Dr. Leaks – oder: Julian auf der Flucht

Bild.de hat einen neuen Spitznamen für Julian Assange:

Entkommt Dr. Leaks den britischen Behörden?

Das könnte natürlich eine ungelenke Kimble-Anspielung sein. Mich erinnert das jedoch eher an eine Szene aus „The Big Bang Theory“.

Sheldon: Leonard is upstairs right now with my archenemy.
Penny: Your archenemy?
Sheldon: Yes: the Dr. Doom to my Mr. Fantastic, the Dr. Octopus to my Spiderman, the Dr. Sivana to my Captain Marvel…
Penny: OK, I get it, I get it…
Sheldon: You know, it’s amazing how many supervillains have advanced degrees. Graduate schools should do a better job of screening those people out.

Dr. Leaks ist zweifellos der Name eines Super-Schurken aus dem Reich von Batman und Superman. Das Wikileaks-Drama in den Medien kann eigentlich nur noch absurde Züge annehmen.

Überfordert von Transparenz?

Angesichts der Medienberichterstattung zu Wikileaks frage ich mich: Ist das zu viel Transparenz für uns?

Jede Nachrichtensendung verbreitet die Banalitäten um Teflon-Merkel und dem überschäumenden Westerwelle. Doch es gibt in den 250000 Nachrichten ja genug anderes. So zum Beispiel die amerikanische Einflussnahme im Fall des von der CIA entführten Khaled El Masri – sie findet in deutschen Medien kaum Beachtung. Stattdessen gibt es eine nicht wirklich ernst gemeinte Treibjagd auf den FDP-Informanten, der Koalitionspapiere flugs in die US-Botschaft brachte.

Schon heute kann selbst die vermeintliche Oberschicht der Wissensgesellschaft kaum mit dem tagesaktuellen Wissen Schritt halten. So wurde letztens auf Twitter ein Link zu einem Artikel der Zeit von 2003 herumgereicht, der auf die erstaunliche Tatsache verwies, dass die Castoren in Gorleben oberirdisch gelagert werden. In aller Begeisterung für jede Sitzblockade, für jeden georeferenzierten Meter Bahnstrecke hatten die Oberinformierten vergessen sich ein Fundament an Informationen zu bauen. Dass das radioaktive Material eben noch nicht in den Salzstock gebracht wird, ist mithin einer der wichtigsten Fakten rund um den Atomstreit.

Für einigen Bohei sorgte auch die Nachricht, dass Schauspieler Mark Ruffalo wegen seiner Unterstützung für die kritische Dokumentation Gasland auf einer terror watch list gelandet sei. Die Nachricht wurde nicht nur auf Twitter und in Blogs herumgereicht. Quelle waren Entertainment-Blogs und Panorama-Redaktionen, die wiederum ein Interview in der Lifestyle-Zeitschrift GQ zitierten. Die Empörung über die USA war mal wieder groß bei allen, die sich sowieso schon über die USA empören.

Es kostet mich ganze anderthalb Minuten um den Ursprung der Geschichte zu finden: Der investigative Reporter-Thinktank Pro Publica hatte bereits im September über die Machenschaften der Homeland Security berichtet:

A confidential intelligence bulletin sent from the Pennsylvania Department of Homeland Security to law enforcement professionals in late August says drilling opponents have been targeting the energy industry with increasing frequency and that the severity of crimes has increased.

It warns of „the use of tactics to try to intimidate companies into making policy decisions deemed appropriate by extremists,“ and states that the FBI — the source of some of the language in the Pennsylvania bulletin — has „medium confidence“ in the assessment. A spokesman for the FBI did not immediately respond to a request for comment.

Sprich: die Homeland Security hat nach mehreren Akten von Vandalismus die Behörden auf mögliche Gesetzesbrüche in Zusammenhang rund um die Filmpremiere von Gasland aufmerksam gemacht. Doch nicht nur das, wenn man den Patriot News aus Pennsylvania glauben will:

Although many of the notices of rallies and protests in the intelligence bulletins could have been gleaned – as the governor said – from newspapers, the most recent bulletins make it clear that ITRR was specifically tracking anti-drilling groups to determine which local public meetings they planned to attend.

The Office of Homeland Security then distributed this information to drilling companies as well as law enforcement agencies.

Sprich: eine Behörde der USA hat Staatsgelder für einen Bespitzelungsauftrag gegen Umweltschützer ausgegeben und die Ergebnisse an die Gasindustrie weitergegeben. In Sicherheits-Warnungen für Polizeibehörden standen die beobachteten Gruppen neben verdächtigen Terroristen. Ein handfester Skandal, nach Aufdeckung musste die Behörde das Programm einstellen, ein hochrangiger Mitarbeiter trat sogar zurück.

Dass Ruffalo selbst jedoch auf einer terror watch list stand, die einem Schauspieler das Reisen und damit seine Arbeit unmöglich gemacht hätte — diesen Vorwurf erhebt keiner, der auch nur ansatzweise recherchiert hat. Ruffalos Name mag in dem Kalender der überwachten Veranstaltungen gestanden haben – aber das macht ihn eben nicht zum Ziel der Bespitzelung. Er ist lediglich ein Headliner, ein besorgter Bürger mit großem Namen, den er zu einem guten Zweck einsetzen wollte. Im Fokus der DHS-Spitzel oder gar auf einer terror watch list stand er deswegen noch lange nicht. Selbst ein Dementi bringt Time nicht dazu die völlig offen liegenden Fakten nachzuschlagen und wiederzugeben.

Was hingegen immer weiter verbreitet wird, ist ein missverstandener Schnippsel eines Interviews von GQ, obwohl die wahre Story nur ein paar Klicks und eine Minute ruhigen Nachdenkens entfernt liegt.

Wenn wir nicht Mal die Informationen ausschöpfen, die so offen liegen bei Themen die uns offenbar sehr interessieren — was bringt weitere Transparenz? Wo sind die Mechanismen, die echte Skandale von Banalitäten, die Hörensagen von Fakten und Recherche unterscheiden? Wo sind die Leser, die mehr lesen wollen als ihre eigene Meinung?

P.S.: Die Pennsylvania Emergency Management Agency hat die „Intelligence Bulletins“ online gestellt — übrigens nicht freiwillig.

In den Berichten 128 und 125 sind Veranstaltungen genannt, an denen Ruffalo teilnahm. Sein Name wird jedoch nicht erwähnt:

27 August 2010: An outdoor screening of the controversial “Gasland” movie is scheduled for Clark Park in West Philadelphia. Another screening is scheduled for the same day in Frick Park, Pittsburgh.

An additional screening is slated for 3 September 2010 at the Piazza in Northern Liberties (near the Delaware River) in Philadelphia.

27 August-4 October 2010: The following meetings have been singled out for attendance by anti-natural gas drilling activists:

27 August – a Marcellus Shale Panel Discussion in the Oakland section of Pittsburgh (G23 Parran Hall, 130 DeSoto St.)

2 September – a hearing on a proposed Marcellus Shale gas drilling ordinance in Cranberry Township (Butler County)

13 September – a hearing on Marcellus Shale drilling in the Pittsburgh City Council chambers (414 Grant St.)

4 October – a hearing on a proposed amendment to the township zoning ordinance to regulate oil and gas drilling operations in Upper St. Clair Township (Allegheny County)

Es stimmt übrigens, dass in dem Dokument vermeintlich gefährliche Gruppierungen aufgelistet werden, die man gemeinhin als Terrorismus-verdächtig bezeichnen kann. Direkt neben den Gasland-Aufführungen ist jedoch eine andere aufrührerische Veranstaltung genannt:

27 August 2010: Former Governor and conservative political leader Sarah Palin (R-AK) is the featured speaker at the Pennsylvania Family Institute’s banquet at the Hershey Lodge in Derry Township (Dauphin County). The Pennsylvania organization is active in opposing abortion and same-sex marriage, as well as promoting other socially conservative political positions.

Ferndiagnose einer Ferndiagnose

Es wird ja viel Mist zu Wikileaks geschrieben. Es ist deprimierend mit anzusehen, wie eine so komplexe Story in Banalitäten und Info-Schnippsel zerteilt und über 24-Stunden-Infotainment-Kanäle in die Bevölkerung gepumpt wird. Man kann die größten Skandale offenbaren – und trotzdem ändert sich nichts an dieser korrupten Welt.

Das hat auch Arno Frank mitbekommen und schildert uns die vielen Unzulänglichkeiten der Berichterstattung – angefangen von dem peinlichen Interview bei CNN bis hin einem bitter-bitter-bösen Artikel der New York Times, über den sich Julian Assange medienwirksam mokiert hat.

Er lebt, wenn er nicht in wechselnden Wohnungen auf einem Sofa übernachtet, in einer einsamen Hütte in Nordschweden. Er war Hacker. Er ist ein egomanischer Tyrann. Er wechselt seine Mobiltelefone wie andere Männer ihre Hemden. Er bezahlt nie mit Kreditkarte, sondern immer nur bar, und das Geld leiht er sich von Freunden.

[…]

Genau so las man’s in der New York Times, die ihrer Berichterstattung zu den Enthüllungen von Wikileaks ein Fernpsychogramm von Julian Assange beistellte. Um zu ihrem Fazit zu kommen, dass der Typ ein gefährlicher Irrer ist, mussten Journalisten nicht einmal bei einem Psychiater einbrechen. Wikileaks tut, was eigentlich Aufgabe des Journalismus wäre. Darauf reagiert der Journalismus gereizt und gekränkt.

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Frank den New York Times-Artikel ebenfalls nur ganz aus der Ferne gelesen hat. Denn von einer Ferndiagnose kann absolut keine Rede sein: Reporter der Zeitung haben Assange – zumindest kurz – in London begleitet, sie haben viele Menschen aus dem Umfeld von Wikileaks interviewt, sie haben ihre Büros in Kabul und in Washington zu Rate gezogen. Das ist es, was Journalismus, was Recherche ausmacht. Welche Arbeit hat sich Frank gemacht? Nun, er hat den New York-Times-Artikel angesehen und möglichst irreführend wiedergegeben.

Zum Beispiel: was schreibt die New York Times über die Ermittlungen in Schweden gegen Julian Assange? Bei Frank liest sich das so.

Er hat zwei Frauen vergewaltigt. Okay, sexuell belästigt. Na gut, dann eben nur belästigt. Oder auch nicht.

Die New York Times hat Assange also unbelegte Vorwürfe gemacht und sich dabei aber in Widersprüche verstrickt. Wirklich?

He is also being investigated in connection with accusations of rape and molestation involving two Swedish women. Mr. Assange has denied the allegations, saying the relations were consensual. But prosecutors in Sweden have yet to formally approve charges or dismiss the case eight weeks after the complaints against Mr. Assange were filed, damaging his quest for a secure base for himself and WikiLeaks. Though he characterizes the claims as “a smear campaign,” the scandal has compounded the pressures of his cloaked life.
[…]
Within days, his liaisons with two Swedish women led to an arrest warrant on charges of rape and molestation. Karin Rosander, a spokesperson for the prosecutor, said last week that the police were continuing to investigate.

Man kann dies als nüchterne Zusammenfassung der Ereignisse lesen. Man kann aber auch nach Reizwörtern suchen und daraus einen Angriff auf Assange stricken. Ich weiß schon, welche Alternative ich als „tabloid“-Journalismus bezeichnen würde.

PS: Wer den kritischen Journalisten in sich entdecken will und die Rolle der Medien analysieren will, kann zum Beispiel den Schwerpunkt der Berichterstattung in verschiedenen Medien vergleichen. Als am Freitagabend die Sperrfrist von Wikileaks zu den Irak-Akten endete, kamen zum Beispiel Al Jazeera und CNN zeitgleich mit Sonderberichten heraus. Während sich der arabische Sender in seinem englischsprachigen Programm vor allem Einzelschicksalen widmete, die durch die US-Militärakten enthüllt wurden, brachte CNN eigentlich nur Berichte über die Berichterstattung. Was sagt das Pentagon? Was sagt der Mann auf der Straße – und das zu einem Zeitpunkt, wo niemand Gelegenheit hatte in das Material zu schauen. CNN selbst hätte die Gelegenheit gehabt – und hat die Inhalte zu Gunsten einer Sprechblasen-Berichterstattung ignoriert.

Weitere spannende Frage: Führt die Publikation zu einer Stärkung der Anti-Irakkriegs-Bewegung oder sind sie eher Antrieb für diejenigen, die einen Krieg gegen den Iran fordern. Denn sobald die Rechtsausleger an der Wikileaks-Bedrohung abgearbeitet haben, dann werden sie in den 400000 Akten viel Material finden, was sie in ihrer Überzeugung bestärken wird, dass der Iran eine unmittelbare Bedrohung sei.

PS 2: Den Cameo-Auftritt von Assange bei dem Comedy-Format Rap News finde ich lustig – er ist aber absolut unvereinbar mit seinen Beschwerden über die Personalisierung der Wikileaks-Berichterstattung und dem „tabloid journalismus“. Natürlich wird der Kampf um Wikileaks in den Medien geführt und natürlich bedient sich die US-Regierung der US-Medien, um die Glaubwürdigkeit von Wikileaks anzugreifen. Journalisten, die sich so instrumentalisieren lassen, betreiben schlechten Journalismus. Für Assange aber gibt es wohl nur ein Kriterium für guten Journalismus: er muss schreiben, was Assange will. Und alleine das.

Alternate Wiki-Reality

Coleen Rowley, FBI-Whistlerblowerin mit politischen Ambitionen springt auf den Wikileaks-Zug auf und stellt in einem Kommentar in der Los Angeles Times die Frage:

If WikiLeaks had been around in 2001, could the events of 9/11 have been prevented?

Dass die US-Sicherheitsbehörden bei dem desaströsen Anschlag 2001 spektakulär versagt haben, ist durch die Aufarbeitung der Vorgänge bekannt: Hinweise wurden ignoriert, wichtige Fakten wurden von einer Behörde nicht zur anderen weitergegeben und die Verantwortlichen sprachen zwar immer wieder vom Terrorismus, glaubten aber nicht so recht daran. Zumindest nicht an einen Anschlag in dieser Dimension.

Rowley glaubt, Wikileaks hätte damals den Anschlag zumindest verzögern können, wenn sie oder ihre Kollegen Hinweise auf einen Verdächtigen bekannt gemacht hätten.

Following up on a tip from flight school instructors who had become suspicious of the French Moroccan who claimed to want to fly a jet as an „ego boost,“ Special Agent Harry Samit and an INS colleague had detained Moussaoui. A foreign intelligence service promptly reported that he had connections with a foreign terrorist group, but FBI officials in Washington inexplicably turned down Samit’s request for authority to search Moussaoui’s laptop computer and personal effects.

WikiLeaks might have provided a pressure valve for those agents who were terribly worried about what might happen and frustrated by their superiors‘ seeming indifference. They were indeed stuck in a perplexing, no-win ethical dilemma as time ticked away. Their bosses issued continual warnings against „talking to the media“ and frowned on whistle-blowing, yet the agents felt a strong need to protect the public.

Doch Rowleys argumentiert alleine mit den Versäumnissen der Behörden, ignoriert aber die Fähigkeiten und Dynamik einer Plattform wie Wikileaks. Die Realität ist: Hätte Rowley selbst leaken wollen, hätte sie es auch damals tun können. Wikileaks hat das Whistleblowing nicht erfunden. Und selbst wenn Wikileaks existiert hätte: Rowley hätte ihre Erkenntnisse wohl nicht dort eingereicht.

Stellen wir uns aber trotzdem mal vor, Rowley hätte 2001 ihre Hinweise der damals schon real existierenden Webseite Cryptome oder dem Drudge Report gegeben. Die Story war: FBI-Agenten beschweren sich darüber, dass sie nicht gegen einen Ausländer vorgehen dürfen, der nicht gegen das Gesetz verstoßen hat und der sich den Kindheitstraum erfüllen will. Der Mobilisierungseffekt der Öffentlichkeit wäre wohl denkbar gering gewesen. Gleichzeitig wäre Rowley als Tippgeber leicht zu identifizieren gewesen. Da hätte sie auch gleich mit den Medien reden können und hätte eine wesentlich höhere Chance gehabt, dass dies zu den gewünschten Konsequenzen geführt hätte.

Zum anderen: Wikileaks als kurzer Dienstweg für Behörden mit Hunderttausenden Geheimnisträgern wäre hoffnungslos überlastet. Da die Plattform sich grundsätzlich gewandelt hat, muss man vielleicht differenzieren:

    • Das Wikileaks von 2009 hätte den FBI-Bericht vielleicht ohne weiter Analyse online gestellt – doch wer hätte das Puzzlestück im Terror-Plan identifizieren sollen und mit anderen Puzzlestücken verknüpfen sollen? Die Wikileaks-Aktivisten selbst hätten nur eine Chance gehabt, wenn sie in den unterschiedlichen Diensten des US-Sicherheitsapparat verdrahtet gewesen wären. Das sind sie aber nicht. Und dass die breite Öffentlichkeit dieses insignifikant erscheinende Detail in die korrekten Zusammenhänge gestellt hätte, ist ebenfalls sehr, sehr unwahrscheinlich.
      Das Wikileaks von 2010 hätte die FBI-Information hingegen gar nicht online gestellt, da die Nachricht nicht spektakulär gewesen war und nicht in die von den Betreibern gewünschten Narrative hinein passt.
  • Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass eine Wikileaks-Publikation den Plan auf unvorhersehbare Weise zum Scheitern gebracht hätte. Aber die Internet-Plattform wäre wohl nicht mehr gewesen als der Schmetterling, der mit seinem Flügelschlag letztlich auf der anderen Seite der Erde einen Tornado auslöst. Wikileaks verlinkt zwar gerne auf den schmeichelhaften Artikel. Die ehrliche Antwort ist aber klar: Nein, Wikileaks hätte den 11. September nicht verhindert.

    Ich weiß, was Du 2007 getan hast

    Kaum fängt die ernsthafte Aufarbeitung von Wikileaks als Phänomen an, verwandelt sich die Plattform in den Schauplatz einer soap opera. Mit Zerwürfnissen, Intrigen und Geheimnissen.

    Domscheit-Berg: i already told you up there
    Assange: those are the only persons?
    Domscheit-Berg: some folks from the club have asked me about it and i have issued that i think this would be the best behaviour
    Domscheit-Berg: thats my opinion
    Domscheit-Berg: and this is also in light to calm down the anger there about what happened in 2007
    Assange: how many people at the club?

    Vor einiger Zeit hatte Wikileaks eine verschlüsselte Datei als „insurance“ veröffentlicht. Wenn jemand gegen Wikileaks vorgeht, soll der Schlüssel veröffentlicht werden und alle Geheimnisse würden so bekannt werden. Ein fragwürdiges Unterfangen – zeugt es doch davon, dass Wikileaks auf Dauer Informationen zurückhält. Zudem: eine solche Strategie funktioniert nur bei einem spezifischen Gegner, den Wikileaks allerdings nicht hat. Kein Wunder, dass Daniel Schmitt/Domscheit-Berg damit wenig anfangen konnte, wie auch mit dem sonstigen Geheimdienst-Getöse um Assanges Privatleben.

    Nun hat also jemand anders diese Taktik angewandt. Eine ominöse Begebenheit aus dem Jahr 2007 wird ins Gespräch gebracht, die so skandalös ist, dass Julian Assange unbedingt kontrollieren will, wer davon weiß. Ein Geheimnis, das von einem engen Zirkel gewahrt wird und Assange und die Plattform Wikileaks ernsthaft diskreditieren könnte.

    Allmählich muss ich sagen: bei dem Kindergarten-Theater fällt die ernsthafte Analyse schwer. Ich freue mich lieber auf die Verfilmung der Wikileaks-Story. Keanu Reeves wird mit weißen Haaren bestimmt gut aussehen.

    Fundiertes zu Wikileaks

    Schon vor einigen Tagen veröffentlichten Geert Lovink und Patrice Riemens zehn Thesen zu Wikileaks. Sie sind viel zu lang und komplex, um sie in 140 Zeichen zusammenzufassen – deshalb hat sie wohl kaum einer gelesen. Das sollten alle Wikileaks-Interessierten schleunigst nachholen: Lovink und Riemens schieben den Hype beiseite und klopfen Konzept und Umsetzung von Wikileaks ab.

    Kurze Zusammenfassung:

    1. Das Veröffentlichen von Geheimdokumenten ist nicht neu, aber mit dem Publizieren der „Afghan War Logs“ hat Wikileaks zweifellos einen neuen Höhepunkt gesetzt. Dieses gewaltige wurde durch die dramatisch gesunkenen Kosten von Informationshaltung und Weitergabe möglich: auf der einen Seite horten Regierungen und Unternehmen riesige Aktenberge, auf der anderen Seite kann jedes kleine Leck diese Informationen offenbaren.
    2. Wikileaks ist quasi aus dem Nichts aufgetaucht und steht auf dem internationalen Parkett neben Akteuren wie dem viel größeren Pentagon. Dies sorgt bei den Aktivisten verständlicherweise für viel Selbstbewusstsein – fraglich ist jedoch, ob sich das Projekt auf Dauer hier etablieren kann.
    3. Mit seinen Angriffen auf die US-Regierung und die Kriege in Irak und Afghanistan hat Wikileaks ein dankbares Ziel ins Auge gefasst. Bereits seit Jahren wird vom Abstieg der Weltmacht USA geschrieben. Die Wikileaks-Publikationen passen prima ins Bild und werden daher von Journalisten und Öffentlichkeit begierig aufgenommen. Andere Ziele wie Russland, China oder auch Taiwan Singapur sind eine größere Herausforderung.
    4. Wikileaks zu analysieren fällt schwer, da sich auch die Aktivisten selbst noch nicht auf eine Rolle für Wikileaks geeinigt haben: publiziert man nur Informationen oder will man sie selbst analysieren?
    5. Der investigative Journalismus leidet sehr an dem im Vergleich zu früher sehr viel höheren Schritt-Tempo der Nachrichtenverarbeitung – komplizierte oder komplexe Geschichten können in kommerziellen Medien kaum noch erzählt werden. Wikileaks bietet sich hier als externe Plattform für diese Geschichten an – hat aber noch nicht wirklich einen Weg gefunden die gewaltige Aufmerksamkeit in Aufklärung umzusetzen. Tausende Dokumente stehen online, aber nur wenige werden wirklich gelesen und verstanden.
    6. Die Organisation Wikileaks ist absolut auf ihren Gründer Julian Assange zugeschnitten. Das kann ihr zum Vorteil gereichen, da Assange autonom und schnell agieren kann, als charismatischer Anführer kann er Leute begeistern. Allerdings ist dies zugleich auch eine Schwäche, da die ganze Organisation leidet, wenn ihr Gründer Fehler macht.
    7. Wikileaks ist eine Verkörperung der Hacker-Ethik der Achtziger Jahre. Die Geeks sind technisch sehr fit und idealistisch, haben aber auch den Hang zu Arroganz und Verschwörungstheorien.
    8. Das Publikum von Wikileaks ist zwar sehr enthusiastisch, wird aber bisher nicht wirklich in die Arbeit eingebunden und ist nur durch ständig neue spektakuläre Enthüllungen bei der Stange zu halten.
    9. Wikileaks ist intransparent. Das mag es einfacher machen, andere zur Transparenz zu zwingen, aber gleichzeitig wird Wikileaks selbst zum Ebenbild der Geheimniskrämer von Pentagon und Co. So bleibt die Frage offen, für welches organisatorische Modell sich die Plattform entscheiden wird – oder gar eine neue findet.
    10. Trotz aller Abwägungen und Mängel: Wikileaks hat der Transparenz, Offenheit und Demokratie einen guten Dienst geleistet.

    Wie gesagt: das ist eine kurze Zusammenfassung – das Original ist hier.

    P.S.Zugegeben: die Thesen sind weder spektakulär, noch gehen sie sehr weit in die Tiefe – sie sind aber immerhin ein Beginn. Sie gewinnen viel an Wert, wenn man sie mit dem vergleicht, was derzeit sonst zu Wikileaks publiziert wird.

    So schreibt der NBC „National investigative correspondent“ Michael Isikoff:

    Nearly 40 years before the Obama White House denounced the WikiLeaks website for publishing classified documents, another president, Richard Nixon, was even more obsessed with the same phenomenon.

    Hier sehen wir sehr schön These 5 am Zug. Einer sehr gut bezahlter Journalist verweist auf Wikileaks, weil er sich nicht mehr an Journalisten erinnert, die ihre Arbeit machen. Oder glaubt er lediglich, dass sich sein Publikum nicht erinnert? Aber nein, er treibt den Vergleich weiter:

    The White House obsession with Anderson — whose „Washington Merry Go-Round“ column was the WikiLeaks of its day

    Ja, eine Zeitungskolumne war genau das gleiche wie Wikileaks – bis auf die Tatsache, dass sich Wikileaks in so ziemlich allen relevanten Kriterien (wie zum Beispiel Arbeitsweise, Erscheinungsform, Struktur, Anspruch und Wirkung) fundamental von einer Zeitungskolumne unterscheidet. Aber wenn man davon absieht, sind beide Dinge so gut wie identisch. Geheimnisse und so.

    Aber wie sehr der Aktualitätsdruck das Hirn dieses Investigaten vernebelt hat, offenbart sich aber zwei Absätze später:

    As Feldstein writes, the plot was the culmination of a 40-year feud that dated back to the early 1950s, when Anderson uncovered a secret slush fund that wealthy backers had set up to financially support Nixon. That discovery led to Nixon’s nationally televised “Checkers” speech, in which he vowed to keep the new cocker spaniel he had bought for his daughters.

    Man muss kein allzu großer Kenner amerikanischer Geschichte sein, um zu wissen, dass Nixon den Hund eben nicht gekauft hatte, sondern das Geschenk eines Nixon-Fans war. Der Politiker benutzte den niedlichen Hund, um Berichte über illegale Vorteilnahmen zu zerstreuen. Eine Sternstunde der manipulativen Wirkung des Fernsehens: die Zuschauer saßen den niedlichen jungen Hund mit Nixons Töchtern – und alles war vergessen. Tricky Dick trug seinen Namen zu recht. Und auch 40 Jahre später zeigt die Methode noch Wirkung – bedauerlicherweise bei Leuten, die das Wort „investigative“ im Jobtitel führen.

    Character Assangination

    Die Story Das Strohfeuer des Tages war: CSI, NSA oder MI5 haben dem Staatsfeind Nummer Eins etwas angedichtet. Diese Interpretation der Ereignisse kam nicht von ungefähr.

    Die Wahrheit ist wahrscheinlich wesentlich simpler. Der Mann hat kein eigenes Bett. Und muss sich andere suchen. Der Rest ist ein emotionales Bermudadreieck.

    P.S.: Die plumpe Schwarz-Weiß-Malerei auf Twitter und in Foren ist – wie zu erwarten – deprimierend blöde. Dem müssen sich natürlich die Online-Medien anschließen. So hat Süddeutsche.de einen Mitarbeiter in Stockholm aktiviert, der allerdings ebenfalls nur die Medienberichte aufzählt, die schon alle anderen zitiert haben. Der Artikel beginnt so:

    Ist Wikileaks-Gründer Julian Assange ein Sexualtäter oder Opfer eines Geheimdienstkomplotts?

    Für eine dritte Möglichkeit ohne Verschwörung oder Vergewaltigung reicht die Fantasie wohl nicht.

    Don’t blame Wikileaks

    Die New York Times hat ein Portrait über Bradley Manning veröffentlicht, der mutmaßlich militärische Geheimdokumente an Wikileaks übergeben hat. Die Quellenlage ist dünn, die Reporter konnten offenbar nur Ansprechpartner aus dem weiteren Umfeld Mannings interviewen. Dennoch fügt sich ein Bild zusammen:

    He spent part of his childhood with his father in the arid plains of central Oklahoma, where classmates made fun of him for being a geek. He spent another part with his mother in a small, remote corner of southwest Wales, where classmates made fun of him for being gay.

    He was hired and quickly fired from a small software company, where his employer, Kord Campbell, recalled him as clean-cut and highly intelligent with an almost innate sense for programming, as well as the personality of a bull in a china shop. Then his father found out he was gay and kicked him out of the house, friends said. Mr. Clark, the Cambridge friend, said Private Manning told him he lived out of his car briefly while he worked in a series of minimum-wage retail jobs.

    Meanwhile, his military career was anything but stellar. He had been reprimanded twice, including once for assaulting an officer. He wrote in e-mails that he felt “regularly ignored” by his superiors “except when I had something essential, then it was back to ‘Bring me coffee, then sweep the floor.’ ”

    Ein Teenager, der nie im Leben eine wirklich feste Bindung hatte, der von einem sozialen Umfeld ins nächste gestoßen wird und offenkundige Probleme mit Autorität hat. Ein junger Mann, dessen sexuelle Identität der US-Army immer noch solche Angst einjagt, dass nicht darüber zu sprechen als die einzige Alternative erscheint. Er bekam trotz allem die Berechtigung zwischen Bodenwischen und Kaffeekochen Geheimakten einzusehen. Und das in einem Umfeld, in dem Soldaten Datenträger unbehelligt hinausschmuggeln können. Wer so mit vermeintlichen Geheimnissen umgeht, kann sie gleich im Radio verlesen lassen und darauf hoffen, dass niemand die richtige Frequenz einstellt.

    Wikileaks möchte unterdessen 700.000 Dollar haben, um zu brisante Informationen aus unveröffentlichten Dokumenten zu streichen. Ein bemerkenswerter Wechsel im Business-Plan.

    PS: Die US-Armee hat nun auch etwas gemerkt.

    Zwei Interviews zu Wikileaks

    CNet hat ein tolles Interview mit John Young von Cryptome.org veröffentlicht. Natürlich bleibt er dabei, dass er Wikileaks gar nicht gut findet, aber darüber hinaus verrät er einiges über seine Philosophie und wie die US-Behörden mit ihm umgingen:

    Wikileaks pledges to maintain the confidentiality of sources and stressed that in the presentation over the weekend. Do you offer your contributors the same guarantee?
    Young: No. That’s just a pitch. You cannot provide any security over the Internet, much less any other form of communication. We actually post periodically warnings not to trust our site. Don’t believe us. We offer no protection. You’re strictly on your own.

    We also say don’t trust anyone who offers you protection, whether it’s the U.S. government or anybody else. That’s a story they put out. It’s repeated to people who are a little nervous. They think they can always find someone to protect them. No, you can’t. You’ve got to protect yourself. You know where I learned that? From the cypherpunks.

    So Wikileaks cannot protect people. It’s so leaky. It’s unbelievable how leaky it is as far as security goes. But they do have a lot of smoke blowing on their site. Page after page after page about how they’re going to protect you.

    And I say, oh-oh. That’s over-promising. The very over-promising is an indication that it doesn’t work. And we know that from watching the field of intelligence and how governments operate. When they over-promise, you know they’re hiding something. People who are really trustworthy do not go around broadcasting how trustworthy I am.

    Meine Lieblingsstelle ist jedoch diese:

    Did they criticize you for, well, leaking about Wikileaks?
    Young: They certainly did. They accused me of being an old fart and jealous. And all these things that come up, that typically happen when someone doesn’t like you. That’s okay. I know you would never do that and journalists never do that, but ordinary people do this all the time.

    Because journalism is a noble profession in all its guises?
    Young: That’s right. And there’s no back-biting there.

    Der Mann hat Humor.

    Das absolute Gegenteil ist das Interview mit Julian Assange, das auf Sueddeutsche.de erschienen ist – und das von Fehlern nur so wimmelt. Wie viel davon auf Assange und wie viel auf den Interviewer zurückfällt weiß ich nicht, aber diese Stelle ist mir doch extrem übel aufgestoßen:

    SZ: Fühlen Sie sich in Europa sicher?

    Assange: Wir stehen auch hier unter Beobachtung. Wir haben in den letzten Monaten einige Vorfälle entdeckt.

    SZ: Was für Vorfälle?

    Assange: Wir sprechen nie darüber, was für Vorfälle wir entdeckt haben oder welche wir nicht entdeckt haben.

    Wikileaks verbreitet andauernd hysterische Meldungen über angebliche Repressionen, die sich aber im Nachhinein als falscher Alarm herausstellen. Wenn solche Widersprüche nicht addressiert werden, ist der Erkenntnisgewinn eines Interviews ziemlich gering.