Regelmäßig rollen sich mir die Zehennägel hoch, wenn ich Statements von Überwachungs-Hardlinern lese. Wenn zum Beispiel Dieter Wiefelspütz die Bundesjustizministerin mit dem Wort „fundamentalistisch“ charakterisiert – wie will man sich nach solchen Beleidigungen noch rational unterhalten? Wie will man den Weg zur Realität zurückfinden und an echten Problemlösungen arbeiten?
Aber gestern abend hat mir ein anderer Beitrag kurz den Atem geraubt. Am Sonntag hat Unternehmer-Journalist Richard Gutjahr einen Appell gegen Überwachungsgelüste geschrieben: Die Anti-Terror-Lüge, der auf Twitter ohne jede Kritik weiter verbreitet wird. Bei flüchtigen Überfliegen bin ich zunächst an dieser Stelle hängen geblieben:
Ob Schuhbomber, Times Square Bomber, Kofferbomben in Regionalzügen am Kölner Hauptbahnhof – in den meisten Fällen waren es Zivilisten, nicht die Geheimdienste, die bevorstehende Anschläge vereitelt haben.
Die Kofferbomben von Köln sind zwar ein anschauliches Beispiel dafür, wie die immer wieder erweiterten Anti-Terror-Befugnisse ins Leere liefen. Aber welche Zivilisten haben den Anschlag vereitelt? Die Bomben in dem Zug (der nicht weit an meiner Wohnung vorbeifuhr) zündeten nur deshalb nicht, weil es die Täter nicht hinbekommen hatten. Die Zivilisten, die den Bombenanschlag verhinderten, sind also die Bombenleger selbst. Und ihre Identität wurde nicht zuletzt aufgrund von Videoaufnahmen der Überwachungskameras am Kölner Hauptbahnhof festgestellt visualisiert (siehe Kommentar).
Aber gut, solche Detailfehler passieren, wenn man es eilig hat und nur einen Punkt machen will. Dann schaute ich mir die Statistik in der Mitte des Artikels an, die belegen sollte:
Auch einfache Steuerbetrüger werden angezapft – die „Anti-Terror-Gesetze“ machen’s möglich
Auch hier hat es sich Richard Gutjahr viel zu einfach gemacht. Die Statistik, der er da in bunten Farben in sein Blog gehoben hat, ist zwar Anlass für viel legitime Kritik wie die unsachgemäße Prüfung oder die mangelnde Information der Betroffenen. Das allerdings hat mit Anti-Terror-Gesetzen so gut wie nichts zu tun. Denn in der Statistik wird aufgeführt, welche richterlichen Anordnungen gemäß Paragraph 100a StPO vollzogen wurden. Die Anti-Terror-Gesetze hingegen betreffen Zugriffsrechte der Geheimdienste, die sich um solche Formalien nicht scheren müssen. (Update: Um es nochmal deutlicher zu sagen: Gutjahr verwendet zur Kritik der Anti-Terror-Gesetzgebung ausgerechnet die eine Statistik, die eben die zentralen Maßnahmen der Anti-Terror-Gesetzgebung ausschließt. Geheimdienste brauchen keine richterlichen Anordnungen und Geheimdienste hören auch nicht den Kleindealer von nebenan ab. Die Statistik der Anti-Terror-Kämpfer wird komplett anders aussehen.)
Telekommunikationsüberwachung durch gerichtliche Anordnung und durch Geheimdienste – wo ist der Unterschied, wird mancher fragen. Nun: Das eine ist eine rechtsstaatliche Maßnahme, die in der Praxis mangelhaft durchgeführt wird, das andere ist eine Überwachung, die der rechtsstaatlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist. Deshalb haben wir ja den Streit um die Evaluierung. Zudem: mir ist kein Politiker bekannt, der eine Abschaffung des Abhörens von Drogendealern fordert, weil das gegen Terrorismus nichts helfe.
Lange Rede, kurzer Sinn: der flammende Appell von Richard Gutjahr hat das Thema komplett verfehlt. Oder Um es mit dem Hitchhiker’s Guide to the Galaxy zu sagen:
So, ten out of ten for style, but minus several million for good thinking, huh?
Wer sich tatsächlich für das Thema interessiert: Zur Debatte stehen jetzt zum Beispiel die Gesetze, die den Geheimdiensten Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Abschirmdienst weitreichende Befugnisse etwa zur Abfrage von Konten- und Flugpassagierdaten einräumen. Ohne Verlängerung weiter gültig sind — wie zum Beispiel die Badische Zeitung auflistet — Strafvorschriften gegen ausländische terroristische Vereinigungen (Paragraf 129b) und gegen den Besuch von terroristischen Ausbildungslagern (Paragraf 89a); neue Zuständigkeit des Bundeskriminalamtes für die Abwehr von internationalen Terrorgefahren.
Wer also Kritik an der real existierenden Anti-Terror-Gesetzgebung üben will, hat mehr als genug zu tun. Ich wiederhole es nochmals: ernste Themen verlangen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Fakten. An Polemik besteht weiß Gott kein Mangel.