Hot Ones

Wenn Schauspieler einen neuen Film oder eine neue Serie herausbringen, müssen sie auf eine PR-Tour gehen. Wir wissen alle, wie das so ist. Denn wir haben „Notting Hill“ gesehen. Weltstars wie Julia Roberts reisen durch die Metropolen der Welt, schreiten bei der Filmpremiere über den roten Teppich und werden dann in einem anonymen Hotelzimmer durch eine Reihe von fünf, zehn oder zwanzig nichtssagenden Interviews geschleift. Dann Sex mit Hugh Buchhändler, Alec Baldwin taucht auf, Yadda, Yadda, Yadda. Nächster Film.

So war es zumindest einmal. Zumindest fast so. Doch das Filmgeschäft hat sich geändert. PR-Touren sind inzwischen so wichtig geworden, dass man einen Weltstar wie Kevin Spacey nur für eine Szene verpflichtet, damit er nachher bei Stephen Colbert auftritt und für den Film wirbt. Zum anderen ist aus dem anonymen Hotelflur mit den Fließband-Interviews ein regelrechter Hindernislauf geworden. Die Stars müssen sich nicht mehr nur zu langweiligen Interviews bereiterklären. Stattdessen werden sie durch einen ganzen Zirkus von PR-Events geführt. Sie geben in der Garage eines dauermasturbierenden Comedians Interviews, weil ja Obama auch schon da war. Sie müssen mit Jimmy Fallon in New York City dämliche Quiz- und Tanzspiele absolvieren, in L.A. mit James Corden Delphinhoden essen und dann auch noch über den Atlantik zu Graham Norton. Und wenn sie ganz, ganz viel Pech und einen guten PR-Manager haben, werden die Stars in ein kleines Studio in New York geschickt, wo die YouTube-Serie Hot Ones aufgenommen wird.

Das Konzept der Sendung ist einfach: Der hoodie-tragende Hipster-Moderator Sean Evans interviewt einen Star — Schauspieler, Comedian, Rapper, whatever — während beide zusammen Hot Wings essen — also gebratene Hähnchenflügel mit zunehmend scharfer Soße. Und wenn Sean Evans „hot“ sagt, meint er es auch. Den von ihm interviewten Stars bricht unweigerlich nach einigen Minuten der Schweiß aus. Manche schreien vor Schmerz, andere brechen in Tränen aus. Ein Gast hat sich auch vor laufender Kamera in die Hosen — Verzeihung — geschissen. Und dennoch liebe ich die Sendung. Denn es ist eine der besten Interview-Shows von heute.

Der Mythos der Sendung ist, dass die Interviews bei Hot Ones wegen des scharfen Essens so gut gelingen. Evans hat das Phänomen jahrelang in Dutzende Mikrofone erklärt: Wenn die Prominenten mit ihrer physischen Qual beschäftigt sind, werden sie aus dem Konzept geworfen und vergessen ihr jahrelanges Medientraining, mit dem sie sonst jede kritische oder interessante Frage abperlen lassen können.

Das mag so sein, aber es ist maximal die halbe Wahrheit. Das wahre Erfolgsrezept ist: Die Show nimmt nicht nur ihre Gäste ernst, sondern auch ihre Arbeit. Bei einem Interview in der Late Show mit Stephen Colbert behandelt ein Interviewsegment üblicherweise eine Anekdote und dann den Film, die Serie, die Show, die der Gast bewerben will. Bei Hot Ones gibt es „Deep cuts“. Vor der Sendung haben sich Sean Evans und sein Team stundenlang durch Interviews gewühlt, hat den Instagram-Account des Gastes geflöht und sogar die Fanforen nach den spannendsten ungeklärten Fragen durchsucht. Und er stellt sie. So redet er mit Kristen Bell über die Philosophie-Lektionen in The Good Place, mit Charlize Theron über das Kampftrainig für ihre Filme, mit Idris Alba über die Londoner Musikszene seiner Jugend. Er lässt sich nicht von der Prominenz blenden, sondern redet mit den Handwerkern des Show-Business über ihre Kunst.

Natürlich reicht eine 15 bis 25-minütige Sendung, die zum großen Teil aus Standardeinstellungen von kleinen Soßenflaschen besteht, plötzlich ganz neu das Wesen eines Lebenswerks zu entdecken. Aber bemerkenswert oft gibt die Sendung ein paar neue Denkanstöße. Und falls nicht, ist es doch lustig, dabei zuzusehen, wenn Sean Evans seine Gäste zum „Last Dab“ herausfordert — nämlich von der schärfsten Soße noch eine Extra-Portion zu verzehren. Hier sieht man: Niemand, fast niemand von den Stars hat auch nur bisher auch nur eine Folge von „Hot Ones“ gesehen. Ihre PR-Berater haben ihnen kurz das Konzept erklärt und sie in das Auto gesetzt. Trotzdem: Niemand kann der Herausforderung widerstehen, die Fans, die Hater oder auch nur Sean Evans beeindrucken zu wollen.

Meine Empfehlung: Schaut Euch durch den Katalog von Hot Ones und sucht Euch einen Gast raus, der Euch sowieso schon interessiert. Und wenn Euch die Sendung selbst gefällt: Schaut die Folge mit dem Superfan. Denn auch Hot Ones gehört zum Medienzirkus und verdient daher eine bullshitfreie Betrachtung.

Plastiktüten sind furchtbar

Ich finde es grade etwas absurd, wie verbissen sich manche Menschen im vermeintlichen Freiheitskampf für die Einkaufstüte aus Plastik engagieren. Denn selbst wenn es keine Abfalldebatte gebe, selbst wenn Plastiktüten aus verdichteter Zuckerwatte bestünden und nach Gebrauch an Einhörner und Eisbärenbabys verfüttert würden — selbst dann wären sie furchtbar.

Jede andere Methode seine Verkäufe nach Hause zu bringen scheint mir weit überlegen. Zum einen das immer wieder vollführte Drama am Einkaufsband: „Darf ich nochmal durch? Oder könnten Sie mir grade ein Tüte anreichen?“ Dann muss die Tüte aufgeschüttelt werden. Dann bleibt die Tüte nicht offen, sondern wird von der statischen Elektrizität wieder zusammengezogen. Und dann entdeckt man: Oh Gott, ich muss doch die Tomaten nach oben… Und die Bananen…. Und die Eier. Dann greift der Plastikkunde zu den Plastikgriffen und die Last des Einkaufs zerquetscht den Joghurtbecher.

So richtig zehennagelaufrollend wird es dann vor dem Supermarkt. Etwa, wenn jemand versucht, die Tasche aufrecht in seinen Kofferraum zu stellen. Weil: Diesmal fällt sie garantiert nicht um. Anders als die 500 Male zuvor. Oder noch schlimmer: Leute, die ihre Plastiktüte am Fahrradlenker baummeln lassen. Eigentlich ist das keine Fortbewegung mehr, sondern ein mobiler Unfall. Man kann nicht richtig lenken, man kann nur mit halber Kraft fahren, man ist allen anderen Leuten im Wege, weil die Tüte schaukelt und der Rest des Rades auch. Was ich noch nicht gesehen habe: Plastiktüten auf dem E-Scooter. Die Leute auf diesen Gefährten mögen besoffene Hedonisten sein. Aber so ganz von gestern sind sie halt auch nicht.

Denn das einzige was die Plastiktüte für sich hatte: Sie war immer da. Und sie war meist umsonst. Jetzt, wo das nicht mehr der Fall ist: Leute, ihr seid befreit.

„Verbot“ ist verboten

Heute gibt es mal wieder eine besonders verquaste Sommerloch-Mediendebatte. Carsten Linnemann, Vize-Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, hat ein Interview mit der Rheinischen Post geführt. Die dpa-Zusammenfassung führte zu heftiger Kritik, weil die Nachrichtenagentur in der Überschrift von einem „Grundschulverbot“ sprach. Dieses Wort war in dem Interview aber gar nicht gefallen.


Die dpa hat sich entschuldigt und eine neue Meldung hinterhergeschickt. Also eigentlich alles wie üblich und erledigt, oder?

Das Kuriose ist aber: Linnemann hat tatsächlich ein Verbot gefordert. Ja, die dpa hat diesen Aspekt in der Überschrift zu sehr zugespitzt und der Bundestagsabgeordnete hatte sich nicht ganz zu unrecht beschwert. Aber wenn man sich die Korrektur durchliest, geht es um Präsentation und weniger um die Substanz:

Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) weist den Begriff „Grundschulverbot“ für seinen Vorstoß zurück. Ihm gehe es darum, dass es Konsequenzen haben müsse, wenn Kinder vor der Schule die sogenannten Sprachstandstests nicht bestünden. Wenn dann trotzdem eingeschult würde, hätten weder die Kinder aus deutschsprachigen noch die aus nicht-deutschsprachigen Haushalten etwas davon, sagte Linnemann am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Die dpa hatte in der Überschrift einer Meldung vom Montag den Begriff „Grundschulverbot“ verwendet und dies am Dienstag nachträglich korrigiert.

Der „Rheinischen Post“ hatte Linnemann gesagt: „Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen.“ Er schlug für betroffene Kinder eine Vorschulpflicht vor. Notfalls müsse eine Einschulung auch zurückgestellt werden, sagte er.

Also: Linnemann mag den Begriff nicht, den die dpa gewählt hat. Aber seine Forderung ist: Wenn ein Kind den „Sprachstandstest“ nicht besteht, muss es eine Konsequenz geben. Diese Konsequenz heißt: Das Kind darf nicht in die Regelschule. Oder in anderen Worten: Es geht um ein Verbot.

Auch die entscheidenden Textstellen des Ursprungs-Interviews, die zum Beispiel Thomas Knüwer online stellt, da sich der Volltext hinter eine Paywall verbirgt, lassen eben den gleichen Schluss zu.

„Es reicht nicht nur, Sprachstandserhebungen bei Vierjährigen durchzuführen, sondern es müssen auch Konsequenzen gezogen werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen. Hier muss eine Vorschulpflicht greifen, notfalls muss seine Einschulung auch zurückgestellt werden.“

Das gleiche wie oben: Kinder sollen zu einem Test verpflichtet werden. Und wer den Test nicht besteht, darf nicht auf die Schule. Ein klassisches Verbot. Wenn ich den Führerschein nicht bestehe, ist es mir verboten, Auto zu fahren. Wenn ich den Alterstest bestehe, darf ich keine Zigaretten kaufen. Das Wort „Verbot“ alleine mag den Nuancen und Details des Vorschlags nicht gerecht werden, es bleibt aber ein Verbot.

Trotzdem hat sich erstaunlich schnell herumgesprochen, dass man Verbot nicht „Verbot“ nennen soll. So kommentiert Gökalp Babayiğit bei Süddeutsche.de:

Nein, als „Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können“, wie es die Deutsche Presse-Agentur anfangs umschrieb, lässt sich die Forderung von Carsten Linnemann nicht bezeichnen.

Einen Absatz später heißt es aber:

„Linnemann, immerhin stellvertretender Unionsfraktionschef im Bundestag, will Kindern mit ungenügenden Sprachkenntnissen die Einschulung verwehren.“

Also kein Verbot, sondern ein Verwehren? Ich bin mir ziemlich sicher, beide Worte sind in diesem Kontext Synonyme.

Auch Patrick Gensing hat sich im Tagesschau-Faktencheck verzettelt, indem er ebenfalls das Grundschulverbot dementiert. Aber dieses Interview ist — selbstverständlich — ein klassischer „Testballon“. Ein Politiker aus der zweiten Reihe bringt eine womöglich unpopuläre Maßnahme ins Spiel und die Partei wartet die Reaktionen ab, so dass sich die Politiker aus der ersten Reihe dem Thema entweder widmen oder es lieber auf die lange Bank schieben können. Natürlich ist der Vorschlag in Details äußerst vage. So will sich der Bundestagsvizefraktionsvorsitzende nicht wirklich im Detail äußern, da er beim Länderthema Schule eh keine Zuständigkeit hat und die super-teure Vorschule nicht aus seinen Etats bezahlen will. Wie es bei Testballons üblich ist, erscheinen die Reaktionen der politischen Kontrahenten darauf wieder überhitzt. Das kann man zurecht kritisieren.

Aber kann man es auf Fakten prüfen? Es wäre vielleicht eine andere Interpretation möglich: Herr Linnemann improvisierte in dem Interview und ihm fiel gar nicht auf, dass er in der Aufzählung seiner Gedanken zum Thema in der Konsequenz ein Verbot forderte. Es kann auch sein, dass er ein wesentliches Detail vergessen hat — etwa, dass die reguläre Einschulung maximal ein Jahr verschoben werden kann. Die Kernfrage wäre also: Wusste Herr Linemann, was er dort sagt und wie es ankommen wird? Ich vermute: ja. Aber das ist halt kein Fakt, den man so einfach zweifelsfrei checken kann.

Alles in allem: Die dpa hat ihre Meldung überspitzt und einen Fehler gemacht. Sie hätte in der Überschrift ein echtes Zitat verwenden können oder zum Beispiel die verpflichtenden Sprachtests thematisieren können. Im kollektiven Zurückrudern haben die vernetzten deutschen Journalisten aber dann auf bemerkenswerte Weise vergessen, was denn das Wort „Verbot“ bedeutet und dass man tatsächlich Schlussfolgerungen aus verquast formulierten Forderungen ziehen darf, sofern man denn den Leser mitnimmt. Eine klassische Überkorrektur.

PS: Eine Lehre kann ich vielleicht für meine Arbeit daraus zieht: Wann immer jemand eine unbestimmte Einschränkung wie „noch“ ins Spiel bringt, muss eine Nachfrage kommen: Wie lange denn? Was heißt das konkret?

Die Legende von der linken Spur

Wir haben alle so unsere kleinen Defizite und Missverständnisse. Der eine glaubt bis zur fünften Klasse, dass Seepferdchen Fabelwesen sind, der andere begreift bis 30 nicht, dass lautes Rülpsen kein überall gewürdigtes Kompliment für gutes Essen ist. In letzter Zeit stoße ich vermehrt auf ein spezielles Missverständnis, das offenbar von vielen Leuten geteilt wird. Lasst es mich mal klarstellen.

ES GIBT KEIN UNBEDINGTES RECHT AUF ÜBERHOLEN!

Ich fahre nicht viel Auto, ich gehöre zum Glück nicht zu den Leuten, die Tag für Tag 100 Kilometer pendeln müssen. Dennoch begegne ich auf Autobahnen immer wieder Leuten, die dem gleichen Missverständnis unterliegen. Fast jeder deutsche Autofahrer wird den Moment kennen: Man überholt eine lange Kolonne von LKWs, Wohnmobilen und Pferdetransportern. Sagen wir mit der Richtgeschwindigkeit 130 km/h. Plötzlich sieht man im Rückspiegel: Von hinten kommt jemand mit 170, 180 oder gar 200 km/h angerast.

Eigentlich kein Problem: Freie Sicht, für jeden muss klar sein, dass die linke Spur besetzt ist. Der eilige Autofahrer müsste nicht mal bremsen — es reicht vielleicht schon, den Fuß vom Gas zu nehmen — und die linke Spur ist wieder frei, bevor man sich auch nur ins Gehege kommen könnte. Doch nach 20, 30 Sekunden kommt die Erkenntnis: Der Nachfahrende geht nicht vom Gas. Bleifuß, Bleifuß, Bleifuß. Als ob die linke Spur frei wäre. Erst wenn eine Kollision fast unausweichlich scheint, macht der Nachfolgende eine rapide Bremsung und bleibt auf minimalem Abstand — vielleicht 10 Meter, vielleicht auch nur 5 Meter — bis denn die linke Spur wieder frei ist.

DAS IST NÖTIGUNG! UND LEBENSGEFÄHRLICH!

Eigentlich sollte jedem klar sein: Das Verhalten, das ich hier schildere ist nicht nur illegal, sondern lebensgefährlich. Wenn auch nur eine kleine Unachtsamkeit passiert oder schlicht ein unerwartetes Schlagloch auftaucht, wenn ein Spatz genau zur falschen Zeit über die Autobahn fliegt, stoßen die beiden Autos auf der Überholspur zusammen. Ab in die Leitplanke und dann nach rechts in die Kolonne aus Urlaubern und LKW-Fahrern. Ein Glück, dass Autos, die 200 km/h fahren die besten Airbags und Fahrgastzellen der Welt haben. Alle anderen: Who cares?

Wenn ich die Situation in sozialen Medien schildere, kommt immer, aber auch immer Widerspruch. „Aber wenn man sieht, dass jemand von hinten kommt, muss man doch die linke Spur frei machen!“ Oder gar: „Sobald ich genötigt werde, mein Bremspedal zu berühren, werde ich behindert und damit genötigt.“ Ich paraphrasiere hier, aber übertreibe nicht. Eine erstaunliche Menge an Leuten mit Führerschein und dicken Autos sind tatsächlich der Auffassung, dass es eine Art Vorfahrt für Leute gibt die 180 km/h oder schneller fahren. Das ist falsch. Deshalb nochmal explizit:

ES GIBT KEINE VORFAHRT FÜR LEUTE, DIE 180 FAHREN!

Mit dieser Realität konfrontiert, kommt die Partei der Überholfreunde ins Schwimmen. Aber es gibt doch das Rechtsfahrgebot! Und: Man darf nicht einfach ausscheren, wenn man sieht, dass man überholt wird. Das stimmt beides. Beides steht sogar explizit im Gesetz. Insbesondere StVO Paragraph 5 sollte man mal lesen. Hier steht sogar eine Menge anderes. Zum Beispiel darf man, wenn überholt wird, nicht einfach aufs Gas drücken, um ein kleines Rennen zu veranstalten. Und man darf nicht mit 105 km/h auf Dauer die linke Spur blockieren, wenn auf der rechten Spur 100 km/h gefahren wird. Man darf aber mit 105 km/h überholen, wenn rechts 70 km/h gefahren wird.

Denn was in der StVO nicht steht: Das schnellere Auto hat Vorfahrt. Es gibt kein unbedingtes Recht aufs Überholen. Wer zu Recht auf der Überholspur ist, ist zu Recht auf der Überholspur. Wer dabei 120 km/h fährt, hat genau so viel Rechte wie jemand, der gerne 60, 80 oder gar 100 km/h schneller fahren würde. Man schaut in den Rückspiegel, man blinkt, man überholt zügig und dann ist man im wesentlichen mit der Verkehrsordnung im Reinen.

WER RASEN WILL, MUSS BREMSEN KÖNNEN!

Tatsächlich gibt es in anderen Ländern andere Regeln. In der Schweiz etwa gibt es die explizite Verpflichtung die linke Spur freizumachen, wenn denn jemand überholen will. Natürlich nur im Rahmen der realistischen Möglichkeiten — aber immerhin. Warum kann es die Regel dort geben und nicht auf deutschen Autobahnen? Die Antwort ist eigentlich offensichtlich: Die Höchstgeschwindigkeit in der Schweiz ist 120 km/h. Meinen oben geschilderten Fall kann es dort laut Gesetz gar nicht geben. Weder darf Fahrer A die LKWs mit 130 km/h überholen, noch kann plötzlich von hinten ein enorm schnelleres Auto auftauchen. Wenn alle Leute maximal 120 statt maximal 220 km/h fahren, hat jeder einzelne Fahrer Welten mehr Zeit auf den umliegenden Verkehr zu achten, muss weniger Abstand halten, kann einfacher zurück auf die rechte Spur einscheren. Und wer links 120 km/h fährt, muss im normalen Verkehr eh keinen Platz machen, da er sowieso nicht überholt werden darf.

Sprich: Weil wir in Deutschland kein allgemeines Tempolimit haben, ist es eine logische Notwendigkeit, dass insbesondere die schnellen Fahrer auf der Autobahn vorausschauender fahren müssen. Und vorausschauenderes Fahren heißt übersetzt: Man muss bremsen. Denn je größer er Tempounterschied zwischen den Autos ist, um so geringer die Vorwarnzeit bei einem Überholmanöver. Wer also ganz alltäglich einen Lastzug überholt, kann keine Ahnung haben, ob hinter ihm jemand kommt, der gerne — BRUMM BRUMM — viel schneller überholen würde. Den Überholvorgang abzubrechen würde nur wieder neue Gefahren bringen und zu Stockungen auf der rechten Spur führen. Denn die linke Spur ist für alle da.

Das war jetzt viel Text. Deshalb nochmal das TL;DR:

ES GIBT KEINE VORFAHRT FÜR LEUTE, DIE 180 FAHREN!

Und: Gute Fahrt!

„Inseratenkorruption“

Eine meiner Grundthesen, die ich immer wieder ausbreite: Werbung und Werbefinanzierung hat einen erheblichen Einfluss auf unsere öffentliche Diskussion. Ich rede da meist von strukturellen Einflüssen. Wenn etwa YouTube entscheidet, die Werbekunden vor vermeintlich kontroversen Themen zu schützen, dann finden sich plötzlich auch eigentlich erwünschte Inhalte wie Aufklärungsvideos auf der Verliererseite. YouTube hat hier keine Agenda gegen gesundheitliche Aufklärung. Die Verantwortlichen schrauben halt am System herum und bekommen es nicht besser hin.

Dass es auch direktere Einflüsse gibt, erklärt Helmut Brandstätter in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Während in unserem Land die staatliche Parteienförderung ständig erhöht wird – auch Kurz hat das getan – werden die vom digitalen Wandel ohnehin betroffenen Medien ausgehungert. Ausnahme sind die Zeitungen und Zeitschriften, die lieb schreiben. Die bekommen viele Millionen in Form von Anzeigen. Die Regierenden, nicht nur ÖVP und FPÖ, sondern auch die SPÖ, versuchen also, Medien durch öffentliche Gelder – sagen wir es freundlich – positiv zu stimmen. Darum verwende ich – weniger freundlich, aber treffend – das Wort „Inseratenkorruption“.

Schildbürger zweiter Klasse

Ein bekanntes Klischee ist: In Deutschland gibt es zu viele Straßenschilder. Weil wir es viel zu genau nehmen. Der Diagnose will ich mich nicht anschließen. Wir haben zwar viele Schilder — wirklich genau sind sie aber nicht. Nicht mal auf unseren Autobahnen bekommen wir es hin, dass die Tempolimits tatsächlich an der richtigen Stelle postiert sind. Dass wir gar eine verbindliche Deutschlandkarte mit den geltenden Tempolimits hätten – pure Science Fiction.


Was für mich als Autofahrer ein mittelkleines Ärgernis ist — schließlich wird selten geblitzt, wo denn den Schilder fehlen — ist für mich als Radfahrer eine immer wieder neue Quelle von Frust. Wenn sich Leute beschweren, dass sich viele Radfahrer oft nicht an Verkehrsregeln halten — wer will widersprechen? Das Problem: Können sich Radfahrer an Verkehrsregeln halten? In Köln: Eher nicht.

Ein simples Beispiel, ein paar hundert Meter von meiner Haustür entfernt. Die Eisenbahnbrücke am Eifelwall wird langfristig saniert. Ausschüsse und Stadtrat schauen sich die Lage an und erkennen: Da können wir doch ohne Probleme eine Fahrradstraße etablieren, wenn die Autos sowieso nicht fahren können. Tolle Idee.

Das Problem: So sieht das heute aus:

Die Schilder sagen: Dies hier ist zwar ein Radweg. Aber leider ist die Durchfahrt hier verboten. Tatsächlich war das da gemeint:

Das klingt wie eine Haarspalterei. Jeder weiß doch, was gemeint ist. Das Problem: Nein, wir wissen es nicht. Die gleiche Schildkombination steht auch an Baustellen, wo Radfahrer absolut nicht durchfahren sollen. Egal in welche Richtung ich von meinem Haus aus fahre – nach spätestens zwei Minuten komme ich an eine Stelle, wo man als Radfahrer raten muss, wie man sich denn gemäß der gedachten Vorschriften verhalten kann.

Auf dem Radweg vor einer Ampel ist etwa kein Haltestreifen. Heißt das, dass ich nicht halten muss? An der einen Stelle: Halte an. Ein paar hundert Meter weiter? Fahr weiter. Manchmal erfährt man das erst, wenn man zufällig einen offiziellen Plan der Stadt sieht. Aber wer hat die schon immer zur Hand? Am Sonntag etwas stand ich in Zollstock an einer Ampel und wunderte mich: Nirgends ist irgendein Auto – warum wird die Ampel nicht grün? Die Antwort fand ich unter meinen Füßen: Dort war ein Sensor eingelassen, der die Ampel grün schaltet, wenn ein Auto wartet. Da ich ein paar Hundert Kilo zu wenig auf die Waage bringe oder einfach nicht magnetisch genug bin, blieb die Ampel halt rot. Heißt das nun: Ich kann hier gar nicht regelgerecht fahren? Ja. Ignorieren Radfahrer diese Ampel irgendwann? Aber klar! Und wahrscheinlich die nächsten fünf Ampeln ebenso.

Wo immer in der Stadt ein Loch gegraben, Asphalt gefräst oder eine neue Markierung aufgetragen wird — die Bauarbeiter haben ein Schild dabei, das den gewöhnlichen Radfahrer abschrecken soll. Schließlich will man nicht haftbar sein, wenn irgendetwas passiert. Ob es tatsächlich Sinn ergibt dass Radfahrer absteigen sollen oder ob überhaupt eine Umleitung existiert — es spielt in der Regel keine Rolle. Als die neue U-Bahn in der Südstadt gebaut wurde, habe ich mich mal auf die Suche gemacht, wie ich mit dem Fahrrad noch legal an den Rhein gelangen konnte. Es gab schlicht keinen Weg mehr. Alle Straßen wurden nach und nach für Radfahrer gesperrt und niemandem ist es aufgefallen.

Und das Schöne ist: Wenn die Baustelle abgeräumt wird — was bleibt stehen? Richtig!

Ein Baustellenschild auf dem Radweg - die Baustelle ist schon lange abgeräumt

Falschparker

Gestern sah ich in Köln zufällig dieses Fahrrad. Jemand hatte es auf der Straße abgestellt. Nicht ganz im Rand, nicht am Fahrradständer nebenan, einfach auf der Straße.

Hätte es vier Räder, eine Karosserie und einen Benzintank, würde es in der Nachbarschaft als Falschparker kaum auffallen. Ohne diese Elemente wirkt es jedoch kurios.

Die Zeit schreit nach TV-Kritik

Ich liebe es ja, wenn sich Leute mit fiktiven Stoffen beschäftigen und darin Bedeutung finden. Ob eine Lektion für das Leben, eine philosophische Diskussion oder meinetwegen auch eine Leidenschaft für Skateboarding. Wichtig ist: Man schaufelt nicht einfach sinnlos Bilder und Meme in sein Großhirn, nein: man lässt sich inspirieren, anregen oder auch aufregen.

Es ist mittlerweile ein Klischee: Wir sind in einem Goldenen Zeitalter des Fernsehens. Statt der Familien-Sitcom, die immer nur nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner sucht, haben wir nun quasi alle drei Monate die nächste große HBO-Serie, die eigentlich epochemachend wäre. Wäre unsere Epoche halt nicht voll epochemachendem Fernsehen. Die Zeichen verdichten sich leider: Damit ist es eventuell vorbei. Der Disney-Nagel in den Sarg ist nur ein Indiz. Richtig traurig ist es, wie die meisten Menschen immer noch mit dem Medium Fernsehen umgehen.

Die Clipshow-Kritiker

Ich bin ja immer wieder entgeistert davon, was YouTube mir aufgrund meines extensiven Nutzer-Profils in meine Playlisten spült. Als meine Lieblings-Shows in Sommerpause gingen, spulte mir Googles Plattform immer wieder Pseudo-TV-Kritiken vor, die eigentlich nur nach einem Rezept verfahren: So viele Szenen von Parks&Rec, The Office oder Star Trek wie möglich in fünf bis sieben Minuten quetschen und keine Lizenzgebühren zahlen zu müssen.

Dass es wirklich schlimmer geht, merkte ich vor ein paar Tagen als ich ahnungslos dieses Video anklickte. Hier bespricht jemand Star Trek: Voyager und es ist eine Rezension aus der Trump-Ära.

Es beginnt recht harmlos mit einem recht guten Punkt: Voyager — oder: ST:VOY — operiert immer wieder von einer ziemlich snobistischen moralischen Warte aus. Zwar steht die Serie in diesem Punkt The Next Generation — sorry: ST:TNG — in nichts nach, aber die Diagnose ist zunächst einmal richtig. Egal was passiert – am Ende jeder Episode wird wieder fast alles auf Null gestellt und wir haben in der kommenden Folge ein blütenreines Raumschiff wie aus dem Ei gepellt. Deep Space Nine war in punkto seriellem Erzählen doch wesentlich weiter.

Dann driftet die Rezension aber schnell ab. Das moralische Dilemma in der besprochenen Folge ist: Darf die Mannschaft des Raumschiffs Equinox andere Lebewesen einfach töten, um eine Chance zu haben nach Hause zu gelangen? Der Youtuber Dave Cullen sagt: Klar. Die Aliens, die haben ja keine Arme und Beine und sprechen nicht wirklich. „I don’t see them writing any great works of literature or making significate contributions to science or philosophy any time soon.“ Also sind sie im Prinzip entbehrlich.

Technically wrong, the worst kind of wrong

Fangen wir mal mit dem technischen Argument an, weil ich dann nicht schreien muss. Wie gesagt — es ist zweifellos korrekt, dass Voyager oft genug moralisch simplifiziert und Risiken scheut. Aber da in der Rezension grade Folgen wie „Year of Hell“ referenziert werden, sollte doch auffallen: Für die vermeintlich eitlen moralischen Prinzipien ist Janeway durchaus bereit ihr eigenes Leben zu opfern. Dass die Story sie nachher dafür belohnen wird, das weiß sie ja nicht.

Gerade in der Equinox-Episode bekommt Janeways Image erhebliche Schrammen verpasst. Sie zerstreitet sich mit Chakotay, sie foltert Gefangene, sie bringt ihre eigene Crew im Gefahr, um den unbotmäigen Captain der Equinox zu jagen. Dave Cullen misst dem keinerlei Bedeutung zu, weil Captain Ransom ja so ein viel abgefeimterer und damit vermeintlich interessanterer Charakter ist.

Zum Zweiten: Das moralische Argument sollte keinen Star Trek-Fan irgendwie überraschen. Die Frage nach der Gleichwertigkeit außerirdischen Lebens wird immer wieder thematisiert. Zum Beispiel, als die Mutter eines Opfers des Kristallinwesens Rache sucht. Da spricht Picard vom Wal, der Millionen Lebewesen auffrisst, um zu überleben. Die Mutter reagiert nicht besonders positiv auf die Metaper.

Aber alles in allem: Die Sternenflotte hat einen recht gut etablierten Standard: Wenn wir mit dem Alien kommunizieren können, dann sind wir im Prinzip gleichwertig. Selbst wenn es Naniten sind. Oder merkwürdige Muster im Sand. Oder Borg. Oder halt die Aliens, die von der Equinox getötet werden.

Zum Dritten: Janeways Haltung wird in der Folge immer wieder in Frage gestellt. Sie kann diese Bedenken auch nicht einfach wegwischen, sondern sie wird in dieser Sache als fanatisch porträtiert, sie fängt an andere Menschen zu foltern. Dass dies dem Rezensenten entgangen ist, ist höchst merkwürdig. Er tut so, als ob dies zum normalen Führung eines Sternenflottenschiffs gehört. Wie gesagt: Die Trump-Ära mag da zu einer Verschiebung der Optik beigetragen haben.

The worstest kind of wrong

Was mich richtig schockiert, ist die Rechtfertigung des Rezensenten, wenn er seine moralischen Vorstellungen aufzählt. Sein Basis-Argument ist: Du und Deine Crew zuerst zuerst, alle anderen sind Sucker. Der Sprachgebrauch ist zum Fremdschämen. Erst vergleicht er die Equinox-Aliens mit Delphinen, dann sogar mit Ratten. Ja, „fying rats“. Sorry, da hat er schlicht zu oft Nazis zugehört. Und erkennt ein moralisches Argument nur noch daran, dass es ihm Unwohlsein verursacht. Foltereien fallen nicht wirklich ins Gewicht, wenn es einen Superschurken gibt, den man anhimmeln kann.

Die Prämisse der Kritik ist: „Aber Moment mal: das hieße ja, dass ich nicht einfach machen soll, was mir im Augenblick am vorteilhaftesten erscheint? Ich verstehe nicht. Das ist doch absolut unmöglich.“ – Wie kann man Star Trek nur gucken, ohne das elementarste Prinzip der Völkerverständigung zu akzeptieren? Selbst wenn das andere Volk nicht exakt so aussieht wie Dein eigenes?

Lange Rede, kurzer Sinn. TV-Kritik ist wichtig. Wir sollten nicht nur immer neuen Content in uns reinschaufeln, in der Hoffnung, dass wir ein paar Stunden unterhalten sind. Fernsehen gehört zum Leben, Netflix gehört zum Leben. Und wenn wir leben, lohnt es sich darüber nachzudenken wie wir leben. Und gegebenenfalls auch drüber zu streiten. Nicht nur darum, ob ihr mehr eine Carrie oder eine Miranda seid. Sondern auch, wie ihr Euren moralischen Kompass eichen könnt.

Brave: Push-Nachrichten für Cents

Ex-Mozilla-Manager und JavaScript-Erfinder Brandon Eich will mit seinem chromium-basierten Browser Brave das Web umkrempeln. Brave hat nicht nur einen Werbeblocker integriert, sondern soll auch über eine Crypto-Währung einen neuen privatsphäre-schonenden Werbemarkt aufbauen. Im Prinzip ähnelt Brave hier dem Geschäftsmodell von Adblock Plus: Der Werbeblocker verdient sein Geld mit Werbung. Dabei sollte Brave jedoch etwas weiter gehen. So beschrieb CNet.com vor drei Jahren den Plan:

Brave blocks ads from websites and eventually will insert new ads targeted toward user interests by software running in the browser itself. Those ads won’t affect page performance or come with privacy concerns. Brave will share ad revenue with publishers — and with the people using its browser.

Vor ein paar Wochen begann nun Brave in der Desktop-Version Werbung auszuliefern, nun zog die Mobil-Version nach. Die ursprünglichen Pläne musste Eich deutlich reduzieren. So hat er offenbar zu wenig Unterstützung von Publishern gefunden, die ihre existierende Werbung durch Brave-Werbung ersetzen lassen wollen. Einfach ohne Zustimmung die Werbung auszutauschen dürfte teure Klagen nach sich ziehen.

Also geht Brave den anderen Weg: Auf dem Desktop liefert der Browser Werbung in Form schmuckloser Popup-Nachrichten am unteren Bildschirm, auf Android-Smartphones erscheint die Werbung in Form von Push-Notifications. Da diese Werbung nicht auf den Websites selbst erscheint, muss Brave den Publishern auch nichts von den Einnahmen abgeben.

Problem daran: Brave würde die Publisher sehr gerne einbeziehen. Das anvisierte Geschäftsmodell basiert darauf, einen Werbemarkt auf der Kunstwährung BAT aufzubauen. Werbetreibende kaufen Werbeflächen mit BAT, Publisher und Nutzer bekommen BAT ausgezahlt. Brave könnte dann über Währungsgeschäfte ihr Geld verdienen.

In dem Browser ist auch ein Flattr-haftes Vergütungssystem eingebaut. Fernziel: In Zukunft könnten sogar Abogebühren in BAT abgerechnet werden. Ein Milliardengeschäft, bei dem Brave nur die Hand aufhalten müsste.

Momentan sieht es also so aus: Nutzer bekommen für jede aufpoppende Werbung ein paar Cents in der Kunstwährung auf ihre im Browser installierte Wallet geschrieben. Dieses Geld wird aber in der Voreinstellung direkt weiterverteilt an Publisher, die sich an dem BAT-Programm beteiligen. Ich habe aber nur zwei Medienseiten gefunden, bei denen das der Fall ist: The Guardian und die LA Times. Bei allen anderen Websites steht „not yet verified“ – sprich: Die Betreiber finden Brave nicht mal relevant, interessant oder sympathisch genug, um Geld von ihnen anzunehmen. Und das bedeutet: Viel zu wenig Geld kommt rein und viel zu wenig Geld geht raus.

Also versucht Brave den Markt anzukurbeln. Den Usern wird immer mal wieder ein Betrag in BAT auf die Wallet aufgebucht. 5 BAT hier, 10 BAT da. Doch das Geld kann ich mir als User nicht in Dollar oder Euro auszahlen lassen – die Funktion fehlt in Brave wohlweislich. Vermutlich kann ich irgendwie versuchen, die BAT aus meinem Browser herauszueisen — aber bei den geringen Beträgen ist der Aufwand wohl kaum gerechtfertigt. Die Beträge reichen aber aus, um einen Markt zu simuliert, in dem Brave-Nutzer eine nachhaltige Einkommensquelle darstellen, weil diese Geld einzahlen oder durch freiwillig angesehene Werbung relevante Beträge verdienen. Würden Brave sein Pseudo-Geld nicht verschenken, gäbe es wohl kaum Geschäftsaktivität. Die ersten Werbekunden sind folgerichtig auch meist irgendwelche Kleinfirmen, die im Markt der Pseudowährungen unterwegs sind.

Alles in allem: Ich sehe hier zwar eine Strategie, ein auf Spekulationsgewinnen aufbauende Geschäftsmodell für Brave zu etablieren. Was ich nicht sehe: Einen gangbaren Weg zu besserer und privatsphäre-schonender Werbung. Zum einen sind Pop-Ups einfach nervig, die Antithese zu besserer Werbung. Zum anderer wird mit der BAT-Wallet im Browser hat Brave den Nutzern ja eine Art Super-Tracker verpasst: Eine eindeutige ID, an die sich alle Nutzungsgewohnheiten, gesehene Werbung und schließlich auch vollzogene Käufe koppeln lassen könnten, wenn es denn so käme, wie Brave will. Nach drei Jahren sieht es aber nicht so aus, als sei dies noch eine realistische Erwartung.

Die Lachkonserven-Verschwörung

Ich mag Sitcoms. Das heißt: Ich mag nicht jede Sitcom, ich mag vielmehr das Medium.

Was mich immer wieder erstaunt: An sich intelligente und medienkompetente Menschen teilen immer wieder diese YouTube-Videos. „XYZ – No laugh track“ und meinen, sie hätten damit ihrem Umfeld eine ungeahnte Wahrheit mitgeteilt. Der Gag ist immer der gleiche: Szenen aus bekannten Comedy-Serien werden hier gezeigt, bei denen das Gelächter fehlt, das noch in der Sendefassung zu hören war.

Der Effekt ist enorm und eigentlich ganz lehrreich: Was vorher wie eine halbwegs natürliche Dialogsituation erscheint, wirkt nun plötzlich wie das Schulungsmaterial für Leute, die sich beruflich mit psychotischen Episoden und Zwangsstörungen befassen müssen. Die Leute auf dem Bildschirm pausieren plötzlich alle paar Sekunden nicht nachvollziehbaren Gründen und starren sich für unkomfortabel lange Zeitspannen in die Augen. Oder sie wiederholen ihre Gesten drei, vier Mal — ohne jeden ersichtlichen Grund.

Die Lehre, die man daraus ziehen kann: Timing spielt eine enorme Rolle, ob ein Witz funktioniert oder nicht. Du kannst Dir den besten Witz der Welt ausgedacht haben — wenn Du ihn auf der Bühne mit einer leicht falschen Betonung, mit einer falsch gesetzten Pause präsentierst, ist er plötzlich nicht mehr halb so witzig. Oder sogar: gar nicht mehr witzig. Nichts ist auf einer Bühne so schlimm wie eine lange Stille, wo du eigentlich mit großem Gelächter gerechnet hast.

Sitcoms sind eine Lüge!

Die Lehre, die jedoch die meisten daraus ziehen, ist jedoch eine ganz andere: Sitcoms sind eine Lüge! Niemand lacht in TV-Studios und die Witze, die wir auf dem Bildschirm sehen, sind überhaupt nicht witzig! Wir lachen einfach nur, weil andere lachen. Wir sind halt soziale Wesen und TV-Sender sind Lügner. Doch tatsächlich sind diese „No laugh track“-Videos eine Lüge, die den Zuschauer auf eine falsche Spur schicken.

Um es klar zu sagen: Ja, es gibt Lachkonserven. Und ja, insbesondere wenn wir die deutsche Synchronisation einer US-Sitcom sehen — vermeidet das, wenn immer möglich — hören wir Gelächter aus der Dose. ABER: Bei den großen Produktionen wie Friends oder The Big Bang Theory ist das Lachen eben nicht nur eine Akustiktapete, die dem Publikum zu Hause etwas vormachen soll. Nein, diese Shows werden tatsächlich vor einem Live-Publikum aufgezeichnet. Das ist auch der Grund, warum die Leute in Sitcoms so oft auf ihrem Sofa im Wohnzimmer sitzen. Das Sofa steht auf einer Bühne vor Zuschauerrängen. Und darauf sitzen — wie der Name sagt — Zuschauer und lachen sich einen Ast ab, sie jauchzen, manchmal stöhnen sie sogar vor Sympathie.

Die Wahrheit ist: Sitcoms sind eine Art Broadway-Show. Das ist tatsächlich so, denn genau hier entstand das moderne Fernsehen. Und die Produktionsweise hat nicht nur historische Gründe. Es ist die Live-Performance, die vielen Schauspielern überhaupt die Energie bringt, um eine tolle Performance zu bieten. Sie lesen die Stimmung des Publikums, sie verbessern ihr Timing, sie probieren Grimassen und lustige Tänze aus. Sie sind da ähnlich wie Late Night Shows oder Saturday Night Live. Es ist — wie hier sehr schön beschrieben wird — theater with do-overs.

tl;dr: Sitcoms sind eine Kunstform. Und die vielen „No laugh track“-Videos sind ein billiger Taschenspielertrick, der das Gegenteil von Medienkompetenz vermittelt.