Die Nivea-Nationalmannschaft

Zuvörderst: Die WM hat mir mehr Spaß gemacht als die letzte. Der wichtigste Grund: Ich habe keinen Piep von Xavier Naidoo vernommen. Ich war sogar bei einem public viewing. Das war ganz lustig und unhysterisch. Es hat Spaß gemacht mit einem Dreijährigen das begeisterte Abklatschen zu üben — aber insgesamt interessierte mich das Spiel wie experimentelle Orgelmusik im Dom. Kann man mal machen, aber dann doch eher nicht.

Dass sich meine Twitter-Timeline so über den Gaucho-Tanz der Nationalmannschaft aufregte, überraschte mich ein wenig. Nicht wirklich viel, weil auch in meiner durchgesiebten Twitter-Timeline Shitstorms zum Alltag gehören. Wenn sich die Leute über nichts aufregen können, werden sie nervös. Innerhalb und außerhalb meiner Timeline.

Ich verstehe die Empörung über die Petitesse als Überreaktion — allerdings kommt diese Reaktion nicht unprovoziert. Denn die FIFA hat die Nationalmannschaft medial zur Nivea-Nationalmannschaft gemacht. Alles glatt, alles perlt ab. Alle Spieler sind gut rasiert, nicht homophob und haben Freundinnen, die in der Gala gut aussehen. Und sie werben nicht etwa für Bier, sondern nur für Bitburger Alkoholfrei. Im Supermarkt um die Ecke bekommt das doch einige Regalmeter weniger als Bitburger mit Alkohol. Die Fans wissen schon, wofür eigentlich geworben wird.

Der alkoholfreie Fußball

Doch der klinisch reine Fußball ist eine Illusion, Marketing, Kommerz. Jeder Bahnfahrer weiß das, wenn er am Wochenende unterwegs ist und die Fußballfraktion mit einem Biervorrat einsteigt, der sie ins Koma stürzen könnte. Und es am Ende des Tages oft genug tut. Da werden leider nicht nur lustige Songs zum Besten gegeben und die Toilette in einen Saustall verwandelt. Alkohol macht viele Menschen aggressiv.

Aus meinem Bekanntenkreis bekam ich immer wieder irritierende Nachrichten. Die Fußball-Fans, die Fähnchen an ihren Autos hatten, fühlten sich von nicht mitfeiernden Menschen angemacht. Und machten sie dann an. Aggressiv. Mir wurden auf dem Fahrrad auch Sachen nachgerufen, nachdem ich in einen „Deutschland!-Gesang nicht spontan einstimmte, aber ich hatte meine Kopfhörer auf und kann nicht wirklich wiedergeben, was die sichtlich schwankenden Fans denn mitteilen wollten. Sollten sie doch feiern, ich würde sie gewiss nicht hindern.

Ich nehme an, der Gaucho-Tanz hat viele eben an dieses Missverhältnis des medial präsentierten und des real erlebten Fußballs erinnert. Denn nach einer ausführlichen Serie von Enthüllungen über die unglaubliche Korruption, der Begünstigung, der kommerziellen Selbstverliebtheit bei der FIFA — das heißt: sie wäre unglaublich, wenn die FIFA eine andere Organisation wäre und nicht schon ewig so funktionieren würde — scheint nun alles vergeben und vergessen. WM in Katar? Nur zu. Brasilien war ja auch ein Erfolg. Für unsere Jungs. Und damit für Brasilien und alle anderen.

Hypertropher Anspruch und Realität

Dass ich ausgerechnet an Frank Lübberdings FAZ-Text der Unmut gegen die Gutmenschen erregt fand ich etwas verwunderlich. Wie kommen die 400000 taumelnden Fans in Berlin ausgerechnet zur FAZ? Und was erregt sie dort?

Der hypertrophe Anspruch auf Sinnstiftung, der seit Sonntag die Berichterstattung in den Medien prägt, geriet dabei unter die Räder. Oder will jemand das deutsche Wir-Gefühl in einem Video namens „So gehen Deutsche“ verkörpert sehen?

Das schrieb Luebberding. Nichts von Nazis, nichts von überschäumendem, alkohisiertem und berauschendem Nationalismus, sondern eben das: Die Nivea-Nationalmannschaft ist eine Illusion. Dass Lübberding meinte, der Auftritt habe „alle Grenzen“ überschritten, mag der Eiligkeit des Textes geschuldet sein. Er überschritt eben nur die ungeschriebenen Richtlinien der Werbeikonen. Mal ehrlich: Wer sich ausgerechnet über den Text mokiert, der hat etwas gesucht, worüber er sich erregen kann. Wie auch sicher manche Fußball-Kritiker.

Das „Wir-Gefühl“ braucht vielfach immer noch ein „Die“-Gefühl. „Wir“ sind besser als „die“. Und „die“ sind einfach furchtbar doof, nicht männlich/weiblich genug und können nicht mal im Looping spucken. Das ist bei Volksparteien, Kleingartenvereinen und sogar bei Ingress so. Problem ist: „Die“ hören den „Wir“ nun ständig zu, denn „die“ haben auch Fernsehen, Radio, Internet. „Wir sind toll. Und ihr seid auch toll“ ist halt kein populärer Kampfruf. 

Sich über Argentinier lustig zu machen, macht nicht wirklich Spaß. Sie sind hierzulande nicht laut genug, dass man sich von ihnen absetzen könnte. Stattdessen sind nun die Leute, die #gauchogate als Skandal sehen plötzlich die willkommenen Buhmänner. Weil sich ja sonst niemand findet, der „unsere Jungs“ nicht mag. Gegen Nivea kann sich der Zorn ja nicht richten. Denn irgendwer hat die Party ja bezahlt.