Die informierte Debatte

Heute morgen habe ich mal wieder gesehen, wie toll das Internet doch ist. Kaum hatte der Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in seinem Auftritt vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium die NSA-Spähaffäre für beendet erklärt, erschien ein Tumblr-Blog mit dem vielsagenden Titel Pofalla beendet Dinge. Hier wird die Aussage des Politikers verhohnepiepelt: Neben verfremdeten Bildern des Politikers stehen Sprüche wie „Die Bauarbeiten am #BER erkläre ich hiermit für beendet“ oder „Aus meiner Sicht ist der Wahlkampf beendet. Merkel bleibt Kanzlerin!“

pofalla_400

Sicher: Das Ganze ist kein Höhepunkt der Satirekultur. Es ist der leichtfüßige Versuch, der eigenen Frustration Ausdruck zu verleihen und zu demonstrieren wie absurd doch die Debatte seitens der Bundesregierung ist. Da tauchen täglich neue Details auf, ernsthaft an den Grundfesten des Informationszeitalters rütteln — und die Bundesregierung verschanzt sich hinter einem pseudo-formalistischen Ansatz, der sich darauf beschränkt, welcher Paragraph denn erfüllt gewesen sein mag, ob Sitzungsgepflogenheiten eingehalten würden. Sähe das Gesetz vor, dass der BND-Chef täglich eine Stunde zu einer Wand sprechen müsste — wären wir heute wesentlich schlechter informiert?

Wie gesagt: Eine solche Auseinandersetzung mit den täglichen Nachrichten ist klasse. Sie zeigt eine Bereitschaft, sich mit aktuellen Geschehnissen zu beschäftigen und das Bemühen, sich nicht von der Kraft des vermeintlich alternativlos Faktischen unterkriegen zu lassen. Wir können nichts tun? Doch, wir können Euch zumindest auslachen.

Und doch: Ich vermisse die informierte Debatte. Im Fall NSA wird sie nicht nur von den USA, sondern auch von den deutschen Politikern sabotiert, die keine Chance sehen, dass sie hier etwas verändern können, und die im Wahlkampf ihr politisches Spiel damit spielen.

Doch selbst wo solche Kräfte nicht am Werk sind, sehe ich immer wieder, wie die informierte Debatte immer weiter verdrängt wird. Twitter-Slogans verdrängen Argumente, Bauchgefühl und Feindbilder übertrumpfen die Fakten. Ich versuche ein — man verzeihe das Klischee — ehrlicher Makler der Interessen meiner Leser zu sein. Ich bemühe mich zu schreiben, was sie interessieren sollte, und zu erklären was hinter den großen Schlagzeilen wirklich steckt. Doch da sind einfach zu viele Schlagzeilen.

In der vergangenen Woche machte zum Beispiel eine absonderliche Meldung der Piratenpartei Hamburg Schlagzeilen, dass Schulkinder gezwungen werden, Ihre Fingerabdrücke abzugeben, wenn sie in der Schulkantine essen wollen — sogar gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern. Ich rief bei dem zuständigen Dienstleister an und bekam bestätigt: Tatsächlich wurden bei Schülern einer Schule Fingerabdrücke genommen, bei denen es ausdrücklich nicht so sein sollte. Allerdings handelte es sich um eine Panne, die er mit akuter Überlastung zu Schuljahresbeginn erklärte.

Die vielen Schlagzeilen zum Thema sind nach meinem bisherigen Stand(!) jedoch falsch. Schüler müssen eben generell keine Fingerabdrücke abgeben, sondern haben immer zumindest eine Alternativ-Option: Eine Chipkarte oder — je nach Schule — auch die Barzahlung. Essen wurde ebenfalls keinem verweigert. Und im Gegenteil zu den Eltern, die zu Wort kommen, entscheidet sich die überwiegende Anzahl von Eltern für die Fingerabdruck-Lösung. All diese Fakten werden in der folgenden Pressemitteilung der Piraten übergangen, so wie die Pressemitteilung der Stadt Hamburg alle Aspekte der Diskussion unterdrückt, die legitime Kritikpunkte darstellen könnten.

Das hier soll kein Piraten-Bashing sein. Es ist im Gegenteil der übliche Verlauf solcher Debatten — egal, welche Partei oder Interessengruppe daran beteiligt sein mag. Es ist eine Blaupause um aneinander vorbei zu reden. Vielleicht können die Piraten einen Sieg verbuchen, wenn der Dienstleister ein Bußgeld zahlen muss oder gar die Fingerabdruckscanner aus einigen Schulen wieder verschwinden. Nach meinen Bauchgefühl wäre das zu begrüßen.

Doch die informierte Debatte unterbleibt wieder einmal: Wie kommt es, dass 75 Prozent der Eltern und mehr der biometrischen Erfassung ihres Nachwuchses zustimmen? Wo ist der Unterschied zwischen dem Fingerabdruck, dem individualisierten RFID-Chip in der Tasche der Kinder und dem Handy, das ebenfalls Kennungen absondert und mittlerweile bei der Tankstelle nebenan immer öfter das Bargeld ersetzt? Müssen wir der Tankstelle den nächsten Shitstorm verpassen, um unsere Privatsphäre zu retten? Oder schaffen wir es irgendwann mal eine gesellschaftliche Debatte zu führen und deren Ergebnisse auch umzusetzen?

Stephen Colbert: Großes Fernsehen

Einfache Regel für jeden professionellen Büroarbeiter: Bei konzerninternen Konflikten — und wer arbeitet heute nicht für mindestens einen Konzern? — schweigt man nach außen. Räche Dich, in dem Du nur in Unterwäsche in der Videokonferenz sitzt oder kritzel irgendetwas Gehässiges auf die internen Memos. Schluck es runter.

Nicht so Stephen Colbert. Ihm hat Viacom-Konzernschwester MTV einen Daft-Punkt-Auftritt in seiner Show abgejagt. Ein Debakel sondergleichen. Denn Colbert hat — wenn man ihm da glauben kann, und es spricht einiges dafür — nicht nur erst am Vortag davon erfahren, er ist auch gegenüber seinen Sponsoren teure Verpflichtungen eingegangen.

Was macht Colbert? Statt die Firmenanwälte ihr Ding machen zu lassen, und sein Budget für den Rest des Jahres kürzen zu lassen, geht er mit dem Konflikt möglichst breit an die Öffentlichkeit. Er setzt Schauspieler ins Publikum, die den nicht amüsierten Hunday-Vorstand spielen und liest eine E-Mail vom MTV-Chef vor, die diesen wie einen Idioten erscheinen lassen, der er wahrscheinlich auch ist. Kann man damit durchkommen? Selbst bei einer Spätsendung, die sich außerhalb des direkten Blickwinkels der Senderverantwortlichen befindet: Nein, nicht unbedingt.

Alleine: Colbert hat es in der kurzen Zeitspanne geschafft, eins der Musikvideos zu drehen, die von Jimmy Kimmel so populär gemacht wurden und für das die Stars wie Matt Damon Schlange stehen. Kurzerhand hat er Hugh Laurie eingespannt, der am Vorabend Gast der Sendung war, und Bryan Cranston, der zur Zeit eines der heißesten Assets des Show Business ist. Colbert tanzt sich an dem Abend durch die Fernsehstudios vieler Kollegen und durch das Büro von Henry Kissinger, schafft Ashton Kutcher und Matt Damon in sein Studio und schafft es auch noch Robin Thicke als Ersatz-Showact zu bekommen.

Ich weiß: Alles oberflächlich, alles Entertainment. Aber wenn man es sich ansieht: Das ist großartige Unterhaltung. Und wenn man dazu noch überlegt, welchen Aufwand dieses Video in dieser kurzen Zeit bedeutet hat und welche Risiken Colbert damit einging: Wow. Einfach nur Wow. Großes Fernsehen.

Hier klicken, um den Inhalt von media.mtvnservices.com anzuzeigen

The Colbert Report
Get More: Colbert Report Full Episodes,Video Archive

Die ganze Sendung ist hier abrufbar.

Und wer gar nichts mit Stars und Sternchen anfangen kann: Hier bringt Colbert die Kritik an den Terrorwarnungen der USA besser auf den Punkt als das halbe deutsche Feuilleton und hier gibt er eine sehr eindrucksvolle Präsentation, was man im Fernsehen nicht sagen darf. Und das ist nur der Output dieser Woche.

PS: Ganz so spontan war das Video doch nicht produziert — hier habe ich mich blenden lassen. Die Szene mit Jeff Bridges zum Beispiel stammt offenbar vom Juli, die mit Jimmy Fallon von vergangener Woche. Etc, pp. Colbert ist gut, zaubern kann er aber doch nicht.

They just won’t stop

Es ist der übliche Weg eines Skandals: Eine Verfehlung wird aufgedeckt, der Betreffende wehrt sich vielleicht für eine Viertelstunde, fühlt sich falsch verstanden, beschuldigt seine Gegner — schließlich muss er aber doch Abbitte leisten und verspricht Besserung. Leute werden entlassen, Verhaltenskodizes aufgestellt, Gesetze geschrieben. Sie bringen vielleicht nichts, aber der Skandal bekommt seine Genugtuung.

Im Falle NSA, GCHQ und BND passiert dies nicht. Niemand wird entlassen, niemand gelobt Besserung, Gesetze werden nicht umgeschrieben. Es bemüht sich nicht einmal jemand wirklich. Zumindest niemand, der tatsächlich die Möglichkeit hat, etwas zu ändern.

Die G-10-Kommission mag es nicht so sehen, aber für mich ist mittlerweile klar: die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste funktioniert nicht. Allein schon aus demokratisch-technokratischer Sicht: Dass sich der NSA dem GCHQ mal eben 100 Millionen Pfund zukommen lässt und die Haushaltspolitiker beider Seiten des Atlantiks merken nichts davon — das ist eine rote Karte. Das Budgetrecht des Parlaments ist eine Keimzelle der Demokratie. In Deutschland wurde der Absolutismus durch die Bürokratie abgeschafft, nicht durch Revolutionen. Dass Parlamente den Königen das Haushaltsrecht entzogen, war das Ende der meisten Könige in Deutschland.

Abseits dieser formal-kalten Argumentation gibt es ein Problem: Wir können dem Skandal keine Gesichter geben außer das des Werkvertrags-Verräters Edward Snowden. Wo sind die Opfer der NSA, der Spionage. Die nach Schnellkochtöpfen googelnden Mittelständlerfamilien sind es schon mal nicht. Khaled al-Masri, der vom CIA entführt wurde? Vielleicht. Aber wer kennt noch al-Masri und will mit ihm zu tun haben? Die Hunderttausenden, die an Flughäfen schikaniert werden, weil sie auf nicht einsehbaren Listen standen? Vielleicht. Aber was ist etwas Unbequemlichkeit am Flughafen, wenn es um Sicherheit geht?

Sicherheit — das ist ein ambivalentes Schlagwort. Die einen meinen damit Anschlagsverhinderung und die Gewissheit, dass der ADAC auch morgen noch seine Schutzbrief-Verpflichtungen erfüllt. Sicherheit heißt für andere, dass der Staat nicht durch ihr Privatleben wühlt. Doch wer das Privatleben wirklich durchwühlt, sind die gar nicht so geheimen Polizeibehörden, wie zum Beispiel der Fall Andrej Holm zeigt. Der NSA observiert nicht, der NSA schickt keine V-Männer, die andere zu Straftaten ermutigen, der NSA dreht der Polizei eine lange Nase. Wie sich Polizisten derzeit vorkommen müssen, denen man die Vorratsdatenspeicherung — aus guten Gründen — versagt hat, kann man sich vorstellen. Wo ist das Verfassungsgericht, wenn es um NSA geht? Nirgends. Wer wird klagen? Und wogegen konkret?

Es läuft doch alles nach Gesetz. Irgendein Gesetz. Irgendwo. Die das Gesetz beschlossen, kennen es vielleicht nicht — egal. Die Dienste haben vielleicht nicht recht, aber sie haben das Recht. Sie müssen sich nicht schämen, müssen nicht Abbitte leisten. Sie müssen sich nicht ändern. Denn niemand zwingt sie.

LSR-Disclaimer, Kurzfassung

Auf diesem Blog bleibt das Zitatrecht unangetastet.

Fußnote: Das bedeutet, das Leistungsschutzrecht in der heute in Kraft getretenen Form tastet das Zitatrecht in meinen Augen an. Das Gesetz widerspricht fast allen Kriterien, die ich an gute Gesetzgebung anlege. Dass ich keine Rechtschreibfehler im Gesetzestext gefunden habe, ist schon das Beste, was ich darüber sagen kann. Bis heute habe ich keine Deutung des Leistungsschutzrechts gefunden, die irgendjemandem irgendetwas bringt, schon gar nicht dem Journalismus. Selbst die Anwälte, die sich nun mit dem Wirrwarr beschäftigen müssen, haben vermutlich besseres zu tun.