Das iPhone wurde nicht verlacht

Es ist ein beliebtes Argument von Start-ups, die ein undurchdachtes, unvollständiges, vielleicht sogar ein unmögliches Produkt herausbringen wollen: Ja, es gibt Probleme, aber schließlich wurde ja auch Steve Jobs mit seinem iPhone verlacht. Macht Euch nur lustig, übt nur Kritik, aber ich trete das Erbe von Steve Jobs an und zeige Euch Neidern schon, wie es denn funktioniert. Irgendwann. Die Begeisterung für diesen Mythos ist so hoch, dass sich Theranos-Gründerin Elizabeth Holmes sogar zu einer Steve-Jobs-Kopie umstylte, um ein nicht existentes Produkt zu vermarkten. Mit gewaltigem Erfolg.

Es ist aber eine Geschichtsfälschung, wenn man behauptet, Steve Jobs sei für sein iPhone verlacht worden. Allein schon die Prämisse ist albern: Apple war schon lange kein Start-up mehr, als das iPhone vorgestellt wurde. Es war keine vage Idee, sondern ein jahrelang gründlich vorbereiteter Produktstart eines milliardenschweren Konzerns, der seine Dominanz in bestimmten Märkten auf einen neuen Markt übertragen wollte. Damals genügte es nicht, die Baupläne an einen Auftragsfertiger in Shenzen zu schicken und dann auf einen vollen Schiffscontainer mit der Ware zu warten. Zu Innovation gehört nicht nur eine Idee und ein Design, sondern auch die Fähigkeit, diese Idee umzusetzen und zu vermarkten.

Schauen wir doch einfach mal ins Presse-Archiv, das mir meine Stadtbibliothek zur Verfügung stellt. Was schrieb die Weltpresse, nachdem Steve Jobs im Januar 2007 das iPhone der Öffentlichkeit vorgestellt hatte?

Fangen wir der Einfachheit halber an mit der Pressemeldung, die Apple selbst ausgesandt hat:

Apple(R) today introduced iPhone, combining three products-a revolutionary mobile phone, a widescreen iPod(R) with touch controls, and a breakthrough Internet communications device with desktop-class email, web browsing, searching and maps-into one small and lightweight handheld device. iPhone introduces an entirely new user interface based on a large multi-touch display and pioneering new software, letting users control iPhone with just their fingers. iPhone also ushers in an era of software power and sophistication never before seen in a mobile device, which completely redefines what users can do on their mobile phones.

„iPhone is a revolutionary and magical product that is literally five years ahead of any other mobile phone,“ said Steve Jobs, Apple’s CEO. „We are all born with the ultimate pointing device — our fingers — and iPhone uses them to create the most revolutionary user interface since the mouse.“

Was auffällt: Viele Features, die wir heute mit dem iPhone verbinden, kommen nicht vor. Etwa ist der App Store nicht erwähnt, dafür aber einige wenige Programme wie Google Maps und die eingebaute Suchfunktion von Google und Yahoo. Apple schließt mit einem wichtigen Absatz: Die Firma ist kein Anfänger, sondern hat die Kompetenz, Neuerungen nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen. Und sie hat eine kampferprobte Rechtsabteilung:

Apple ignited the personal computer revolution in the 1970s with the Apple II and reinvented the personal computer in the 1980s with the Macintosh. Today, Apple continues to lead the industry in innovation with its award- winning desktop and notebook computers, OS X operating system, and iLife and professional applications. Apple is also spearheading the digital music revolution with its iPod portable music players and iTunes online store.
NOTE: Apple, the Apple logo, Mac, Mac OS, Macintosh, iPod, iTunes, Apple TV and Safari are trademarks of Apple. Other company and product names may be trademarks of their respective owners.

Die Financial Times schrieb am 10. Januar 2007:

Apple yesterday laid out ambitious plans to broaden its early lead in the digital entertainment business, announcing an iPod mobile phone and an Apple TV set-top box that together could extend the US technology company’s reach into big new consumer electronics markets.
Speaking at Apple’s annual MacWorld trade show in San Francisco, Steve Jobs, chief executive, claimed the widely anticipated cellular device, the iPhone, represented a breakthrough.
„Apple is going to reinvent the phone,“ he declared, showing off a thin, handheld device with a3.5-inch screen that displays touch-screen controls.

Der britische Guardian:

An sleek black device, almost certain to be found in thousands of handbags and pockets before the end of the year was seen for the first time yesterday when Apple unveiled its widely anticipated iPhone.
The touchscreen handset will combine internet access and iPod music with a built-in 2 megapixel digital camera and video playback features.
Apple’s chief executive, Steve Jobs, launched what he called a „magic“, „super-smart“, super-hyped device, which also provides the more mundane functions of the traditional phone.

Die New York Times:

With characteristic showmanship, Steven P. Jobs introduced Apple’s long-awaited entry into the cellphone world Tuesday, pronouncing it an achievement on a par with the Macintosh and the iPod.
The creation, the iPhone, priced at $499 or $599, will not be for everyone. It will be available with a single carrier, Cingular Wireless, at midyear. Its essential functions — music player, camera, Web browser and e-mail tool as well as phone — have become commonplace in hand-held devices.
But it was the ability to fuse those elements with a raft of innovations and Apple’s distinctive design sense that had the crowd here buzzing.

Schauen wir nach Deutschland:

Heise:

Apple steigt mit dem iPhone in einen Markt ein, der im Gegensatz zu den Musikplayern bei Einführung des iPod bereits viele starke Konkurrenten aufweist und streckenweise nahezu gesättigt erscheint. Marktbeobachter glauben dennoch, Apple könne auf dem Handymarkt zu einem wichtigen Faktor werden – und nicht nur hier Maßstäbe setzen. Die neuartige Bedienoberfläche, bei der offenbar einige Neuentwicklungen zum Tragen kommen, die in den vergangenen Monaten beispielsweise als Patentanmeldungen bekannt wurden, eignet sich nicht nur für Mobiltelefone.

Der Spiegel:

Noch ist Apples neue Umsatz-Geheimwaffe (wenn sie denn dazu wird) nur ein Prototyp. Was man anderen Herstellern als zu früh angekündigte heiße Luft vorwerfen würde, wirkt auf Apple-Fans wie eine die Konsumlust befeuernde Verheißung.

Etc, pp, usw.

Wichtiger jedoch als die anfänglichen Berichte war die Intensität der Berichterstattung. In den kommenden Wochen erschien kaum eine Ausgabe irgendeines Print-Massenmediums, in der das iPhone nicht thematisiert wurde. Nicht alles davon war positiv: Cisco stritt sich mit Apple um den Namen iPhone. Es gab einige ungeklärte Probleme mit der Börsenaufsicht SEC. Und einige Analysten bezweifelten, dass das iPhone den erfolgreichen Blackberry sofort wegfegen würde. Überhaupt bemühte sich jeder Hersteller von Mobiltelefonen darum, Hoffnung zu verbreiten: Ja, das iPhone ist spannend, aber und unsere Produkte sind solide. Was für sich genommen schon ein riesiges Kompliment für Apple war: Bisher hatte man das mysteriöse iPhone schließlich nur in der Hand des Chefverkäufers gesehen, während die Geräte von Nokia, Blackberry und sonstigen überall auf der Welt von Millionen Leuten benutzt wurden. Warum sollten sie überhaupt über ein Produkt reden, das nicht am Markt war?

Kurzum: Das iPhone war ein unbeschreiblicher Medienhype. Dass man heute ohne Probleme Kolumnen und Analysen von damals findet, die das iPhone kleinredeten und Steve Jobs überhaupt sehr fragwürdig fanden, liegt daran, dass quasi alles Vertretbare gedruckt wurde, solange nur der Publikumsliebling iPhone in der Schlagzeile erwähnt werden konnte. Sie waren jedoch krasse Außenseitermeinungen – zu einer Zeit, als krasse Außenseitermeinungen noch nicht der Kern vieler Geschäftsmodelle waren, aber in der sich neue Blogs irgendwie vom Mainstream abheben mussten.

Wenn Euer Pläne und Visionen also verlacht oder schlicht ignoriert werden, ist Steve Jobs und das iPhone so relevant für Euch wie Mahatma Gandhi.

NFTs und magisches Denken

Es fällt schwer, DAS eine Problem von NFTs zu benennen. Oft konzentrieren sich Leute darauf, dass es eine CO2-verschwendende, umweltschädliche Technologie ist. Doch ich glaube, dieser Vorwurf geht viel zu kurz. NFTs sind eine Querschnitts-Technologie, die eine ganze Reihe von Gesellschaftsproblemen vereint. Man kann sie vielleicht unter dem Schlagwort institutionalisierte Ignoranz oder magisches Denken zusammenfassen.

Der immer wieder vorgebrachte Glaube ist: NFTs werden immer im Wert steigen und gleichzeitig eine neue Egalisierung der Kreativen und ihrer Fans erzeugen. Diese beiden Ziele weisen jedoch in fundamental andere Richtungen: Kunstwerke, die immer mehr an Wert gewinnen, schließen natürlich die Schöpfer weitgehend von diesen Erträgen aus. Irgendwann müssen sie ihr Gemälde, ihre Skulptur, ihr pandimensionelles Fraktal verkaufen, um Miete und Essen zu zahlen – und ab diesem Zeitpunkt sind sie an der Wertentwicklung nicht mehr beteiligt. Van Gogh verstarb in bitterer Armut, seine Werke werden heute für über 100 Millionen Dollar gehandelt.

Es ist kein Zufall, dass der Kunstmarkt explodiert, wenn ein Künstler stirbt. Ein naheliegender Grund: Er kann nicht keine neuen Werke mehr produzieren, sodass jede Nachfrage auf ein Angebot stößt, dass nicht mehr wachsen kann. Ein anderer Faktor ist: Der Künstler kann keine Anteile mehr verlangen. Der Gewinn durch Preissteigerungen geht somit komplett in die Kasse der Händler und sie müssen nicht befürchten, dass der Künstler beim nächsten Werk einen kräftigen Aufschlag verlangt.

Zum anderen: Der Kunstmarkt, der sich nun vermeintlich der breiten Öffentlichkeit öffnet, zeichnet sich vor allem durch eins aus: Die prominentesten als NFT verkauften JPEGs sind von ausgesuchter Hässlichkeit. Es handelt sich wohlgemerkt um keine Hässlichkeit, die den Zustand der Welt oder einen Gemütszustand widerspiegelt. Sie sind unkreativ, massenproduziert, beliebig und… nunja… hässlich. Sicher: Es gibt sicher auch tolle Werke, die als NFT gehandelt werden. Nur wissen die Künstler nicht unbedingt davon.

Die Hässlichkeit ist Teil des Konzepts. Wenn niemand wirklich begreifen kann, ob sich etwas um eine gedankenlose Schmiererei oder um das geilste Kunstwerk der Welt handelt, liegt die komplette Werkschöpfung beim Marketing, beim Händler. Man muss keinen Künstler bezahlen, der sich ständig was Neues ausdenkt, der irgendetwas von sich preisgibt. Das kommerziell ideale NFT hat alle Eigenschaften eines einzelnen Zeichentrickfilm-Blattes: Sie sind sofort wiedererkennbar, liegen zu Zehntausenden vor und wer auch immer sie gezeichnet hat, hat niemals individuelle Rechte daran erworben. Die kämen der Spekulation nur in die Quere.

Nun zum zweiten Ziel: Werden NFTs nicht immer im Wert steigen? Spezifischer: Wird das Werk, das ich als NFT vermeintlich kaufe, nicht immer weiter im Wert steigen? Ich habe noch irgendwo ein Album mit wirklich schönen, limiertierten und ungenutzten Telefonkarten liegen, das sagt: Nein.

Die zentrale Säule für vermeintliche Gewinne in vielen Crypto-Anlagen ist: „Scarcity“ – zu Deutsch: Knappheit. Die Idee ist: Solange man etwas wirklich Einzigartiges oder zumindest Seltenes hat, muss es wertvoller werden. Leute sind mit dieser Idee zu Milliardären geworden. Etwa Ty Warner, der mit seinen „Beanie Babies“ in den USA eine wilde Spekulationsblase ausgelöst hatte. Viele Leute haben ihre Ersparnisse verloren, Warner hingegen ist Milliardär. Und so einige werden einen guten Schnitt gemacht haben, die früh in den Trend eingestiegen und ebenso früh wieder ausgestiegen sind.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass man die oben beschrieben widerstreitenden Ziele der Egalisierung und des Wertgewinns irgendwie vereint oder einen Kompromiss findet. Twitter zum Beispiel nutzt NFTs, um für den kostenpflichtigen Twitter-Blue-Account zu werben. 3 US-Dollar pro Monat – das klingt nicht wirklich nach einem hyperkapitalistischen Plot, oder? Nun: Würden die Leute auch ihre NFTs für 3 oder gar 20 Dollar kaufen, gäbe es kein Problem, das ich entdecken kann.

Wenn jedoch magisches Denken hinzukommt, ist da plötzlich ein Problem. Wer sich ein Angebot auf Opensea ansieht und dort entdeckt, dass ein hässliches Bild eines hässlichen Turnschuhs erst zum Gegenwert von 2000 US-Dollar, dann für 5000 Dollar, dann für 10000 Dollar weiterverkauft wurde – und das alles in nur einem Monat! – dann extrapolieren wir natürlich. Im nächsten Monat ist es sicher 20000 Dollar wert. Schließlich haben wir mit Covid Exponentialfunktionen gelernt.

Wenn man jedoch einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Warum sollte jemand dieses, und nicht eins der 50000 gleichwertigen NFTs kaufen, dann weiß niemand eine Antwort. Dann beginnen die Ausflüchte: Du hast NFTs eigentlich nicht verstanden. Sieh doch nur. 10000 US-Dollar. Die Underpants Gnomes hatten keine Ahnung. FOMO!

Das ist auch vermutlich der Grund, warum NFTs nicht zu einem umweltschonenderen Verfahren umgestiegen sind, was technisch absolut kein Problem wäre. Nur wenn man das Erstellen von NFTs ins Astronomische künstlich verteuert, kann man das Angebot klein genug halten. Doch ein Echtheitszertifikat kann jeder kostenfrei mit Open-Source-Mitteln erstellen.

Deswegen führt auch die Frage, ob nun die Blockchains zentral (sie sind es) oder dezentral sind (sie könnten es sein), nicht wirklich weiter. Das Wertvollste an einem Opensea-Item ist nicht der Link auf irgendein JPG, es ist die Kaufhistorie. Hier steckt der ganze Wert eines NFT. Hier steckt die ganze Fantasie. Hier steckt die ganze Magie.

Glaubt ihr an Magie? Dann spielt Quidditch.

PS: Ich wurde auf Gegenbeispiele aufmerksam gemacht, die auf der anderen Grundprinzipien basieren als OpenSea und daher für einige meiner Kritikpunkte oben nicht anfällig sind. Sie basieren beispielsweise auf der Tezos-Plattform, die pro Mint-Vorgang nicht unheimliche Mengen CO2 verbraucht und auch für Künstler sehr günstige Tarife anbietet.

Das Problem mit diesen Beispielen ist: Der Tezos-Kurs hat laut Coinbase am 4. Oktober 2021 einen Peak erlebt und war da umgerechnet 7,86 Euro wert. Heute sind es 2,65 Euro, ziemlich genau ein Drittel. Der real existierende NFT-Markt hat also eine klare Präferenz gegen diese Modelle, die nach oben skizzierten Gesichtspunkten günstiger für Künstler wären.

Supermärkte: Lasst uns mehr abholen

Es wird zurzeit viel über Gorillas und Co geschrieben, aber kaum jemand beachtet einen Dienst, den ich für wegweisend halt: Onlinebestellung mit Selbstabholung.

Seit Beginn der Pandemie erledige ich einen Großteil meiner Einkäufe auf diese Weise. Zwei Supermärkte in meiner Umgebung bieten einen richtigen Abholservice an. Das heißt: Ich muss nicht in den Supermarkt, sondern kann an einem separaten Eingang meine Ware abholen, die dort fachgerecht gekühlt auf mich wartet. Pro Abholung kostet mich das zwei Euro.

Abgesehen von Corona sollte alleine der gesparte Aufwand diesen Preis wert sein. Zum einen spare ich eine Menge Zeit. Zum anderen kann ich über die Onlinebestellung deutlich rationaler Einkaufen: Ich muss keine Sonderangebote suchen und ich stehe weniger in Versuchung, Dinge zu kaufen, die ich eigentlich nicht benötige. Besonders gefällt mir das Bestellportal von Rewe, dass mir die passenden Sonderangebote gemäß meiner Einkaufshistorie hervorhebt.

vorgeschlagene Artikel auf rewe.de

Die Abholung ist dennoch nicht gleichwertig zum normalen Einkaufen. Zum einen ist das Angebot eingeschränkt. Viele Artikel sind nicht bestellbar. Insbesondere frisches Brot fehlt mir immer wieder, obwohl einer der Supermärkte eine ausgezeichnete Bäckertheke hat. Zum anderen kann ich die Ware vor dem Kauf nicht begutachten. Aber hier gibt es in der Regel keine Probleme: Mir wurden niemals welker Salat oder matschige Tomaten angeboten.

Das System leidet aber unter der geringen Nachfrage. Oft muss ich klingeln, damit jemand kommt, um mir die Ware auszuhändigen. Lediglich in Ausnahmefällen gibt es eine minimale Schlange. Das ist einerseits positiv für mich, zum anderen aber auch hinderlich. Solange die Online-Abholung nur eine Fußnote im Geschäftsmodell ist, wird das Angebot nicht verbessert.

Dabei gibt es hier reichlich Potenzial. Heute funktioniert es so: Die Ware wird erst in die Regale eingeräumt und dann wieder von anderen Mitarbeitern aus den Regalen herausgenommen. Man kann diese Mitarbeiter in den Supermärkten sehen, wie sie mit speziellen Einkaufswagen gleichzeitig sechs oder zehn Einkäufe gleichzeitig erledigen. Gäbe es hingegen eine große und stetige Nachfrage, könnten sich die Supermärkte sparen, die Waren erst einzuräumen. Auch die Abholung könnte rationalisiert werden. Noch muss man eine relativ lange Vorlaufzeit akzeptieren, Spontaneinkäufe sind nicht möglich. Zudem muss ich notgedrungen eine personalisierte Einkaufshistorie hinterlassen.

Ich bemerke aber auch schon Besserungen. So ist den Supermärkten aufgefallen, dass sie die Mengenangaben anpassen müssen: Fleisch lässt sich 100-Gramm-weise kaufen, statt in den üblichen Packungen, die rein zufällig immer deutlich mehr enthalten, als man für eine oder zwei Portionen braucht.

Konsequent umgesetzt könnte man so auch Unverpackt-Läden realisieren. Oftmals sind Waren wie Salatgurken nur in Plastik eingeschweißt, um Bio- von anderen Waren zu unterscheiden. Wenn der Supermarkt selbst sortiert, ist das unnötig. Wäre das nicht super? Man kommt von der Arbeit oder vom Kindergarten und holt seine Einkäufe in dem idealen Behältnis ab – etwa eine Klapp-Kiste, die genau in ein Lastenfahrrad passt.

Diese Lösung hätte zumindest in meinem Umfeld viele Vorteile: Sie kommt mit einem Minimum von Arbeit aus: Der Supermarkt muss keine Fahrer suchen, ich muss nicht in einem stundenlangen Zeitfenster auf die Lieferung warten. Zum zweiten habe ich volle Autonomie, da ich mir selbst aussuchen kann, wann ich Zeit habe. Zudem kann ich die Angebote besser vergleichen.

Kurzum: Zehn-Minuten-Lieferdienste sind zwar ein scheinbar innovatives Modell, lösen aber tatsächlich kein Problem: Niemand kann seinen ganzen Bedarf damit decken, es entsteht auch keine Infrastruktur, die mehr als einem Unternehmen dienen kann. Die engagierten Fahrer müssen sich drauf gefasst machen, gefeuert zu werden, sobald die Investoren ein anderes Spielzeug gefunden haben. Der Abholsupermarkt kann hingegen den Ressourcenverbrauch in der Stadt reduzieren und gleichzeitig ein nachhaltigeres Einkaufen fördern.

Werbelinks 1

Es passiert grade sehr viel in Sachen Werbung. — also packe ich interessante Links und Schnippsel in mein Blog.

1. Das politische Narrativ ist: Wenn man nur etwas gegen die datenverschlingenden Konzerne aus dem Silicon Valley aktiv wird, ist nicht nur dem Datenschutz gedient, sondern automatisch auch dem Wettbewerb. Doch dies ist falsch und irreführend. Denn grade sind es ja die Konzerne aus dem Silicon Valley, die die Datenhaltung zurückfahren wollen. Gilad Edelman dröselt das bei Wired auf: Antitrust and Privacy Are on a Collision Course

Sometimes, however, the privacy and competition relationship is inverted: As you turn the privacy dial up, you get less variety in the market. This is increasingly the case now that the most monopolistic companies are often the ones making the most extensive and lucrative use of personal data.

2. In einem Punkt ist der vorige Artikel jedoch falsch: „But since Apple doesn’t make its money by selling personalized ads based on surveilling user behavior, it’s harder to argue that it is hoarding access to user data for its own purposes.“ Tatsächlich macht Apple eine Menge Geld mit personalisierter Werbung. Indirekt, weil Apple beträchtliche Provisionen etwa von Google kassiert und weil ein großer Teil der für Apple-Kunden kostenfreien Apps werbefinanziert sind. Aber Apple hat auch ein direktes Werbegeschäft, wie Valentino Volonghi auf Twitter anmerkt:

(Ihr wollt keine Cookie-Banner für Tweets in Euer Blog einbauen? Link und Screenshot!)

3. Das ist auch den Aufsichtsbehörden in Frankreich aufgefallen. Zwar darf Apple die Datensammlung im Interesse seiner Kunden reduzieren, ist dann aber auch rechenschaftspflichtig, wie Dusan Zivadinovic in der c’t schreibt:

Damit ist der Fall aber noch nicht abgeschlossen. Die Behörde will Apples Datenschutzinitiative näher beleuchten und sicherstellen, dass sie keine „Form der Diskriminierung“ oder gar Selbstbevorzugung darstellt. Apple betonte nach der Entscheidung erneut, dass Datenschutz ein „fundamentales Menschenrecht“ sei. Die ATT-Regeln seien auch für Apple selbst bindend.

4. Parallel hat die Datenaufsichtsbehörde CNIL in Frankreich zum April die Übergangsphase für korrekt gesetzte Cookie mit korrekt erhobenen Zustimmung der Kunden für beendet erklärt und will Verstöße nun endlich verfolgen. Dies ist vermutlich ein Grund, warum Google seine eigenen Cookie-Banner bereits etwas aufgepimpt hat.

Google-Cookiebanner

Die Bons und die Blockchain

Über Jahre habe ich mich lustig gemacht, dass es keine wirklich praktischen Anwendungen für die Blockchain-Technik gebe. Nun gibt es doch einen Use Case — und alle anderen machen sich drüber lustig.

Ihr habt sicher einige der Berichte gesehen. Ab 2020 sollen so ziemlich alle Geschäfte verpflichtend Kassenzettel ausdrucken. Auf Papier! Sogar beim Bäcker!! Wie zurückgeblieben!!! Und dann gab es noch dieses Facebook-Posting der Bäckerei, die mal eben alle Kassenzettel von zwei Tagen aus den Boden ausgeschüttet hat. Da wiehert der Amtsschimmel und der Laie wundert sich.

Bäckerei mit Bons auf dem Fußboden

Was aus unerfindlichen Gründen in all den Berichten nie erwähnt wird: Diese Bons sind nicht einfach nur Kassenzettel. Sie sind die absolut nachvollziehbare Anwendung der Blockchain-Technologie. In etwa wie Bitcoins — nur ausnahmsweise mal sinnvoll angewendet.

Eine Kasse ist ein Computer

Worum geht es? Nun, ich erinnere mich noch an meinen ersten Urlaub in Italien, eine Klassenfahrt. Dort gab es einen winzigen Laden in der Nähe des Strandes, bei dem etwas ganz merkwürdig war. Der Besitzer hatte eine große Registrierkasse neben sich stehen. Wenn wir dort aber ein Brot oder ein Eis kauften, tippte er die Beträge lediglich in einen großen Taschenrechner ein und kassierte den Betrag von uns. Erst Jahre später verstand ich: Das war praktizierte Steuerhinterziehung. Der Ladenbesitzer bezahlte nur Steuern auf die Beträge, die er in die Kasse tippte. Die Einnahmen, die nur im Taschenrechner landeten, waren steuerfrei.

Nun könnte man sich auf den stolz-teutonischen Standpunkt stellen: Ja, so ist das halt im Süden. Bei uns ist das doch etwas ganz anderes. Unsere Ladenbesitzer sind stolz auf ihre Registrierkassen und zahlen absolut korrekt ihre Steuern. Denn die Maschinen sind geeicht — und was gedruckt wird, lässt sich nicht so einfach wieder ausradieren.

Problem daran: Diese Vorstellung wurde zwar auch gerne von der Politik gepflegt, sie entsprach aber absolut nicht der Realität. Gerade im vergangenen Jahrzehnt wurde es immer offensichtlicher: Statt plump an der Registrierkasse vorbei Beträge zu kassieren, gab es einen schwunghaften Handel mit manipulierten oder manipulierbaren Registrierkassen. Auch wenn die Angestellten im Laden den ganzen Tag korrekt und richtige Beiträge eingaben, konnte der Besitzer am Abend mal eben die Kasse umprogrammieren und nach Belieben Buchungen wieder löschen. Folge: Der Umsatz schwindet, der Gewinn noch mehr und damit auch die Steuerlast.

Wirkliche Sorgen mussten sich die Schummler nicht machen. Denn die Methoden wurden immer raffinierter. So wurde etwa 2017 ein professionelles Betrugsnetzwerk abgeurteilt:

Der Saarländer soll die Kassen nebst Software dann 2006 an die Wirte im Saarland geliefert haben. Laut Aussage der Beteiligten lief der Steuerbetrug dann regelmäßig nach dem gleichen Muster ab. Zunächst wurde regulär abgerechnet und gebucht. Anschließend wurde ein Teil des Umsatzes aus der Kasse entnommen und in einen speziellen Tresor gebracht. Einmal im Monat kam dann einer der verantwortlichen Wirte mit dem USB-Stick und rechnete den Umsatz neu aus. Nach Erkenntnis der Ermittler soll der jeweilige Umsatz so in einer Größenordnung von bis zu 15, vielleicht sogar 20 Prozent nach unten korrigiert worden sein.

Die Betrüger hatten eins erkannt: Eine Registrierkasse ist an sich nichts weiter als ein Computer in einer merkwürdigen Bauform. Und wie jeden Computer kann man sie umprogrammieren. Waren die Beträge einmal gelöscht, dann konnte man dem Besitzer in der Praxis fast immer nichts nachweisen. So konnten Steuerfahnder nicht mal die Registrierkassen auf Manipulationen überprüfen — die falsche Software war auf einem externen USB-Stick gespeichert und hinterließ keine Spuren. Der geschätzte Schaden: Zwischen fünf und zehn Milliarden Euro jedes Jahr.

Eine der wenigen Möglichkeiten, den alltäglich gewordenen Betrug zu bekämpfen: Ein Finanzbeamter konnte in den Laden gehen und etwas kaufen. Löschte der Besitzer dann ausgerechnet diese Buchung, war er geliefert. Seine komplette Buchhaltung war als Betrug entlarvt.Erhärtete sich der Verdacht konnte dann das Finanzamt frei schätzen, wie viel Steuern der Geschäftsinhaber wirklich zu zahlen hat. Dann wurde es richtig, richtig teuer. Aber das passierte richtig, richtig selten.

Die Lösung: Stempeln gehen

Was ändert sich also mit der neuen Bon-Pflicht? Schließlich ist es immer noch sehr unwahrscheinlich, dass der Steuerfahnder genau einen Gegenstand kauft, der dann aus der Buchführung verschwindet. Nun: Hier ist der Clou: Die Bons enthalten eine — ich behandele den Begriff hier etwas frei — Blockchain-Signatur! Und damit quasi technologische Zauberkraft!

Aber nein, wie ich bereits einmal dargelegt habe, ist das Grundprinzip der Blockchain eine Art Stempel. Ein Stempel mit einem Kniff. Statt nur eine Quittung einzeln abzustempeln, ist in der Blockchain-Signatur ein kleines Stück von allen vorhergehenden Quittungen enthalten. Sprich: Mit einer Quittung kann man nachweisen, dass die gesamte Buchführung bis dahin in Ordnung war.

Nun — fragen mich so manche — Nun, Torsten, wenn wir eine Blockchain haben, wozu brauchen wir dann noch die Bons? Die Antwort in meiner Metapher ist: Die Blockchain-Technik ist ja nur der Stempel. Wir brauchen immer noch etwas, was wir abstempeln können. Oder eine etwas technisch korrektere Analogie: Bei dem Bon handelt es sich sozusagen um den zweiten Faktor einer Zwei-Faktor-Authentifizierung.

Die Sache funktioniert so: Auch mit Blockchain-Technik könnte ein Besitzer seine Registrierkasse nehmen und sie umprogrammieren. Würde er ein paar Buchungen löschen, ändert sich die Blockchain-Signatur sofort komplett. Das könnte ihm aber egal sein: Das Finanzamt kennt ja nicht die korrekte Signatur. Und da kommen die Bons ins Spiel. Nur wenn jeder Kunde tatsächlich einen Kassenzettel angeboten bekommt, kann der Besitzer seine Buchführung nicht mehr nachträglich ändern. Würde man Bons nur auf Verlangen ausdrucken, hätte es der Ladenbesitzer einfach. Da kaum ein Kunde Bons haben will, bleibt die Buchung so lange korrekt, bis niemand mehr einen Bon haben will. Der Rest ist frei zur Manipulation. Denn die Registrierkasse ist ein Computer und macht, was ihr Besitzer will. So ist es bei Spielekonsolen, so ist es bei Wahlcomputern. Computer sind Computer — auch wenn sie merkwürdig aussehen.

Gibt es denn wirklich keinen anderen Weg als Milliarden Bons auszudrucken? Natürlich gäbe es die. Aber auch die haben ihren Preis. So könnte das Finanzamt fordern, dass alle Buchungen in Echtzeit an den Staat übermittelt werden. Was gar nicht gut für den Datenschutz von uns allen wäre. Eine andere Möglichkeit ist schon im Gesetz vorgesehen: Bons müssen nicht in Papierform übermittelt werden. Stattdessen könnte man sie dem Kunden per E-Mail schicken, etwa auf sein PayBack-Konto buchen oder parallel zu ApplePay und GooglePay direkt ans Handy übermitteln. Dem Bäcker würde das wohl nicht so viel helfen, aber würden zum Beispiel die Supermärkte in die Gänge kommen, wären die Mehr-Bons ganz schnell eingespart. Und wenn wenigstens vier Milliarden pro Jahr dabei rausspringen, ist es für den Steuerzahler ein sehr gutes Geschäft. Danke, Merkle Tree.

PS: Hier noch ein paar Antworten auf noch offene Fragen.

Der Clou am Targeting

Alle paar Tage sehe ich eine neue Studie zu Social Bots und Microtargeting aufpoppen. Und sie haben im wesentlichen eine gemeinsame Botschaft: Auch wenn es diese Phänomene gibt, so ist ihre Wirkung höchst zweifelhaft. So zum Beispiel in diesem Beitrag von Keno C. Potthast über „Political Microtargeting“ – kurz:PMT.

Ganz grundsätzlich stellt sich aber bereits die Frage, ob und wie PMT überhaupt wirkt. Lassen sich Wähler*innen durch eine bloße Anzeige im Netz tatsächlich beeinflussen oder werden sie dadurch vielleicht sogar zur Partizipation und der Teilnahme am öffentlichen Diskurs animiert? Gleichermaßen ist auch hier zu konstatieren: Die Wissenschaft hat noch keine Antworten auf diese Fragen. Ob PMT eine Chance oder Risiko darstellt und wie gefährlich es tatsächlich ist, lässt sich noch nicht abschließend klären.

Kann eine einzige Anzeige einen Menschen umpolen? Wie wahnsinnig überzeugend müsste eine Anzeige sein, dass jemand vom SPD- zum AfD-Wähler wird — oder umgekehrt? Selbst wenn man lügen darf, würde wohl kaum jemand behaupten, dass er eine tolle Idee hat, wie man dies erreichen soll. Und dazu das Problem: Wird das Ziel der Kampagne diese einzelne Anzeige überhaupt sehen? Die meisten Werbebanner werden ja unbeachtet weggescrollt.

Solche Fragestellungen und Betrachtungen verkennen jedoch die grundsätzliche Funktionsweise des Werbemarktes. Es geht nicht um eine einzige Anzeige. Jeder kann sich mal überlegen, wie oft wir in den letzten Tage allesamt die aktuelle MediaMarkt-Kampagne mit Barbara Schöneberger gesehen haben. Auf Plakaten, im Fernsehen, auf YouTube, auf Bannern, im U-Bahn-TV, auf Instagram, und, und, und… Werbung ist ein Spiel auf Masse.

Der Clou am Targeting: Es ist ein konstanter Prozess. Tag für Tag. Hunderte und Tausende von Anzeigen. Nicht nur von einer Kampagne, sondern von Hunderten. Der Black Friday ist vielleicht das ideale Beispiel. Denn bei jedem einzelnen User scrollen einige Anzeigen für die Sonderangebote vorbei. Wer jedoch auf Facebook oder Google eine solche Anzeige anklickt und vielleicht sogar direkt etwas bestellt, wird sofort als als ideales Ziel für Black Friday-Kampagnen markiert. Dank eines lebhaften Adtech-Marktes und einem ständigen Geiz der Auftraggeber wandert die frohe Kunde von Datendienstleister zu Datendienstleister, von Werbenetzwerk zu Werbenetzwerk, von Facebook zu Twitter, von dem Nachrichtenportal zur Porno-Website. Denn all die Werbeanzeigen werden über die Rechner von Datenbrokern umgeleitet, die ständig versuchen, das letzte bisschen an Information auszuquetschen und zu vermarkten.

Wer einen Einblick bekommen will, kann etwa sein Twitter-Werbeprofil ansehen. Hunderte vermeintliche Interessen werden mit den Interessen aus anderen Datenbanken zusammengeführt und ab und zu bindet ein besonders eifriger Werbekunde noch eine Schleife darum und bindet ein Profil an eine „maßgeschneiderte Zielgruppe“. Das ist nur die alleroberste Schicht des Targetings. Wo diese Daten überall eingesetzt werden, weiß vermutlich nicht mal Twitter. Screenshot Twitter-Werbeprofil

Zweiter entscheidender Schritt: Das Micro-Targeting beruht auf einem Auktionssystem. Das mag bestimmte Anzeigenplätze zuweilen sehr teuer machen — aber durch die Bank wird Werbung sehr, sehr billig. Ich hatte vor Jahren mal das Anzeigen-Tool von Facebook erprobt und mit einem Gesamtbudget von unter 25 Euro konnte ich gezielte Anzeigen an meinen Redakteur schicken. Wer tatächlich länger im Markt ist und sich nicht davor scheut, in zwielichtigen Kontexten aufzutauchen, kann den gleichen Effekt mit Ausgaben von einigen Cent erreichen. Mit Microtargeting wird es weitgehend irrelevant, auf welcher Website, neben welchem Inhalt man wirbt. Und wer keine ethischen Maßstäbe hat, der kann sich heute an dem reichhaltigen Buffet bedienen, das als nicht „brand safe“ gilt und die Anzeigenplätze bekommen, wo Coca-Cola, MacDonalds und Nivea keine Werbung machen wollen. Zum Spottpreis.

Was haben wir nun? Eine fast unendliche Vielfalt von Werbeplätzen, die für unglaublich billige Preise und ohne Transparenz anzusteuern sind. Nun kommt noch das Profiling. Wenn man einmal als Black-Friday-Fan markiert ist, wird man mitunter einen schlagenden Effekt bemerken. Plötzlich handeln alle Anzeigen nur noch von diesem geheiligten Tag des Konsums. Keine Werbung für Autoversicherungen, keine Werbung für Blockchain-Anlegerverladen, und erheblich weniger Werbung, um in nur acht Tagen sieben Sprachen zu lernen! Stattdessen: Black Friday en masse. Und dann Cyber Monday.

Ähnlich kann dies auch in einem Wahlkampf passieren. Der Clou — insbesondere im US-Wahlkampf: Verschiedene Kampagnen können aufeinander aufbauen. Wer beispielsweise einmal auf eine Anzeige mit einer Fake-News geklickt hat, kann plötzlich zum Ziel legitimerer Werbung eines Super-PACs werden. Oder eines Kandidaten selbst. Oder der Firmen in Mazedonien, die keinerlei Interesse an einer politischen Kampagne haben, aber entdeckt haben, dass sie nur ein paar Fake-News-Websites aufbauen müssen, um all ihre Werbeplätze automatisch zu verkaufen.

Ein AI-gestütztes Marketing-Tool kann zum Beispiel die Kategorie „Judenhasser“ schaffen. Es ist niemand nötig, der diesen Effekt durchplant. Wahrscheinlich verpufft die Fake-News-Kampagne bei den allermeisten Nutzern. Bei einigen erreichen sie jedoch wahrscheinlich eine lawinenartige Masse und Geschwindigkeit und schlägt mit voller Wucht zu. Vielleicht reicht es aus, um die gesamte Facebook-Timeline umzuprogrammieren. Vielleicht reicht es aus, einen Menschen in einen Dauer-Aktivisten zu verwandeln, der 14 Stunden am Tag bei Twitter und Facebook postet und von einem Social Bot nicht mehr zu unterscheiden ist. Denn für soziale Netzwerke ist das Werbeprofil das entscheidende Profil. Und danach werden die Beiträge sortiert, die wir tagtäglich als erstes sehen. Vielleicht geht es sogar soweit, dass „Asylkritiker“ auf Porno-Seiten maßgeschneiderte Inhalte sehen, die sie in ihren ärgsten Ängsten bestätigen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fake-News und Social-Bots basiert weitgehend auf einem Werbesystem, das längst durch eine viel komplexere Version ersetzt wurde. Es ist nicht mehr notwendig, dass irgendjemand die Beeinflussung von Wählern zentral durchplant. Das dominierende Werbesystem hat viele verstärkende Effekte eingeführt, die so manche Kampagne unvermutet nach oben schwimmen lässt, so dass sie schließlich die komplette Online-Wahrnehmung eines Menschen prägen kann. Wer wirklich ergründen will, welchen Einfluss Micro-Targeting, Social Bots und Fake-News haben, muss daher den Werbemarkt mitanalysieren.

Impeachment-Podcasts

Es gibt wohl kein besseres Themas für Podcasts als das Impeachment-Verfahren gegen US-Präsident Donald Trump. Jeden interessiert das Thema irgendwie und trotz eines Überangebots an Berichterstattung gibt ein großes Bedürfnis nach einzelnen Stimmen, die Ordnung ins Chaos bringen. Zudem: Der Werbemarkt floriert und man kann endlich gutes Geld mit Podcasts verdienen. Ergebnis: US-Medien haben in den letzten Wochen eine ganze Flut an Spezial-Podcasts gestartet – von CNN bis zu Buzzfeed. Sogar Rudy Guiliani plante einen eigenen Podcast.

Ich habe mir alle angehört und fand die Erfahrung spannend. Denn obwohl sich mittlerweile ein recht einheitliches Podcast-Format herausgebildet hat — vom musikalischen Intro über die Anzahl der Gäste bis zum Tonfall des Moderators — sind die Ansätze sehr verschieden. Sie illustrieren, wie Medienunternehmen funktionieren, wie sie mit Standpunkten und Neutralität umgehen und welches Publikum sie suchen, um Geld zu verdienen. Ein Überblick.

 

Buzzfeed und iHeartRadio: Impeachment Today

Buzzfeed und iHeart Radio haben in ihrem Impeachment-Podcast die gesammelte Kompetenz zur Millenial-Bespaßung zusammengeworfen. Moderiert wird die Sendung vom Buzzfeed-Redakteur Hayes Brown, der ständig viel zu gut gelaunt zu sein scheint. Seine Attitüde: Er trifft seine Zuhörer auf ein IPA-Bier und erzählt ihnen, was heute wieder voll krasses passiert ist. Es ist ein wenig so, als ob er dem Hörer die letzte Folge von Games Of Thrones nacherzählt. Dabei lässt er kaum ein Klischee aus. Um die Abfolge der Zeugen zu erklären, greift Brown etwa zu einem Pokémon-Vergleich.

Trotz der kumpeligen Attiüde ist der Podcast sehr professionell: prägnant, auf den Punkt, durchformatiert. Nach ein paar Minuten, in denen Brown das Tagesgeschehen zusammenfasst gibt es den „Nixon-O-Meter“, auf dem jeweiligen Tag eine Wertung verpasst wird. Dann ein Studiogespräch mit einem Reporter oder einem Experten. Oder ein Hintergrundstück zu einer Person. Am Schluss gibt es dann noch den „Kicker“, also ein Share-Quote, ein Tweet oder ein Meme, das den Tag möglichst prägnant zusammenfassen soll.

Alles in allem ist der Podcast sehr gut produziert und versucht zwischen „News“ und „Noise“ zu unterscheiden. Die allzu gute Laune, die dabei verbreitet wird — Slogan: „Impeachment. What a time to be alive! 🍑“ — stößt mit manchmal etwas störend auf. Der Informationsgehalt hält sich aber deutlich in Grenzen — viel zu bemüht, versucht das Format zu vermeiden, dass die Aufmerksamkeit abschweift und die Hörer einfach auf den nächsten Podcast wechseln. Deshalb lohnt eher für Leute, die sich noch nie mit den Unterschieden zwischen Senat und Repräsentenhaus befasst haben und dringend eine positive Attitüde suchen.

 

Washington Post: Impeachment Inquiry

Deutlich anders ist die Herangehensweise der Washington Post — wenn auch nicht weniger professionell. Die Hauptstadt-Zeitung baut hauptsächlich auf eigene Reporter und das eigene Motto: „Democracy dies in darkness“. Statt um die Unterhaltung der Zuhörer geht es um pure Information und Analyse. Wer hat was gesagt? Was bedeutet das im Kontext des Verfahrens? Welche Bezüge muss der Zuhörer ziehen, um die gesamte Tragweite zu verstehen?

Der Podcast ist deutlich mehr aktualitätsorientiert — deshalb kann es auch schon mal passieren, dass gleich zwei Folgen an einem Tag veröffentlicht werden. Zielgruppe sind offenbar die Polit-Junkies, die sich dauernd auf dem Laufenden halten wollen. Gleichzeitig muss man sagen: Die Investitionen von Jeff Bezos ins Digitale und Multimediale haben sich gelohnt. Wir haben es mit Reportern zu tun, die am Mikrofon trainiert sind, zuweilen untermalt Hintergrundmusik die aktuelle Zusammenfassung.

Während der Buzzfeed-Podcast zu gut gelaunt, kommt die Washington Post stellenweise etwas zu trocken rüber. In Gesprächen mit den eigenen Reportern wird ab und zu etwas Persönlichkeit eingebracht, was dann teilweise wieder zu Lasten der Genauigkeit geht.

 

NBC News: Article II: Inside Impeachment

Wie sehr das Ursprungs-Medium auf einen Podcast wirkt, kann man bei NBC verfolgen. Wir kennen den Vorwurf seit vielen Jahren, dass Journalisten und insbesondere Fernseh-Nachrichtenprogramme eine Pseudo-Neutralität entwickelt haben: Sie wollen grundsätzlich beide Seiten eines Konflikts darstellen — selbst wenn es eigentlich nur eine Seite gibt. Ergebnis: Experten für den Klimawandel mussten sich konstant den Bildschirm mit Leuten teilen, die aus eigener Überzeugung oder gegen Bezahlung die Realität negierten und deren einziges Arguiment daraus besteht, die andere Seite niederzuschreien. Oder anders gesagt: Good TV.

Diese Haltung merkt man auch noch im Jahr 2019 und auch in einem Podcast, der sich ja nicht an die Konventionen des Bildschirms halten müsste. Schließlich gibt es hier auch keine Splitscreens wo bis zu acht Leute durcheinander reden. Dennoch zeigt sich der Gedanke, dass sich journalistische Fairness in Sendeminuten manifestiert, auch hier. Oft hören wir etwa erstaunlich lange die Einlassungen von Devin Nunes, selbst wenn der absolut nichts Erhellendes sagt. Denn schließlich hat auch der Podcast lange O-Töne von den Zeugen und Demokraten.

Immerhin: Im Podcast tut niemand mehr so, dass alles legitime Standpunkte wären. In einer Episode rechtfertigt sich der für das Weiße Haus zuständige Korrespondent Geoff Bennett sogar, dass seine Analyse so einseitig ausfällt.

And when I say that, I realize that we live in an era in which the President has cast the pursuit of truth as a partisan enterprise. And so saying things that are steeped in my own reporting and my own just knowledge of how this whole thing has worked because I’ve been so close to it for three months, it sounds as if I’m editorializing. It sounds as if I’m being partisan. But it really is not. It’s a reflection of the now 15 witnesses who have provided 112 hours of testimony, our reporting based on that testimony, and then the 11 transcripts that we’ve read so far.

Man kann aus dem Eingeständnis eine positive und eine negative Erkenntnis ziehen. Über Jahrzehnte haben Medien aus falsch verstandener, institutionalierter und ineffektiver Neutralität immer extremeren Positionen eine Plattform geboten, während der gesellschaftliche Diskurs immer mehr von Leuten bestimmt wird, die keinerlei Neutralitätsgebot mehr kennen. Der Impeachment-Prozess ist auf viele Weise das Ergebnis dieser Entwicklung: So sind es auch Artikel in etablierten Medien wie Politico, The Hill und The New York Times, auf die sich die Verschwörungstheorien stützen, die Trump und Konsorten zu ihrem Vorgehen in der Ukraine inspiriert haben. Die positive Nachricht: Die institutionalisierten Journalisten bemerken es nun.

CNN: The Daily DC: Impeachment Watch

CNN hatte dieses Neutralitätsproblem in den vergangenen Jahren auf die Spitze getrieben. Man lädt nicht nur die eifrigsten und lautesten Partisanen in die eigenen Sendungen ein, man engagiert sie direkt. Dies gipfelte in einem Anstellungs-Vertrag für Trumps Kampagnen-Manager Corey Lewandowski, obwohl der eine Breitbart-Reporterin sogar physisch angegriffen haben soll und offensichtlich keinerlei Interesse an einer faktenbasierten oder ehrlichen Berichterstattung hat.

Screenshot CNN-Podcast

In „Impeachment Watch“ zeigt CNN, das eine solche Drehtür zwischen Politik und Massenmedien nicht nur Schreihälse nach vorne holt, sondern auch institutionelles Gedächtnis nutzbar macht. Dies wird zum Beispiel klar, wenn Samantha Vinograd auftritt, die unter Obama im National Security Council gearbeitet hat. Diese Perspektive bietet durchaus interessante Punkte. So kennen die ehemaligen „political operatives“ das Geschäft und verschwenden keine Zeit damit, sich darüber zu amüsieren, dass Republikaner einem Zeugen wie David Holmes keine Fragen stellen, sondern die TV-Übertragungen lieber für eigene Statements nutzen. Denn natürlich spielt der Zeitablauf des Verfahrens eine große Rolle und man will der amerikanischen Öffentlichkeit über Thanksgiving die wichtigsten Talking Points mitgeben.

 

Vox: Impeachment, Explained

Ezra Klein hat einen ähnlichen Weg gewählt. Seine Karriere startete er als Wahlkämpfer für die Demokraten, sattelte aber recht schnell zum Politjournalismus über. Mit VOX.com hat er das onlinejournalistische Äquivalent der TED-Talks geschaffen: Hier bietet er dem Publikum nicht nur einen Point Of View an, sondern erklärt auch in langen Hintergrundstücken, wie man zu diesem Standpunkt gelangen musste. Wöchentlich spricht Klein in seinem Podcast mit Autoren über ihre neuen Bücher über Politik und Gesellschaft, indem er über mehr als eine Stunde den Eindruck erweckt, jedes Buch tatsächlich gelesen zu haben. Kleins Fairness-Doktrin lässt sich so beschreiben: Wer ein Argument vorzubringen hat, hat einen Platz im öffentlichen Diskurs. Dabei lädt er auch konservative Denker ein, zieht dort aber eine Grenze zum „Denker“. Sprich: Trump-Fans wird man bei ihm nicht hören. Klein hat die These der Demokraten, dass „government“ eine positive Kraft ist, die das Leben der Menschen verbessern soll, auf seinen Journalismus übertragen.

In Impeachment, Explained gibt es zirka einmal pro Woche einen Podcast, der die Hintergründe des Impeachment-Prozesses erläutert. Es ist in gewisser Weise ein Best Of der Berichterstattung der vergangenen Woche bei VOX. So erklärt Klein in „What’s wrong with the Republican Party?“ eine seiner liebsten Thesen: Der politische Prozess hat sich hauptsächlich geändert, weil sich die republikanische Partei geändert hat — von einer werteorientierten Partei nach europäischem Vorbild zu einem prinzipienfreien Kampagnentool, das mal von Abtreibungs-Gegnern, mal von der NRA, mal von radikalen Steuer-Gegnern genutzt wird und sich zu ständig neuen Extremen aufschaukelt.

Klein beleuchtet die Situation aus demokratischer Perspektive, separiert sich aber klar von den institutionellen Demokraten selbst. Dadurch, dass er immer einen Schritt vom aktuellen Geschehen zurücktritt, kann er Unterschiede klarer benennen. So wird bei ihm deutlicher als bei anderen, dass EU-Botschafter Gordon Sondland, einen wichtigen Punkt für eine Impeachment-Anklage gerade nicht unterstützt wollte — nämlich, dass die Militärhilfe für die Ukraine aus politischen Gründen zurückgehalten werden sollte.

 

Crooked Media: Rubicon – The Impeachment of Donald Trump.

Ein Gegenstück zu Ezra Klein ist Crooked Media. Doch statt sich dem Journalismus zu verschreiben, haben die Gründer, die allesamt Posten in der Obama-Regierung hatten, eine andere Strategie gewählt: Sie betreiben politischen Aktivismus mit den Mitteln des Journalismus. So wie Trump-Anhänger sich einst stolz als „deplorables“ präsentierten, hat „Crooked Media“ den Vorwurf angenommen, dass die Medien immer auf Seiten der Demokraten seien. Und produziert Shows, die sich durchweg an „the Resistance“ reden.

Immerhin macht Chefredakteur Brian Beutler aus diesem Umstand kein Geheimnis. Trumps Getreue werden etwas durchweg als „henchmen“ bezeichnet. Wenn er einen O-Ton von David Nunes einspielt, blendet er auch gleich künstliches Gelächter ein, um keinen Zweifel daran zu lassen, wie lächerlich er die Argumente der Gegenseite findet. Das zentrale Thema des Podcasts ist eine unbändige Wut. Wie der Titel sagt: Donald Trump hat den „Rubicon“ überschritten. Und wie vermutlich jeder mit großem Latinum weiß, war das der Punkt, als Julius Caesar mit seiner Armee die römische Republik beendete und aus dem Imperium ein Kaiserreich machte.

Die Wut ist das Erfrischende an dem Podcast. Zuweilen machen Beutler und sein Gast einen Punkt, der im Wirrwarr der aktuellen Berichterstattung unterging. Etwas lähmend wird es dann jedoch meist im zweiten Teil der Sendung, wenn es nicht mehr um Empörung geht, sondern um eine Art Brainstorming: Wie kann man die Blöße des Präsidenten am effektivsten im politischen Prozess gegen ihn einesetzen? Es ist eine kleine Planungs-Session inoffizieller demokratischer Strategen. Und wenn man Wut im Bauch hat — will man dann wirklich durch den legislativen Kalender blättern? Hier zeigt sich, dass Crooked Media nicht etwa das Geschöpf von Aktivisten wie AOC ist, sondern eine Bastion im Clinton-Lager darstellt: Zentristisch, institutionell, leidenschaftlich und zutiefst awkward.

 

WNYC: Impeachment: A Daily Podcast

Brian Lehrer ist ein Urgestein des NPR-Rundfunks in den USA. Seit 1989 hat er eine Call-In-Show, in der die insbesodnere politischen Themen des Tages besprochen werden. Dabei hat er Autoren zu Gast, Experten und einmal die Woche den Bürgermeister von New York City Bill de Blasio. Die Gesprächspartner dürfen zuerst über ihre Arbeit sprechen und müssen sich dann einigen Hörerfragen stellen.

Screenshot Brian Lehrer Podcast

Lehrers Heimatstation WNYC ist grade voll auf den Podcast-Zug aufgesprungen und hat auch meinen Lieblings-Podcasts-Client Pocket Casts gekauft. Deshalb gibt es nun einen eigenen Impeachment-Podcast. Der ist freilich nur eine Auskopplung aus Lehrers täglichen Sendung, die sich in mindestens einem Segment mit der Amtsenthebung und dem Neuen aus Washington beschäftigt.

Wer wissen will, was an dem Tage grade die Geschichte ist, über die jeder sagt, dass jeder über sie spricht, ist bei Brian Lehrer richtig. Seine väterliche, immer freundliche Stimme geht leicht ins Ohr, er leitet die Gäste gekonnt durch alle wichtigen Argumente und bringt auch mal Widerspruch an, wenn dieser bereits medial hörbar war. Beim Anruf-Part muss man sich aber auch auf Schocks gefasst machen. Denn wie die scheinbar so klaren Narrative bei dem anrufenden Publikum aufgenommen werden, ist oft genug überraschend. Hier hat die Redaktion sogar eine neue Form der Interaktion gefunden: Hörer sollen ihren eigenen „Article Of Impeachment“ gegen Trump schreiben, auf die dann die Trump-Unterstützer und Konservative schließlich live auf Sendung antworten können sollen.

Brave: Push-Nachrichten für Cents

Ex-Mozilla-Manager und JavaScript-Erfinder Brandon Eich will mit seinem chromium-basierten Browser Brave das Web umkrempeln. Brave hat nicht nur einen Werbeblocker integriert, sondern soll auch über eine Crypto-Währung einen neuen privatsphäre-schonenden Werbemarkt aufbauen. Im Prinzip ähnelt Brave hier dem Geschäftsmodell von Adblock Plus: Der Werbeblocker verdient sein Geld mit Werbung. Dabei sollte Brave jedoch etwas weiter gehen. So beschrieb CNet.com vor drei Jahren den Plan:

Brave blocks ads from websites and eventually will insert new ads targeted toward user interests by software running in the browser itself. Those ads won’t affect page performance or come with privacy concerns. Brave will share ad revenue with publishers — and with the people using its browser.

Vor ein paar Wochen begann nun Brave in der Desktop-Version Werbung auszuliefern, nun zog die Mobil-Version nach. Die ursprünglichen Pläne musste Eich deutlich reduzieren. So hat er offenbar zu wenig Unterstützung von Publishern gefunden, die ihre existierende Werbung durch Brave-Werbung ersetzen lassen wollen. Einfach ohne Zustimmung die Werbung auszutauschen dürfte teure Klagen nach sich ziehen.

Also geht Brave den anderen Weg: Auf dem Desktop liefert der Browser Werbung in Form schmuckloser Popup-Nachrichten am unteren Bildschirm, auf Android-Smartphones erscheint die Werbung in Form von Push-Notifications. Da diese Werbung nicht auf den Websites selbst erscheint, muss Brave den Publishern auch nichts von den Einnahmen abgeben.

Problem daran: Brave würde die Publisher sehr gerne einbeziehen. Das anvisierte Geschäftsmodell basiert darauf, einen Werbemarkt auf der Kunstwährung BAT aufzubauen. Werbetreibende kaufen Werbeflächen mit BAT, Publisher und Nutzer bekommen BAT ausgezahlt. Brave könnte dann über Währungsgeschäfte ihr Geld verdienen.

In dem Browser ist auch ein Flattr-haftes Vergütungssystem eingebaut. Fernziel: In Zukunft könnten sogar Abogebühren in BAT abgerechnet werden. Ein Milliardengeschäft, bei dem Brave nur die Hand aufhalten müsste.

Momentan sieht es also so aus: Nutzer bekommen für jede aufpoppende Werbung ein paar Cents in der Kunstwährung auf ihre im Browser installierte Wallet geschrieben. Dieses Geld wird aber in der Voreinstellung direkt weiterverteilt an Publisher, die sich an dem BAT-Programm beteiligen. Ich habe aber nur zwei Medienseiten gefunden, bei denen das der Fall ist: The Guardian und die LA Times. Bei allen anderen Websites steht „not yet verified“ – sprich: Die Betreiber finden Brave nicht mal relevant, interessant oder sympathisch genug, um Geld von ihnen anzunehmen. Und das bedeutet: Viel zu wenig Geld kommt rein und viel zu wenig Geld geht raus.

Also versucht Brave den Markt anzukurbeln. Den Usern wird immer mal wieder ein Betrag in BAT auf die Wallet aufgebucht. 5 BAT hier, 10 BAT da. Doch das Geld kann ich mir als User nicht in Dollar oder Euro auszahlen lassen – die Funktion fehlt in Brave wohlweislich. Vermutlich kann ich irgendwie versuchen, die BAT aus meinem Browser herauszueisen — aber bei den geringen Beträgen ist der Aufwand wohl kaum gerechtfertigt. Die Beträge reichen aber aus, um einen Markt zu simuliert, in dem Brave-Nutzer eine nachhaltige Einkommensquelle darstellen, weil diese Geld einzahlen oder durch freiwillig angesehene Werbung relevante Beträge verdienen. Würden Brave sein Pseudo-Geld nicht verschenken, gäbe es wohl kaum Geschäftsaktivität. Die ersten Werbekunden sind folgerichtig auch meist irgendwelche Kleinfirmen, die im Markt der Pseudowährungen unterwegs sind.

Alles in allem: Ich sehe hier zwar eine Strategie, ein auf Spekulationsgewinnen aufbauende Geschäftsmodell für Brave zu etablieren. Was ich nicht sehe: Einen gangbaren Weg zu besserer und privatsphäre-schonender Werbung. Zum einen sind Pop-Ups einfach nervig, die Antithese zu besserer Werbung. Zum anderer wird mit der BAT-Wallet im Browser hat Brave den Nutzern ja eine Art Super-Tracker verpasst: Eine eindeutige ID, an die sich alle Nutzungsgewohnheiten, gesehene Werbung und schließlich auch vollzogene Käufe koppeln lassen könnten, wenn es denn so käme, wie Brave will. Nach drei Jahren sieht es aber nicht so aus, als sei dies noch eine realistische Erwartung.

Die Legende von der personalisierten Werbung

Ich habe seit ein paar Wochen einen neuen Fernseher. Mein erster Fernseher mit Internetanschluss. Dabei habe ich etwas Kurioses festgestellt: Wenn ich Videos mit der vorinstallierten YouTube-App ansehe, wimmelt es von Werbung. Rufe ich die Video hingegen mit meinem Handy ab und übertrage sie per Chromecast auf meinen Fernseher sind exakt die gleichen Videos fast werbefrei. Ernsthaft: Es können Wochen vergehen, bis ich einen Werbespot sehe.

Wie kann das sein? Ein Werbeblocker ist nicht involviert. Jeder Part der Kette ist unter der Kontrolle von Google: YouTube, die Apps, Android auf dem Telefon und auf dem Fernseher. Warum bekommme ich also keine Werbung ausgespielt? Nun – die technischen Hintergründe sind mir noch unklar, aber dieses kleine Detail zeigt mir: Die Welt der Onlinewerbung ist weit weniger ausgefeilt, als es immer wieder dargestellt wird.

Personalisierte Werbung ist der ökonomische Pfeiler des heutigen Internets. Und gleichzeitig ist sie ein Mythos: So spricht Apple-Chef Tim Cook zum Beispiel vom „daten-industriellen Komplex“. Mehr als einmal wurde ich etwas in dieser Art gefragt: „Gestern habe ich mich mit Kollegen über Kopfschmerzen unterhalten. Und heute bekomme ich auf Facebook Werbung für Kopfschmerz-Tabletten. Hört Facebook mein Handy ab?“

Auch wenn das theoretisch und sogar praktisch denkbar wäre — die Realität ist doch eine ganz andere. Facebook hört Eure Gespräche nicht ab, weil es schlichtweg keinen Markt dafür gibt. Zumindest heute noch. Überlegt es Euch: Wo immer wir im Internet unterwegs sind, werden wir mit Werbebannern überschüttet. Und wie viel Prozent davon sind wohl tatsächlich auf Euch angepasst? Wenn ihr Euch wirklich jede einzelne Werbung anseht, werdet ihr merken: Erstaunlich wenig. Und die angepasste Werbung wird Euch meist nach den gröbsten Kategorien angezeigt: Kölner bekommen Werbung für Kölner Fußball-Vereine. Frauen bekommen Werbung für die Bikini-Figur. Männer für den Baumarkt. Braucht es dafür tatsächlich einen daten-industriellen Komplex, der uns quer durch das Internet folgt, und dafür Tausende verschiedener Cookies und Skripte einsetzt?

Katzen würden mit Persil waschen

Ein verbreiteter Sinnspruch ist: Wenn ihr nicht für das Produkt zahlt, seid ihr das Produkt. Die wahren Kunden sind also die Werbetreibenden, die versuchen uns ihre Produkte und Dienstleistungen anzudrehen. Denkt mal nach: Wie oft habt ihr beworbene Produkte gekauft? Haben die Werbekunden Euch wirklich voll im Griff? Werbung wirkt. Wie viele würden wohl Persil kaufen, wenn der Name nicht so allbekannt wäre? Aber von der vollkommenenen Gedankenkontrolle sind die Werber weit entfernt.

Die Wahrheit ist: Es gibt zwei verschiedene Werbemärkte. Auf dem einen Werbemarkt wird versucht uns Konsumenten zu überreden Waschmittel, Limonaden und Autos zu kaufen. Dieser Werbemarkt funktioniert leidlich gut. Wenn Du Leuten 15 Mal vorhälst, was sie bei Amazon oder Zalando angesehen und nicht gekauft haben, wird nach einer Weile einer von hundert Kunden doch schwach. Da Onlinewerbung spottbillig ist, rechnet sich das irgendwann.

Der wichtigere Werbemarkt ist jedoch der andere, auf dem den Herstellern der Waschmittel, Limonaden und Autos überredet werden, Werbung zu kaufen. Und man ist versucht zu sagen: Junge, sind diese Leute naiv…! Zum einen fließen Milliarden ihrer Gelder in die Taschen von Betrügern, die keinerlei Absicht haben die Werbung an tatsächliche lebende, atmende Kunden auszuliefern. Zum anderen schlucken die Markenartikler auch die Versprechen der Werbeanbieter, die ihnen die Früchte der Totalüberwachung der Kundschaft versprechen. Immer wieder höre ich Beschwerden von Werbetreibenden, dass die Facebook-Werbung nicht so gut funktionieren soll. Doch wenn man mit Facebook-Werbung angeblich den US-Präsidenten bestimmen kann — wer will da ernsthaft kein Stück von diesem Kuchen?

Aber ihr könnt die Gegenprobe machen. Schaut Euch mal Eure Werbeprofile bei Facebook, Google, Instagram oder Twitter an. Ich habe dies kürzlich bei Twitter getan und war doch sehr erstaunt, was meine Interessen so sein sollen.

Twitter-Werbeprofil

Ich, der Sport-Fan

Twitter erzählt seinen Werbekunden nicht nur, dass ich Formel 1-Fan bin, sondern hat auch ein sehr differenziertes Bild von mir als Fußball-Fan. Viele der Namen, für die ich mich angeblich interessiere, musste ich googeln und es stellte sich heraus: Es sind Profi-Fußballer. Das klitzekleine Problem dabei: Ich bin kein Sportfan. Ich schau mir nicht mal die Schachweltmeisterschaft an. Natürlich kann ich mich durch das Twitter-Profil wühlen und die wildesten Fehleinschätzungen korrigieren — doch wer macht sich schon den Stress? Es ist für beide Seiten einfacher, wenn Twitter mir fußballbasierte Werbung ausspielt, die ich dann ignoriere. Falls Twitter noch einen Werbekunden findet, der Fidget Spinner loswerden will – ich bin Euer Mann. Was in den Profilen nicht steht: „Würde niemals einen VW kaufen“. Denn wozu sollte man den Werbeetat von Volkswagen künstlich beschränken?

Dieses Werbeprofil ist nicht unbedingt mal das Ergebnis böser Absichten. So funktioniert das Geschäft halt. Denn woher glaubt die Werbeindustrie zu wissen, was mich interessiert? Ein Mittel ist die sogenannte „lookalike audience“. Ihr erinnert Euch vielleicht, das Facebook kürzlich einen Skandal hatte, weil sie die Handydaten von Kunden und insbesondere Teenagern über einen Datenfilter leiteten und haarklein auswerteten. Facebook hat dabei kaum ein Interesse an den Teenagern selbst — sie liefern lediglich ein Datengerüst. Leute, die morgens um 5 Uhr auf Snapchat aktiv sind, mögen Frühstückscerealien der Marke X. Wer Signal installiert hat, ist ein Tech-Freak. Wer Verschwörungstheorien teilt, isst zwei Mal mehr Süßigkeiten und hat keinen Fitbit. All diese Beziehungen werden in Datenmodelle gegossen, die dann darüber entscheiden, welche Werbung Dir ausgespielt werden soll. Ob diese Annahmen stimmen, interessiert nicht wirklich — Hauptsache die magischen Kenngrößen, die KPI, stimmen. Irgendwie.

Die große Schubladisierung

Die Realität heute ist: Es gibt personalisierte Werbung — sicherlich. Das große Geschäft ist aber ein anderes: Statt die Werbung auf uns anzupassen, werden wir in die größtmöglichen Schubladen einsortiert, die der Werbeindustrie den meisten Profit versprechen. Mann über 40. Handy-Nutzer in Köln. Der Dude, der neulich 20 Minuten auf eine Turnschuh-Werbung gestarrt hat. Schwangere Frau. Schwangere Frau! Ernsthaft, die Werbeindustrie fällt in einen kollektiven Zuckerrausch, wenn sie meint, dass Du schwanger bist. Sie tragen Dich auf Händen und treten dich mit Füßen. Denn das ist der auslösende Mythos der personalisierten Werbung: Die Leute mit den großen Datenbanken wissen früher von einer Schwangerschaft als die Familie selbst.

Personalisierte Werbung ist Realität, aber personalisierte Werbung ist als Mythos viel größer. Der Mythos entscheidet, wer im Internet Geld verdient. Ob Podcasts ein Beruf sind oder Hobby bleiben. Ob unsere Timelines Katzenbilder ausspucken oder Nachricht. Die Realität ist aber: Dahinter steckt meist nur eine riesige Sammlung von Schubladen.

Das Grundproblem mit Artikel 11, Artikel 13 und dem ganzen Rest

Ich hab jetzt doch mal in die konkreten Vorschriften zu der vorgeschlagenen EU-Urheberrechtsreform geguckt — und es ist schlichtweg ein schlechtes Gesetz. Über die vielen Kompromisse, Missverständnisse und handwerklichen Fehler wurde ja genug geredet — aber ich glaube das eigentliche Problem sind die Grundannahmen. Der Gesetzestext geht davon aus es gebe hier einen Informationsmarkt im Ungleichgewicht. Man muss schlicht einer Seite etwas wegnehmen und schon pendelt sich wieder ein gesundes Gleichgewicht ein.

Die vorgeschlagene Maßnahme ist quasi ein Strafzoll — man verzeihe mir die Metapher. Das Problem: Strafzölle bringen nur Geld ein, wenn etwas importiert wird. Die Urheberrechts-Lobbyisten sagen: Da Google, Facebook und Co von Informationen leben, kommen sie ohne unsere Infos nicht aus. Wir sitzen am längeren Hebel. Wie bei Amazon und New York City stellt sich heraus: Nein.

Das kommt für niemanden überraschend, der die letzten Jahre ein wenig Aufmerksamkeit auf das Thema verwendet hat. Wir können es an so vielen Stellen sehen. Derzeit verlieren hunderte Kollegen in den USA ihre Jobs, weil Facebook ein bisschen müde war, wie viel Arbeit ihnen Nachrichten machen und wie sehr das Image der Firma leidet, weil das Management mit dem Problem ‚Fake News‘ einfach nicht umgehen kann. Zuckerberg versucht nicht mal den Journalismus abzustrafen und tut es trotzdem. Was passiert wohl, wenn man eine Steuer draufschlägt?

Nächste Woche wird die deutsche Werbewirtschaft ihre Zahlen publizieren — und ich wette die Suchmaschinen-Einahmen von Google sind wieder gestiegen. Und zwar nicht, weil sie so perfekt die besten journalistischen Produkte integriert haben, sondern weil Leute nach Bluetooth-Kopfhörern googeln und Kopfhörer-Hersteller die Gelegenheit ergreifen, dort zu annoncieren.

Wisst ihr, wer der aktuelle Star der Werbeszene ist? Amazon. Weil: Wo kann man besser seine Ware anpreisen als in einem Katalog von quasi jedem lieferbaren Produkt? Hier in Deutschland macht Otto das gleiche. Wir sind vermutlich nur wenige Jahre davon entfernt, dass ALDI Werbeschaltungen in seinem ALDI-Prospekt einführt. Es wird ziemlich schwer zu begründen sein, dass Amazon, dass ALDI Urhebern ein Stück des Geldes abgeben soll, weil die kreativ Schaffenden Musikvideos produzieren und die Äußerungen der Kanzlerin analysieren.

(BTW: Plattformen wie Amazon sind in der EU-Urheberrechtsreform ausdrücklich von der Haftung ausgeschlossen worden. Obwohl es auf diesen Marktplätzen sehr wohl substantielle Urheberrechtsprobleme gibt: Produktbeschreibungen und Produktfotos werden haufenweise geklaut.)

Wenn man über den „value gap“ reden will, muss man über den „value gap“ reden. Wie finanzieren wir die Infrastruktur, die wir für eine informierte Öffentlichkeit brauchen? Muss die durch und durch datengetriebene Werbefinanzierung zurückgedrängt werden? Wie stellen wir dann sicher, dass nicht nur die Großverdiener wichtige Informationen erhalten? Nur an den Symptomen herumzudoktern, wie es diese Reform versucht, wird uns dabei nicht helfen.