Wiki-wiki heißt schnell

Im Juni beauftragte die Wikimedia Foundation eine Art Schlichter für eine sehr kontroverse und offenbar drängende Frage: Wie viel Bein (oder eher: Penisringe, Vulven und FFK-Fotos) darf eine Enzyklopädie zeigen?

Zwei Monate später kommt der Schlichter Robert Harris zu diesem vorläufigen Ergebnis:

So far, the immediate result for me of the dialogue has been to recognize that the question of whether there is any problem to solve at all is a real question that will need a detailed and serious response, as well as a recognition that the possibility of unintended consequence in these matters is high, so caution and modesty is a virtue.

Unbestreitbare Fakten

Tobias Kniebe schreibt im SZ-Magazin über die jüngste unsägliche Sarrazin-Debatte.

Bisher hat schlichtweg kein Meinungsforscher der türkischen und arabischen Bevölkerung Berlins diese Frage gestellt. Thilo Sarrazin behauptet also etwas, von dem er schlicht und einfach nichts weiß. Wenn man aber keine Zahl hat, erklärte Sarrazin dem Reporter weiter, muss »man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch«. Danke dafür. Hier zeigt das, was wir derzeit »Debatte« nennen, wenigstens einmal seine erschreckende Fratze.

Es ist leider so: wenn jemand Zahlen hat – egal wie wenig fundiert oder aus dem Kontext sie gerissen wurden – hat er ein Argument. Er kann nicht ganz falsch liegen. Denn er hat ja Zahlen!

Kniebe weiter:

Das Internet und der moderne News- und Fakten-Overkill verschärfen das Problem noch. Man muss aber eine persönliche Antwort darauf finden. Meine Antwort ist, dass ich jetzt erstens gar nichts mehr glaube und zweitens auch gar nichts mehr hören will. Halt!, rufen da die größten Schwachsinnsverbreiter. Muss man dieses und jenes nicht mal sagen dürfen? Die Debatte in Gang bringen? Ist Drüberreden nicht besser als Nichtdrüberreden? Ich sage inzwischen: Nein.

Das möchte ich gerne unterschreiben. Und zwar nicht nur, wenn es um Sarrazin geht, sondern besonders auch wenn es um Dinge geht, die einem selbst am Herzen liegen.

Popcorn-Krieg um Wikileaks

Ich habe die Geschichte um die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange als Strohfeuer bezeichnet. Aber in diesem Sommer gibt es offenbar keinerlei Mangel an Stroh, so dass die Geschichte wohl noch einige Zeit Schlagzeilen verursachen wird.

Gerade habe ich den Tagesspiegel-Artikel von Christoph von Marschall gesehen, der mit der Märchenstunde um Julian Assange aufräumen will.

Die meisten US-Zeitungen schlagen einen distanzierten, aber nicht unfreundlichen Ton an. Viele deutsche Zeitungen lassen ihre Sympathie mit Assange und ihr Misstrauen gegenüber US-Militär und Geheimdiensten durchklingen. Die meisten deutschen Online-Medien betreiben bewusst oder unbewusst die Stilisierung Assanges zu einem Robin Hood des Internets. In Konfliktfällen wird seine Darstellung breit zitiert. Fakten, die diesem Bild widersprechen, und die Darstellung der Gegenseite, werden oft weggelassen.

In der Tat haben in der Vergangenheit viele Behauptungen von Wikileaks über nicht standgehalten. Allerdings schießt von Marschall für meinen Geschmack etwas über das Ziel hinaus. Das liegt aber auch daran, dass ich jetzt grade nicht nachvollziehen kann, wie viele Aussagen von Assange, denen der Tagesspiegel-Autor widerspricht, tatsächlich gefallen sind oder eventuell verfremdet wiedergegeben wurden. Zudem: ob Wikileaks in den USA tatsächlich gegen das Gesetz verstoßen hat, ist keinesfalls geklärt.

Man muss aber gar nicht lange suchen, um eindeutige Widersprüche zu finden: So zitiert der Guardian Assange in einem lesenswerten Artikel über die Fakten zum Vergewaltigungsvorwurf den Wikileaks-Gründer:

In subsequent tweets and interviews, Assange suggested that the timing of the allegations against him was „deeply disturbing“. He told al-Jazeera on Sunday: „It is clearly a smear campaign … The only question is who was involved. We can have some suspicions about who would benefit, but without direct evidence, I would not be willing to make a direct allegation.“

Das ist eine Logik-Konstruktion, die mancher Politiker erst nach zermürbenden Jahren im politischen Kampf hinbekommt. Wenn die Vorwürfe Teil einer Kampagne gegen Assange sind, dann ist dies ganz logisch eine direkte Anschuldigung gegenüber den beteiligten Frauen.

Dass die Anschuldigungen gegenüber Assange bekannt wurden, überrascht keineswegs. Ergeht ein Haftbefehl, müssen viele Polizisten Bescheid wissen. Und Boulevardmedien legen viel Wert auf Beziehungen zur Polizei um eben solche Informationen zu bekommen. Auch eine Art von Transparenz.

Einige enthusiastische Wikileaks-Anhänger sind unterdessen nicht zimperlich dabei, die beteiligten Frauen zu ermitteln und zu beschimpfen. Besonders skurril: einige Leute legen sehr großen Wert darauf, dass eins der vermeintlichen Opfer eine „radikale Feministin“ sei. Aber keine Sorge: erste vermeintlichen Verbindungen zur CIA wurden schon identifiziert, die Verschwörungsspirale rotiert. Wem Fakten zu langweilig sind, muss sich nicht mit ihnen beschäftigen.

Der britische Blogger David Allen Green fasst es so zusammen:

But if the enemies of WikiLeaks had actually wished to bring discredit on it with some smearing conspiracy, then they would not have brought WikiLeaks as much discredit as some of its supporters have managed by themselves in the last few days.

Aber auch im anderen Lager gießt man reichlich Öl ins Feuer: ein Abgeordneter des US-Repräsentantenhauses fordert die Todesstrafe für den mutmaßlichen Whistleblower Bradley Manning:

Following news that an Army private was accused with leaking thousands of pages of intelligence documents related to the war in Afghanistan, Congressman Mike Rogers says he supports execution for the soldier involved if he is ultimately found guilty.

Glaube, Liebe, Hoffnung

Es gibt ja dieses geflügelte Wort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ Da jeder von uns täglich in mehr oder minder schwerer Weise lügt, habe ich dem nie besonders viel Bedeutung beigemessen. Und dazu schaffen es manche Menschen immer wieder Vertrauen zu gewinnen, obwohl sie dem Publikum riesige Bären aufgebunden haben.

Ein Artikel im Lawblog zeigt, dass man das Ganze aus einem anderen Blickwinkel sehen kann. Wenn man jemandem vertraut, so investiert man sozusagen in ihn. Eine desaströse Lüge kann das Vertrauen erschüttern – aber so ganz möchte man sich von seinem Investment nicht verabschieden. Betrüger machen sich das zu Nutze, in dem sie ihrem Opfer erst eine falsche Prämisse verkaufen und darauf dann – Stein für Stein – ein ganzes Lügengebäude errichten.

Daher könnte man das Sprichwort umdrehen:

Wem man einmal glaubt, dem glaubt man auch ein zweites Mal.

The independent enterprise of the great newspapers

Golem berichtet über einen interessanten Vorschlag über die Umgestaltung des Urheberrechts in den USA

Clemons und Madhani sprechen sich dafür aus, selbst Zahlen und Fakten für 24 Stunden urheberrechtlich zu schützen. Schon die Wiedergabe der puren Fakten würde dann einen Urheberrechtsverstoß darstellen.

Die Begründung erinnert an die Debatte zum Leistungsschutzrecht in Deutschland:

Über Google News sei es möglich, „die wichtigsten Absätze fast jeder Story in der New York Times, der Washington Post und praktisch jedes anderen großen Nachrichtendienstes in Echtzeit zu lesen“. Es sei deshalb, schreiben Clemons und Madhani, nicht verwunderlich, dass „die traditionellen Medienpublikationen sterben“.

Was finde ich daran so interessant? Nun – das Ganze gab es schon Mal. Als sich die Telegrafie in den USA verbreitete, machten sich viele Zeitungen einen Sport daraus die spannenden Nachrichten von anderen Zeitungen zu übernehmen. Zeitverschiebung sei Dank konnten die Blätter an der Westküste die geklauten Berichte am gleichen Tag publizieren wie die Kollegen von der Ostküste – ohne sich aufwändige Recherche-Arbeit zu machen.

The doctrine was given U.S. Supreme Court recognition in International News Service v. Associated Press, 248 U.S. 215 (1918). INS would take AP news stories from East Coast newspapers and wire them to the West Coast newspapers that had yet to publish. The Supreme Court held that INS’s conduct was a common-law misappropriation of AP’s property. (fn5). Congress recognized that the „hot news“ doctrine should continue as an exception to pre-emption of state law by the federal Copyright Act. The House Report for the 1976 amendments to the Copyright Act stated that „state law should have the flexibility to afford a remedy . . . against a consistent pattern of unauthorized appropriation by a competitor of the facts (i.e., not the literary expression) constituting „hot“ news, whether in the traditional mold of [International News Service] or in the newer form of data updates from scientific, business or financial data bases.“

Der Kampf wurde über mehrere Jahrzehnte geführt. Und die Rethorik des Ganzen erinnert doch sehr an heute. So begründet ein Richter im Jahr 1901 seine Entscheidung so:

Is the enterprise of the great news agencies, or the independent enterprise of the great newspapers, or of the great telegraph and cable lines, to be denied appeal to the courts, against the inroads of the parasite, for no other reason than that the law, fashioned hitherto to fit the relations of authors and the pul)Iic, cannot be made to fit the relations of the public and this dissimilar class of servants ? Are we to fail in our plain duty for mere lack of precedent ? We choose, rather, to make precedent-one from which is eliminated, as immaterial, the law grown up around authorship-and we see no better way to start this precedent upon a career than by aflirming the order appealed from.

Character Assangination

Die Story Das Strohfeuer des Tages war: CSI, NSA oder MI5 haben dem Staatsfeind Nummer Eins etwas angedichtet. Diese Interpretation der Ereignisse kam nicht von ungefähr.

Die Wahrheit ist wahrscheinlich wesentlich simpler. Der Mann hat kein eigenes Bett. Und muss sich andere suchen. Der Rest ist ein emotionales Bermudadreieck.

P.S.: Die plumpe Schwarz-Weiß-Malerei auf Twitter und in Foren ist – wie zu erwarten – deprimierend blöde. Dem müssen sich natürlich die Online-Medien anschließen. So hat Süddeutsche.de einen Mitarbeiter in Stockholm aktiviert, der allerdings ebenfalls nur die Medienberichte aufzählt, die schon alle anderen zitiert haben. Der Artikel beginnt so:

Ist Wikileaks-Gründer Julian Assange ein Sexualtäter oder Opfer eines Geheimdienstkomplotts?

Für eine dritte Möglichkeit ohne Verschwörung oder Vergewaltigung reicht die Fantasie wohl nicht.