medium. Brilliante Bilder sind wichtig, ein twitternder Reporter unverzichtbar, Journalismus jedoch spielt nur eine Nebenrolle. Jonathan Price lässt grüßen.

Der Preis ist mit 99 Cent pro Woche sehr, sehr günstig. Oder soll ich schreiben: zu günstig? Die exklusiv zusammengekaufte Redaktion muss über Werbung finanziert werden, die man möglichst nicht überblättern kann und gegen die auch kein Adblocker hilft. Ein großer Teil der Einnahmen wird — wenn man sich an Projekten wie der Second-Life-Zeitung Avastar orientieren kann – mittelfristig von App-Entwicklern kommen, die bei „The Daily“ werben, beziehungsweise, die von „The Daily“ direkt verlinkt werden. Wie in New York betont wurde, wird die iPad-Zeitung bei Apps einen publizistischen Schwerpunkt setzen – mit Direktanbindung an Apples App Store. Provisionseinnahmen treffen auf journalistische Unabhängigkeit.

Ich will nicht ausschließen, dass „The Daily“ DAS Medium für tolle Reportagen sein wird, die angeblich Mal vor 20 Jahren im Playboy gestanden haben mögen. Zum Produktstart haben die Verantwortlichen aber nichts gezeigt, was diese Hoffnung nähren würde.

Irrsation

Genie und Wahnsinn liegen nah, genau wie Sensation und Irrsinn. Besonders auf Bild.de.

Auf der einen Seite die Aussage eines sachverständigen Zeugen, auf der anderen Seite total inaktuelle Erkenntnisse über eine ganz und gar fiktionale Theorie. Links: Irrsinn. Rechts: Sensation.

Ferndiagnose einer Ferndiagnose

Es wird ja viel Mist zu Wikileaks geschrieben. Es ist deprimierend mit anzusehen, wie eine so komplexe Story in Banalitäten und Info-Schnippsel zerteilt und über 24-Stunden-Infotainment-Kanäle in die Bevölkerung gepumpt wird. Man kann die größten Skandale offenbaren – und trotzdem ändert sich nichts an dieser korrupten Welt.

Das hat auch Arno Frank mitbekommen und schildert uns die vielen Unzulänglichkeiten der Berichterstattung – angefangen von dem peinlichen Interview bei CNN bis hin einem bitter-bitter-bösen Artikel der New York Times, über den sich Julian Assange medienwirksam mokiert hat.

Er lebt, wenn er nicht in wechselnden Wohnungen auf einem Sofa übernachtet, in einer einsamen Hütte in Nordschweden. Er war Hacker. Er ist ein egomanischer Tyrann. Er wechselt seine Mobiltelefone wie andere Männer ihre Hemden. Er bezahlt nie mit Kreditkarte, sondern immer nur bar, und das Geld leiht er sich von Freunden.

[…]

Genau so las man’s in der New York Times, die ihrer Berichterstattung zu den Enthüllungen von Wikileaks ein Fernpsychogramm von Julian Assange beistellte. Um zu ihrem Fazit zu kommen, dass der Typ ein gefährlicher Irrer ist, mussten Journalisten nicht einmal bei einem Psychiater einbrechen. Wikileaks tut, was eigentlich Aufgabe des Journalismus wäre. Darauf reagiert der Journalismus gereizt und gekränkt.

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Frank den New York Times-Artikel ebenfalls nur ganz aus der Ferne gelesen hat. Denn von einer Ferndiagnose kann absolut keine Rede sein: Reporter der Zeitung haben Assange – zumindest kurz – in London begleitet, sie haben viele Menschen aus dem Umfeld von Wikileaks interviewt, sie haben ihre Büros in Kabul und in Washington zu Rate gezogen. Das ist es, was Journalismus, was Recherche ausmacht. Welche Arbeit hat sich Frank gemacht? Nun, er hat den New York-Times-Artikel angesehen und möglichst irreführend wiedergegeben.

Zum Beispiel: was schreibt die New York Times über die Ermittlungen in Schweden gegen Julian Assange? Bei Frank liest sich das so.

Er hat zwei Frauen vergewaltigt. Okay, sexuell belästigt. Na gut, dann eben nur belästigt. Oder auch nicht.

Die New York Times hat Assange also unbelegte Vorwürfe gemacht und sich dabei aber in Widersprüche verstrickt. Wirklich?

He is also being investigated in connection with accusations of rape and molestation involving two Swedish women. Mr. Assange has denied the allegations, saying the relations were consensual. But prosecutors in Sweden have yet to formally approve charges or dismiss the case eight weeks after the complaints against Mr. Assange were filed, damaging his quest for a secure base for himself and WikiLeaks. Though he characterizes the claims as “a smear campaign,” the scandal has compounded the pressures of his cloaked life.
[…]
Within days, his liaisons with two Swedish women led to an arrest warrant on charges of rape and molestation. Karin Rosander, a spokesperson for the prosecutor, said last week that the police were continuing to investigate.

Man kann dies als nüchterne Zusammenfassung der Ereignisse lesen. Man kann aber auch nach Reizwörtern suchen und daraus einen Angriff auf Assange stricken. Ich weiß schon, welche Alternative ich als „tabloid“-Journalismus bezeichnen würde.

PS: Wer den kritischen Journalisten in sich entdecken will und die Rolle der Medien analysieren will, kann zum Beispiel den Schwerpunkt der Berichterstattung in verschiedenen Medien vergleichen. Als am Freitagabend die Sperrfrist von Wikileaks zu den Irak-Akten endete, kamen zum Beispiel Al Jazeera und CNN zeitgleich mit Sonderberichten heraus. Während sich der arabische Sender in seinem englischsprachigen Programm vor allem Einzelschicksalen widmete, die durch die US-Militärakten enthüllt wurden, brachte CNN eigentlich nur Berichte über die Berichterstattung. Was sagt das Pentagon? Was sagt der Mann auf der Straße – und das zu einem Zeitpunkt, wo niemand Gelegenheit hatte in das Material zu schauen. CNN selbst hätte die Gelegenheit gehabt – und hat die Inhalte zu Gunsten einer Sprechblasen-Berichterstattung ignoriert.

Weitere spannende Frage: Führt die Publikation zu einer Stärkung der Anti-Irakkriegs-Bewegung oder sind sie eher Antrieb für diejenigen, die einen Krieg gegen den Iran fordern. Denn sobald die Rechtsausleger an der Wikileaks-Bedrohung abgearbeitet haben, dann werden sie in den 400000 Akten viel Material finden, was sie in ihrer Überzeugung bestärken wird, dass der Iran eine unmittelbare Bedrohung sei.

PS 2: Den Cameo-Auftritt von Assange bei dem Comedy-Format Rap News finde ich lustig – er ist aber absolut unvereinbar mit seinen Beschwerden über die Personalisierung der Wikileaks-Berichterstattung und dem „tabloid journalismus“. Natürlich wird der Kampf um Wikileaks in den Medien geführt und natürlich bedient sich die US-Regierung der US-Medien, um die Glaubwürdigkeit von Wikileaks anzugreifen. Journalisten, die sich so instrumentalisieren lassen, betreiben schlechten Journalismus. Für Assange aber gibt es wohl nur ein Kriterium für guten Journalismus: er muss schreiben, was Assange will. Und alleine das.

Rettung für den physischen Journalismus

Alle haben es gewusst, jetzt ist es amtlich von der Financial Times gedrucktpixelt: die Verlage bremsen sich selbst aus, wenn es ums Digitale geht.

Ja, wie auch sonst? Die Trennung von der physischen Welt, der Quantensprung zur die Information mit der man weder Blumen noch frische Fische einwickeln kann – das überfordert die Internetausdrucker. Das iPad mag als goldener Content-Käfig die Illusion der Druckerpresse aufbauen, aber wieso sollte man dem Ganzen trauen? Steve Jobs, unser Retter! Messias! Teufel! Steve Jobs, wir trauen Dir nicht! Wir wurden von Google verraten, warum solltest es bei Dir besser sein?

Liebe Verlage, ich habe eine Idee. Wir retten den physischen Part des Journalismusbevertriebs, revolutionieren die Geolokalisation und die Geeks rennen uns die Türen ein. Sicher – es wird einige Milliarden kosten, aber ihr habt über Jahrzehnte Traumrenditen erwirtschaftet. Schließlich konnten die Atomstrom-Produzenten den Mobilfunk nach Deutschland bringen, warum ihr nicht eine neue Lese-Kultur?

Die Idee, die mir vorschwebt ist ganz einfach: ein Cafe. Nein: Tausende! Überall in Deutschland. Ich liebe es, am Wochenende ins Cafe zu gehen und in den herumliegenden Zeitschriften zu schmökern. Stunde um Stunde verrinnt, wenn die FAZ, die SZ, der Kölner Stadt-Anzeiger ausliegen. Gastronomiebetriebe mit Lesezirkel-Abo meide ich, ich will den unmittelbaren Zugang zu dieser archaischen Leseform, die Papierzeitungen nun Mal sind. Brauereien haben über Jahrzehnte in Kneipen investiert, warum sollten Verlage nicht in Cafes investieren? Selbst in Thalia-Buchhandlungen kann man sich die Spiegel-Bestsellerliste bei einem staubigen Cappucino durchlesen.

Jetzt kommt der Clou. In den Lese-Cafes – die Markenanwälte finden sicher einen eingängigen Namen, der für ein paar Hunderttausend Euro zu haben ist – liegen nicht nur die Verlagsprodukte aus. Sie sind auch ein Rückkanal. Ich weiß: alle Anstrengungen im letzten Jahr zielten darauf, den kleingliedrigen Lokaljournalismus zu verbilligen und zu banalisieren: ein paar Redakteure in der Zentrale – das sollte reichen. Doch die unterbezahlten Amateure vor Ort – sie kaschieren die Leere nicht wirklich.

Hier kommt der revolutionäre Aspekt meines Konzepts. Denn der Kellner in meinem Content-Cafe ist nicht nur der unmotivierte Koffeindistributor, der zwischen Kaffeemaschine und Trinkgeldannahme hin- und herscharwenzelt. Er ist ein Content-Agent. Sprich: er hat vorher die Verlagsprodukte studiert und weiß, dass in meiner Nachbarschaft ein Mann niedergestochen schwere Stichverletzungen hatte. Mit kurzen Fragen erkundet er meine Interessensgebiete – eventuell gebe ich ihm auch einfach mein Facebook-Profil – und er serviert mir die Nachrichten aus der Nachbarschaft brühwarm, während der Capuucino kalt wird. Aber das ist mir egal – ich greife gerne zu der Zeitung, die er mir mit der Tasse gereicht hat und versinke in der Welt der journalistischen Erzählung. Objektiv. Überparteilich. Und unterhaltsam wie ein Sack Flöhe. Und pro Tasse Koffein gibt es 30 Cent für FAZ, SZ und De:Bug. An dem Bionade-Umsatz werden Neon und Bravo beteiligt.

Und nun zum zweiten Twist in meinem Pitch: in jedem der Cafes sitzt ein Lokalredakteur. Keine Bange – die meisten werden froh sein den Newsdesks zu entkommen – und werkt so vor sich hin. Um authentisch zu sein, muss der Journalist heute nicht Mal mehr Kette rauchen oder betrunken sein: Kaffee, ein Laptop und Internetzugang reichen aus, um voneinander abzuschreiben. Für eigene Recherchen sollte auch ab und zu ein Croissant drin sein oder gar ein frischer Salat.

Der Redakteur vor Ort dient als unmittelbarer Rückkanal, eine Revolution des Verlagswesens. Wir müssen nicht warten, bis ein Herr Sauerland zurücktritt – der Cafedakteur hört von den umgebenden Tischen, dass der Sündenbock gefunden ist und schreibt das auf. Eine Geo-Information dazu und die Content-Agents in den Cafes der Umgebung können die Botschaft gleich weitertragen. Und falls sie nicht anschlägt, schreibt der Cafedakteur halt was anderes.

Natürlich darf der Leser auch andere Vorschläge machen, Rechercheaufträge erteilen. Warum soll er auch googlen, wenn das ein Profi übernimmt. Über Jahre wurde Medienkompetenz jedes Einzelnen gepredigt. Ein Irrweg, wie wir heute wissen: das Erfolgsprinzip unserer Gesellschaft ist die Arbeitsteilung – wenn also nicht mehr jeder seinen Grünkohl selbst anbaut, wieso sollte jeder wissen, wie der Ministerpräsident seines Bundeslandes heißt. Die Cafedakteure sind Infoarbeiter an vorderster Front und werden den Part gerne übernehmen, den sie schon immer spielten: besser wissen und belehren. Und vielleicht können sie nebenher ein paar Volkszahnbürsten verkaufen.

Ach ja: das Leistungsschutzrecht kommt natürlich trotzdem. Denn schließlich können die Leute auch zu Hause Kaffee und Bionade trinken. Und das wollen wir doch nicht einreißen lassen. Zur Sicherheit sollten wir auch das Mitführen von Computern und computer-ähnlichen Geräten in Cafes verbieten.

s—

Das Wall Street Journal berichtet, dass bei Goldman Sachs neue Nüchternheit einkehren soll: E-Mails und Instant-Messenger-Nachrichten werden in Zukunft nach bösen Schimpfwörtern durchsucht. Hintergrund: die Großbank geriet in schlechtes Licht, weil ein Angestellter in E-Mails recht deutlich schrieb, was er seinen Kunden da verkaufte.

Die WSJ beschreibt es so:

That means all 34,000 traders, investment bankers and other Goldman employees must restrain themselves from using a vast vocabulary of oft-used dirty words on Wall Street, including the six-letter expletive that came back to haunt the company at a Senate hearing in April. „[B]oy, that timberwo[l]f was one s— deal,“ Thomas Montag, who helped run Goldman’s securities business, wrote in a June 2007 email that was repeatedly referred to at the hearing.

Ja, auch das Wall Street Journal wagt es nicht, das böse Wort auszuschreiben. Stattdessen steht dort „s—“. Eine einfache Google-Abfrage zeigt: das verpönte Wort heißt „shitty“. Das Wall Street Journal wagt es nicht, seinem in der Regel sehr erwachsenen Publikum diese sechs Buchstaben zu nennen.

Wo die Schwelle beim WSJ liegt zeigt sich ein paar Absätze später:

The new edict—delivered verbally, of course—has left some employees wondering if the rule also applies to shorthand for expletives such as „WTF“ or legitimate terms that sound similar to curses.

Abkürzungen sind erlaubt. Obwohl jeder weiß, dass da ein „fuck“ steht, steht es ja eben doch nicht da. WTF? Ach nein: O tempora, o mores. Wenn die Verschämtheit so groß ist, ist die Lust an Informationen, der Respekt vor der Intelligenz der Leser eben sehr klein.

Die von mir sehr geschätzte Sendung Planet Money begibt sich übrigens auf die Suche nach Ersatzbegriffen.

Berufsbild: Moderator

Ob vergoldete Milchbärtchen oder Merkeleien – alle Welt regt sich auf, wenn Moderatoren gegen journalistische Standards handeln. Was auch immer das heißen mag.

Vielleicht sollten wir den veralteten Begriff des „Moderators“ abschaffen. Nennen wir sie stattdessen „Berufs-Plapperer“. Das vermindert den Druck doch enorm.

P.S. Um nicht missverstanden zu werden: gekonntes Plappern ist eine hohe Kunst, an der ich immer wieder scheitere.