Am Wochenende sah ich einem Kiosk die Schlagzeile der „Welt“: Online-Banking im Visier der Geheimdienste“. Und ich stoppte für zwei Sekunden und dachte nur: NEIN. Das ist eben nicht die Neuigkeit. Wisst ihr denn gar nichts??? Und dann sah ich darunter die Überschrift: „So erleben Sie die interaktive Zeitung“. Und ich dachte mir nur: Ja. Ihr wisst nichts.
Um es klar zu sagen: Online-Banking ist nicht im Visier der Geheimdienste. Sie scheren sich einen Dreck darum, wann ihr die GEZ-Gebühren überweist, wie viel Nebenkosten ihr für Eure Wohnung überweisen müsst und ob Euer Dispo 700 Euro oder 1200 Euro ist. Es sei denn… Es sei denn, es ergibt sich ein Muster. Es ist der Zauber von Big Data, dass quasi alles ein Muster ergeben kann.
Die öffentliche Wahrnehmung kann noch nicht wirklich damit umgehen. Die seriöseren Medien haben den NSA-Skandal zur „Spähaffäre“ gemacht. Das klingt sachlich, ein wenig abstrakt, nicht allzu anklagend und ergibt eigentlich überhaupt keinen Sinn. Denn wer späht denn da was aus? Das Bild stimmt einfach nicht mehr. Es gibt keinen Techniker, der in einem Hauptquartier mit großen Kopfhörern sitzt, und gezielt unsere Gespräche mitschneidet, keine Geheimagenten, die uns in verfänglichen Situationen fotografieren. Das heißt: diese Leute gibt es zwar noch, aber sie sind nicht Teil des NSA-Skandals.
Korrekter wäre wohl „Speicherskandal“. Denn das ist es, was NSA und ihre Partner in vielen anderen Ländern machen: Sie entreißen die Kommunikation von Milliarden Menschen ihrer Umgebung und speichern sie in gewaltigen Rechenzentren ab. Und weil selbst die gewaltigsten Kapazitäten und Geheimbudgets nicht ausreichen, wirklich alles zu speichern, suchen die Geheimdienstanalysten nach Mustern, um zu entscheiden, was mehr als ein paar Tage auf den Datenspeichern bleiben soll.
Doch „Speicherskandal“ klingt langweilig. Denn unsere gesamte Kommunikation besteht daraus, dass Daten gespeichert, kopiert und weitergesandt werden. Die NSA oder die GCHQ oder irgendwer anders setzt einen Speichervorgang hinzu und liest diese Informationen wahrscheinlich nicht einmal? Wo ist das ein skandal, wenn man das mit Facebook vergleicht, mit dem Datenhunger von Google, Apple, Amazon , die uns tatsächlich überzeugten, es wäre viel besser, wenn wir unsere Daten nur noch leihweise kontrollierten. Haben wir wirklich erwartet, dass Geheimdienste still im Kämmerlein sitzen und das Internet an sich vorbeiziehen lassen. Das nennt ihr einen Skandal? Get real!
Doch: Es ist ein Skandal, und zwar kein kleiner. Denn die allumfassende Speicherung von Daten, die ihren Kontexten entrissen wurden, ist nicht nur ein Vertrauensbruch. Die Geheimdienstler, die unsere Techniken systematisch schwächten, haben auch an den Grundfesten gerüttelt, auf denen das Internet aufgebaut wurden. Große Worte, aber was heißt das?
Nun: Die vielen stückweisen Enthüllungen von Edward Snowden geben uns einen Vorgeschmack. Denn Snowden macht dies ohne erkennbares Gewinnstreben und hat sein bisheriges Leben weggeworfen. Wie viele andere NSA-Leiharbeiter da draußen gibt es, die vermeintlich schlauer waren, und diese Informationen weiterverkauft haben? Oder die nicht schlauer waren, sondern selbst abgelauscht wurden? Wie viele Millionen Informatiker kann China drauf ansetzen, die Schwachstellen zu finden, die die NSA offen gelassen hat? Digitale Horchposten sind keine Einbahnstraße. Was Richtung Utah geschickt wird, landet vielleicht auch in Peking. Dass die USA chinesischen Hardwareunternehmen unterstellen, Spionagekomponenten einzubauen — soweit ich weiß ohne bisher Beweise geliefert zu haben — lässt erahnen: Was machen die US-Hardwareunternehmen? Doch was hat das mit uns zu tun? Als Politiker, der Freihandelsabkommen oder Militärschläge beraten muss, würde ich kein Outlook einsetzen wollen, kein GMail, kein Windows. Ich würde übrigens auch nicht auf eine Yandex-Alternative setzen oder das Rote-Fahne-Linux einsetzen. Und der Normalbürger?
Ja, der Normalbürger kann sich in der „Ich habe nichts zu verbergen“-Illusion sonnen. Denn den NSA interssiert nicht wirklich, mit wem Max Mustermann Geschlechtsverkehr hat, welche Medikamente er nimmt, ob er hinterrücks falsche E-Mails verschickt um einen Kollegen anzukreiden. Die Geheimdienste durchwühlen Eure Daten und lassen meist keine Spuren zurück. Meist. Bisher.
Eine der beunruhigendsten Enthüllungen der letzten Zeit stammt von vergangener Woche und sie hat für wenig Aufsehen gesorgt: Demnach wurden nicht nur Milliarden Telefondaten an die Geheimdienste weitergegeben, sondern auch eine spezialisierte Einheit aufgebaut, die den Beweisprozess verfälschte. Kurz gesagt: Die Geheimdienste sollen in ihrer gewaltigen extra-legalen Datenbank Spuren gesucht haben und dann anderen Strafverfolgern den Tipp gegeben haben, welche legalen Daten denn zu einem Erfolg führen konnten. Vor Gericht landeten dann eben nur die offiziellen Polizei-Erhebungen. Wie sie denn darauf kamen, Anschluss XYZ abzuhören oder das Hotmail-Konto von Zeugen ABC ausliefern zu lassen — wer weiß das schon? Solide Polizeiarbeit halt.Und dennoch — warum sollte das den Normalbürger interessieren, der nichts verbrochen hat?
Weil es ihn auch treffen kann. Mit einer zunehmenden Wahrscheinlichkeit. Denn jeder muss sich nur die rechte Spalte auf Facebook ansehen, um zu erkennen, wie fehlerhaft Big Data doch ist. Die Technik hinter Facebook-Anzeigen ist im Prinzip nicht viel anders als das, was Geheimdienstanalysten machen: Sie suchen Muster in Deinen Postings und denen Deiner Friends und versuchen daraus Schlüsse zu ziehen. Dazu kommen noch allerhand Mutmaßungen, IP-Daten und ein Schuss Werbe-Voodoo. Dass sie damit in 999 von 1000 Fällen falsch liegen müssen, ist ja egal. Bei Facebook macht die Masse der Klicks das Versagen weniger relevant, bei den Geheimdiensten wird die Erfolgskontrolle systematisch verhindert. Und das nicht nur, weil erfolgreiche Geheimdienstarbeit spektakuläre Anschläge verhindern mag, sondern weil die Kontrollgremien irrelavant gemacht wurden. Und die interne Kontrolle der NSA so motiviert ist wie die Doping-Kontrolle zur Zeiten von Lance Armstrongs großen Tour-Erfolgen.
Das Teuflische an Big Data ist auch: Es wird Dich niemals entlasten. Die Verdachtsmuster summieren sich von mal zu mal und niemand kann Dir sagen, was denn zu einem Rabatt führt. Du hast 80 Mal das Flugzeug benutzt, ohne dass Du aufgefallen bist? Mach Dich nicht lächerlich: Auf der No-Fly-Liste gibt es keinen Rabatt. Und wir haben immer mehr solcher Listen.
Mir gehen die Metaphern aus. Es ist als ob jedes millionste Auto auf Kommando explodiert? Nein, es explodiert nicht, du Idiot. Du musst bei jedem dritten Flug zwei Stunden mehr warten. Dein Gepäck wird durchsucht. Deine Telefonrechnung, von der Dich nur der Endbetrag interessiert, landet für einen Sekundenbruchteil im Arbeitsspeicher eines Analysten, der rauszukriegen versucht, wer Geld nach Syrien überweist. Oder ob ihn sein Freund betrügt — wer weiß das schon?