Von Street View lernen

Die informierte Debatte ist so ein Spleen von mir. Ich will, dass die Menschen wissen, wovon sie reden. Und dann richtig loslegen, argumentieren, neue Fakten zu Tage legen oder die alten Fakten neu interpretieren. Sich mit Wörter schlagen und dann zu einer Entscheidung gelangen.

Eines der Vorzeigeprojekte der informierten Debatte ist die Debatte um Google Street View. Wir erinnern uns: 2010 überraschte uns Google auf dem falschen Fuß, indem der Konzern Straßenansichten deutscher Städte veröffentlichte. Eigentlich sah ich darin kein Problem: von öffentlichem Grund darf man in der Regel so viele Fotos machen wie man will. Doch Googles Sünder: der US-Konzern aggregierte die Daten, fasste unglaublich viele Aufnahmen so zusammen, dass man selbst einen Eindruck bekommen konnte, wie es vor Ort aussieht.

Aggregieren ist gut: Wenn man eine Menge Sachen zusammenfasst, entdeckt man neue Zusammenhänge, die bisher verborgen waren. Aggregieren ist böse: Wer Daten zusammenführt, entdeckt Dinge über uns, die vormals geheim waren. Wer dazu noch Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammenführt, weiß am Schluss vermeintlich mehr über uns als wir selbst. Aber: Bekommen wir das auch verraten?

Google Street View ist toll, denn ich kann ein Hotelzimmer mieten und bekomme direkt einen Eindruck davon, wie es dort aussieht und wie schnell ich an dem Ort der Tagung sein mag. So ein bisschen ist es heute noch, auch wenn seither viele Strecken nicht mehr stimmen, Geschäfte geschlossen, Straßen gesperrt wurden. Die Daten werden nach dem großen Street View-Streit weder ausgebaut, noch aktualisiert.

Lediglich vom Nutzen ausgesperrt?

Eine Sichtweise ist: Wir haben Google rechtzeitig einen Schuss vor den Bug geschossen. Der gewaltige datenfressende Konzern mit seinen Brillen, seinen allwissenden Handies, seiner Werbeallmacht. Er weiß nun: Mit den Deutschen kann er nicht so einfach machen, was er möchte. Eine andere Sichtweise ist: Wir haben einen Pippifax bekämpft und uns selbst von dem Nutzen dieses wirklich praktischen Dienstes ausgeschlossen. Google gestoppt haben wir nicht. Er hat immer noch seine Werbeallmacht und seine Handies und Bundestagsabgeordnete tragen seine Brillen. Und der NSA residiert woanders.

Aber: Können wir vielleicht etwas aus der Street View-Debatte lernen, wenn es um den Umgang mit den Enthüllungen rund um die NSA geht? Versuchen wir es.

Erste Lektion: Eine breite Debatte hilft nicht unbedingt weiter. Zu Street View gab jeder seinen Senf hinzu — vom kleinen Ortsbürgermeister bis zum Innenminister. Die einen brachten die anderen unter Zugzwang und auf der anderen Seite der Debatte stand im Wesentlichen nur Google. Und ein US-Konzern ist nicht unbedingt der beste Anwalt für deutsche Freiheitsrechte. Wir brauchen eine informierte Debatte, die Ressentiments zurückdrängt, dafür aber Fakten und glaubwürdige Projektionen in den Vordergrund holt.

Zweite Lektion: Wir hören immer wieder: Unser Datenschutzrecht stammt aus den Siebzigern, dem Lochkarten-Zeitalter. Fotografien werden gar behandelt, als müsste sie noch jeder Fotograf selbst in der Dunkelkammer entwickeln. Auch die Debatte verharrt auf diesem Niveau. Dass Transparenz einen Wert hat, wird langsam durch die Landtage durchgesetzt, in der Bevölkerung kommt die Botschaft nach meiner Beobachtung eher langsam an. Wie man Privatpersonen vor unbeabsichtigten Folgen der Transparenz schützen soll, ist ebenfalls ein großes Rätsel. Man macht ein paar Einschränkungen mit der Hoffnung, dass es schon den richtigen Effekt haben möge. Unterdessen überrollt uns die Welle der Transparenz.

Die Rasterfahndung ist nicht mehr die selbe, wenn wir Payback-Punkte einsacken. Das ist kein Relativismus, die Möglichkeiten der Datenverarbeitung, die Häufigkeit der Datenverarbeitung und unsere Autonomie der Dateneinlieferung haben sich wesentlich verändert. Wir müssen die informationelle Selbstbestimmung, die von der staatlichen Computerei als Machtinstrument ausging, neu denken.

Rasterfahndung neu durchdacht

Wie sich herausstellt, spielt der Staat auch weiterhin seine Macht aus, er ist immer noch weit mächtiger als Google und Facebook. Die Eingriffstiefe ist wesentlich höher, wenn wir bei Grenzübertritten festgesetzt und unsere Daten kopiert werden, wenn Staatsanwälte uns Strafbefehle schicken, weil wir zur falschen Zeit an zwei falschen Orten waren. Er ist jedoch nicht der einzige Spieler im Markt des Datendurchwühlens. Ob wir einen Eierschäler kaufen oder eine Überweisung tätigen — unsere Aktionen landen auf vielen, vielen Computersystemen, die sie mit anderen Daten zusammenspeichern.

Daten sind ein dual use: Sie können für uns und gegen uns eingesetzt werden. Oder sollen wir diese Metapher aus der Chemiewaffen-Konflikten ganz weglassen? Eine Kamera, die uns erfasst, kann uns beobachten oder Bewegungsmuster erfassen, damit Fluchtwege richtig geplant werden können, so dass im Fall des Falles nicht viele Leute sterben müssen. „Liest“ Google unsere E-Mail wirklich, wenn sie Werbung einblenden, die zu den Inhalten der Nachrichten passt? Wo hört der alltägliche Automatismus auf und wo beginnt der Missbrauch?

Daten sind weder gut noch böse, sie sind. Wie gehen wir nun damit um?

Überwachungslogik (2)

Wenn Vorratsdatenspeicherung gegen unmittelbar bevorstehende Anschläge hilft, warum hilft nicht auch Google Street View?

Lassen Terroristen ihre Schläfer-Camps verpixeln?

Blick von jenseits des Tellerrands

Im September hat sich ein Michael Bernstein vom US-amerikansischen National Public Radio auf den Weg gemacht, um den Berichten über die Proteste gegen Google und Facebook in Deutschland nachzugehen, das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Privatsphäre zu ergründen. Ich war einer derjenigen, die von Bernstein befragt wurden und ich weiß nicht, ob ich mehr zur Verwirrung oder zur Aufklärung der Situation beigetragen habe.

Jetzt ist das Ergebnis dieser Reportagereise online: herausgekommen ein interessanter Mix aus den verschiedenen Sichtweisen auf das Thema.

In a country where hanging out in the park naked is a weekend pastime, Germany has recently made international headlines for its virtual prudishness. American tech companies are under close scrutiny. Facebook was threatened with fines if it didn’t tighten its privacy controls. Apple’s iPhone 4 raised concerns over collection of user data. And then, of course, there was that enormous brouhaha over Google Street View.

Der Englische Garten hat offenbar großen Eindruck in den USA gemacht. So sind wir wohl jenseits der Atlantik als FKK-Volk bekannt. Aber wenn Bernstein historische Zusammenhänge bemüht, wird es noch interessanter: denn nicht nur der säbelschwingende Adel, sondern auch die Nazis haben uns ihren Stempel aufgedrückt.

Yale Law School Professor James Whitman says this idea has roots in Europe’s legacy of dueling. When private details went public in the past, nobles challenged the leaker to a duel with a sword or pistol. An invasion of privacy, after all, was an attack on one’s honor.
Today in Germany, weapons have been replaced by strict privacy laws. And while many Germans may think the laws were made in reaction to their totalitarian past, in fact, Whitman says, quite the contrary.

JAMES WHITMAN: The Nazis insisted on the right of every ordinary German to protection of personal dignity and personal honor. Privacy in the German sense – every member of the national community had a right to dignity, including members of the lowest social status.

The fact the fascists made this promise belonged to their competition with Communist movements. What the Nazis were saying was that where they would not redistribute wealth, they would nevertheless redistribute honor.

Eins ist mir klar geworden: Das Thema Datenschutz ist noch komplexer als ich es bisher annahm. Es fällt mir sehr schwer jemandem aus einem anderen Kulturkreis wie den USA mein Verständnis über Datenschutz und Privatsphäre zu erklären – nahezu unmöglich ist es hingegen, eine konsistente Erklärung zu finden, wie es denn dazu kam.

Aprospos:

Seit der WLAN-Affäre im Mai sind in Deutschland keine Autos mehr unterwegs. […] Nun muss sich Google in Italien einen höheren Auflage stellen. Auf der Webseite muss Google nun drei Tage im Voraus ankündigen, wo Aufnahmen geplant sind. Dies ist wesentlich genauer als in Deutschland, wo nur der Zeitraum für zwei Monate genannt wurde.

Das entspricht ja ungefähr dem, was ich im August vorgeschlagen hatte.

Lösung für das Street-View-Problem

Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt sie zu wiederholen. Während alle Welt nach einer neuen Balance zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit sucht, habe ich in die Geschichtsbücher gesehen und die Lösung gefunden. Der brtitische Locomotive Act von 1865, auch bekannt als der Red Flag Act:

Das Gesetz schrieb vor, dass ein Gefährt ohne Pferde bzw. ein Automobil mit einer Geschwindigkeit von maximal 4 Meilen (~ 6,4 km/h) in der Stunde fahren durfte. Innerhalb der Ortschaften betrug das Limit 2 Meilen pro Stunde.. Bei jedem Automobil mussten 2 Personen zum Führen des Fahrzeugs anwesend sein und ein Fußgänger hatte vorauszulaufen, der zur Warnung der Bevölkerung eine rote Flagge tragen musste. Diese Vorschrift wirkte sich 31 Jahre äußerst hinderlich auf den Verkauf, auf die Entwicklung und den Bau von Automobilen in Großbritannien aus.

Aber genug mit der Polemik.

Einer der Vorbehalte gegen Google Street View ist, dass das Google-Auto die Menschen unvorbereitet erwischt. Mal nicht Richtung Straße geguckt und schon wird ein Kinderspiel zum weltweiten Medienereignis. Das ist eine andere Dimension als der Tourist, der mit seinen Fotos das Lokalkolorit einfängt oder das Pressefoto, das in Altpapier und nie mehr aufgerufenen Archiven verschwindet.

In meiner Heimat gab es den tollen Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ – Wochen bevor die Jury durch das Dorf schritt wurden Blumenbeete aufgefüllt, Fahnen aufgehängt und Fassaden gestrichen, eine Kehrwoche eingelegt. Man wollte sich im besten Licht zeigen, wenn der Bürgermeister die weit angereisten Juroren herumführte.

Irgendwie klappt das bei Google nicht richtig. Ich erfuhr, dass Google Köln abfotografiert, als ich den Kamerawagen in der Aachener Straße sah. Nicht gerade versteckt, aber nicht so auffällig, dass es einem hätte auffallen müssen. Vor allem, wenn man auf dem Balkon grade anderen Beschäftigungenen nachgeht.

Vielleicht sollte Google neben dem Widerspruchsfomular auch einen Antrag online stellen, das eigene Haus nochmal besser fotografieren zu lassen. Wenn eh ganze Straßenzüge Widerspruch einlegen wollen, rentiert sich vielleicht die Korrekturfahrt. Für künftige Kameratouren könnte Google ja auch einen Benachrichtigungs-Service anbieten. Sie wollen wissen, wann das Google-Auto vorbeifährt? Kein Problem – Google schickt eine Mail.