Warum Raser Staus verursachen und dennoch nicht schneller ankommen

Vor ein paar Tagen habe ich auf Twitter Bilder und ein Video einer Aktion der Gruppe „Letzte Generation“ gesehen, die mir zu denken gibt: Statt sich an Fahrbahnen festzukleben, besorgten sich Aktivisten zwei Autos und fuhren damit die Autobahn mit 100 km/h entlang und bremsten dadurch den nachfolgenden Verkehr aus.

Das Bild sorgt für Emotionen. Die eine Sichtweise: Da sind zwei Autos, die mutwillig einen Stau verursachen. Die andere Sichtweise: Diese Art der Nötigung ist gerechtfertigt, da wir grade mit einer Kombination von Weltkrisen leben.

Ich habe jedoch eine dritte Sichtweise darauf, eben weil ich in den vergangenen Wochen nach Auslaufen des Neun-Euro-Tickets öfters per Autobahn nach Düsseldorf gefahren bin. Die lautet: Auf dem Bild sind nicht zwei Fahrzeuge, die gegen das Gesetz verstoßen und andere – gefühlt(!) – nötigen, sondern über ein Dutzend.

Während sich die Aufmerksamkeit ganz auf die beiden vorderen PKW konzentriert, betrachte ich eher den hinteren Teil: Nur eine Handvoll von Autos hält klar sichtbar einen Mindestabstand ein. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen, die ich auf im Berufsverkehr machte. Sobald es ein wenig voller wird, rücken sich insbesondere auf der Überholspur Autos ganz dicht auf die Pelle.

Raser müssen viel bremsen

Raser erkennt man dann nicht an ihrem Tempo – sondern an ihren ständig aufleuchtenden Bremslichtern. Da sie ständig zu wenig Abstand halten, ist jede Verzögerung ein Notfall, der mit sofortigem Bremsen beantwortet werden muss.

Und jetzt kommt der Clou: Diese Raser sorgen für mehr Staus als sich viele träumen könnten. Stellt Euch einfach eine Reihe von zehn Autos vor, die mit zu geringem Abstand fahren. Das erste Auto bremst ein kleines bisschen. Der nächste Fahrer kann aufgrund der menschlichen Reaktionszeit nicht sofort reagieren, muss also etwas stärker bremsen, um wieder den Abstand herzustellen. Der nächste muss also noch stärker bremsen – und nach ein paar Wiederholungen wird daraus eine Vollbremsung. Ergebnis: Stau aus heiterem Himmel.

Das geschieht zum Beispiel auf der A57 Richtung Düsseldorf seit Auslaufen des 9-Euro-Tickets wieder fast täglich. Dabei versucht die Verkehrszentrale des Landesbetriebs Straßenbaus NRW das zu verhindern und verhängt mittels elektronischer Schilder Tempolimits, mal 100 km/h, mal 80 km/h, selten sogar mal 60 km/h. Würde sich jeder dran halten, gäbe es an den Auf- und Abfahrten keinen Stau und jeder käme schneller an.

Doch da die Pendler ganz genau wissen, dass die Kamerabilder der Verkehrsüberwachung nicht zu Bußgeldbescheiden führen, werden diese Schilder ignoriert. Man hat die Illusion, dass man schneller vorankommt, aber letztendlich brauchen alle länger, sind alle gestresster, zahlen alle mehr Geld.

Die linke Spur gehört mir!

Ein Grund dafür ist die Überzeugung, dass die linke Spur schnellen Autos vorbehalten ist. Laut StVO haben diese Leute natürlich unrecht: Es gibt kein Benutzungsverbot der linken Spur für langsamere PKW. Manchmal gibt es ein Überholverbot für LKW, ganz selten mal eine Mindestgeschwindigkeit. Aber in der Regel darf man auch links 100 km/h fahren, wenn man jemand anders überholt. Solange man beim Spurwechsel aufpasst, niemand anderen zu gefährden, hat der lahme Kleinwagen mit einem Neupreis von 8.000 Euro genauso viel Recht auf die Überholspur wie ein getunter Porsche für 350.000 Euro. Erst nach Abschluss des Überholvorgangs muss man wieder nach rechts wechseln – unabhängig von Preis, Geschwindigkeit und Hubraum.

Das entspricht aber nicht dem Alltagserleben auf der Autobahn. Ein kleiner – allerdings nicht allzu kleiner – Anteil der Autofahrer, besteht auf ihrem nicht existenten Recht, indem sie andere Fahrer einschüchtern wollen. Dazu gehört das zu dichte Auffahren, das in der Regel seinen Zweck erfüllt. Wer im Rückspiegel einen Wagen mit 2,5 Tonnen im Abstand von weniger als einer Autolänge bemerkt, fühlt sich zu recht gefährdet. Kommt dann noch die Lichthupe dazu, hat man es mit einem Fahrer zu tun, der andere absichtlich gefährdet – natürlich möchte man so viel Abstand wie möglich zu solchen Typen haben.

Diese permanente Eigen- und Fremdgefährdung ist nicht nur eine individuelle Entscheidung, sondern ein strukturelles Problem. Dies illustriert zum Beispiel die „Auto Bild“ in einem Artikel vom Juni. Hier wird ein Truck mit besonders aggressiven Design unter anderem mit dieser Bildunterschrift angepriesen:

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Sprich: Wer dieses Auto kauft, hat sich einen festen Platz auf der Überholspur gesichert. Wenn man das so ausspricht, klingt es natürlich idiotisch. Aber dies ist die Aussage.

Was besonders traurig ist: Dieses Rumgeprotze dient nicht wirklich dem schnelleren Vorankommen. Im Stadtverkehr seht ihr die aggressiven Spurwechsler und Drängler oft an der roten Ampel wieder. Auf einer Autobahn gewinnen sie selten mal einen Kilometer Vorsprung vor den von ihnen Bedrängten. Also gewinnen sie nicht einmal eine Minute.

Wir Menschen sind notorisch schlecht darin, die Zeiteffekte des Gaspedals korrekt einzuschätzen. Wer etwa den Aktivisten vom Anfang über 60 Kilometer nachgefahren ist, statt einen Schnitt von 130 km/h zu fahren, hat weniger als zehn Minuten verloren. Hieraus eine strafbare Nötigung zu konstruieren, wird nicht so einfach sein, wenn man bisherige Urteile berücksichtigt. Ein Großteil der Drängel-Aktionen mit Gefährdung anderer Menschen bringt allenfalls ein paar Sekunden Gewinn. Wir haben es da also in der Regel nicht mit einem Zeitproblem zu tun, sondern mit einem emotionalen Problem.

Einfach mal den Fuß vom Gas nehmen

Wer richtig Abstand lässt, spart nicht nur selbst Sprit, sondern auch allen anderen Autofahrern Zeit. Wenn vor mir jemand 100 km/h fährt – zum Beispiel, weil ein Wohnmobil überholt – muss ich in den allermeisten Fällen nicht einmal aufs Bremspedal treten. Ich gehe einfach vom Gas.