RAF und RTL

Medien sind etwas Tolles. Besonders wenn man die kleinen Mechanismen kennt, die einfach unvermeidbar sind. Man drückt auf einen Knopf und schon springt der Teufel aus der Kiste. Obwohl er das immer wieder tut, können sich Kinder über Stunden über den Springteufel amüsieren.

Das funktioniert auch ohne Kisten und Teufel. Ein Beispiel: Man macht geschmacklose RAF-Scherze und schon kommt RTL und berichtet. Tolle Sache, das.

Das Problem: Ich glaube kaum, dass der Trainingsanzug-tragende RTL-Zuschauer zum Kiosk stapfen wird, um dort den Spruch „Gib mal taz!“ abzulassen. Da hat die NRW-Redaktion wohl dem eigenen Kinospot geglaubt.

Was ich heute sage, ist heute zutreffend

Nachdem es nicht mehr zu dementieren war, hat jemand dem Polizei-Pressesprecher gesteckt, dass doch einer seiner Polizisten in Autonomen-Verkleidung enttarnt wurde. Obwohl er gestern noch das Gegenteil behauptet hat.

SpOn zitiert ihn:

Nachdem die Polizei heute bestätigte, dass ein getarnter Mitarbeiter vor Ort ermittelte, sagte Claasen zu SPIEGEL ONLINE: „Das ist ein neuer Sachstand. Was ich gestern gesagt habe, war gestern zutreffend. Was ich heute sage, ist heute zutreffend.“

Und was wird wohl morgen zutreffend sein? Steinewerfen als verfassungsgemäße Informationssammlung?

Ich hab ja gestern noch für möglich gehalten, dass es sich bei der ganzen Meldung um eine Ente handelt. Aber wenn der zuständige Sprecher erst falsch informiert und ganze zwei Tage nach dem Ereignis nur das Notwendigste zugibt, dann sind weitere Zweifel angebracht. Wenn man dazu dann noch die versammelten offiziellen Falschmeldungen der letzten Tage dazuzählt, ergibt das ein wirklich trauriges Bild von der Glaubwürdigkeit der Polizei.

Säzzer 2.0?

Erinnert sich noch jemand an die „Säzzer“? Nun: Die Setzer waren ein altertümlicher Berufszweig, die die Textergüsse der Redakteure in Zeitungsform gegossen haben. Bei der jungen taz hatten diese Setzer manchmal eine ganz eigene Vorstellung von den Artikeln, die sie eigentlich nur ins Blatt heben sollten. Und die Revolution: sie schrieben das auch in die Artikel rein. Aus dem Setzer war der Säzzer geworden. Die eigenartige Unart der Sätzer wurde zum Teil der jungen taz-Kultur und schlief folglich in den 90er Jahren ein. (Mehr findet sich zum Beispiel hier.)

säzzer

 

Heute morgen dachte ich, dass diese Tradition wieder aufgelebt sei, als ich auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau (sorry – ich meinte natürlich: der neuen FR) den Satz „Diese Zeitung wird bestreikt“ fand. Und das ganze noch auf rotem Grund.

Aber Fehlalarm: Es waren keine Säzzer, noch die streikenden Druckereiangestellten, sondern die Redaktion. Die hat ein Tabu gebrochen und berichtet tatsächlich halbwegs ausführlich über die Druckerstreiks. Sonst vermeiden Verleger eine solche Berichterstattung – schließlich will man dem Tarifgegner keine kostenlose Publicity bringen.

The origin of Blogs

Philipp Dudek schreibt:

Wir hatten eine Idee und wir hatten alle ein Bier zu viel getrunken – an diesem Abend in einer Hamburger Kneipe. “Eine neue Form der Online-Reportage muss her”, war unser Gedanke. Eine Darstellungsform, die endlich dem Medium Internet genüge tut.[…]

Mittlerweile ist es Juni. Wir haben immer noch kein Geld. Dafür sind wir zu viert. Und aus der innovativen Form der Onlinereportage ist ein einfaches Blog geworden. Aber das werden wir so richtig rocken. Mit Fotos, Videos und Texten. Schön linear und synchron…

Irgendwie kenne ich den Ablauf. Es war Berlin, wir waren zu viert und das Ergebnis war Kick Dich.

Trinkt mehr Bier!

Hauptsache Aktion?

Be schreibt:

Und mir ist bloßer Aktionismus lieber als gar keiner.

Ein nachvollziehbares Gefühl. Man muss doch irgendetwas tun können. Doch damit die Aktion nicht völlig im Nichts verpufft und Kräfte nicht unnötig gebunden werden, sollte man sich vorher einige Fragen stellen. Eine kleine Checkliste:

  • Ist die Botschaft für Außenstehende sofort verständlich? Fragt jemanden, der Outlook nutzt und Ebay toll findet.
  • Falls nicht: werden durch Planung und Ausführung Kräfte mobilisiert, die nachhaltig auch für andere Aktionen zur Verfügung stehen?
  • Ist jemand beteiligt, der die Aktion auch gegenüber der Presse vertreten kann und will?
  • Entspricht die Aktion den eigenen Grundsätzen? Menschenfreunde schlagen keine Menschenfeinde zusammen.
  • Gibt es eine Möglichkeit Erfolge von Misserfolgen zu trennen, sodass man die Ausführung im Fall der Fälle anpassen kann?

PS: Einen sehr wichtigen Punkt habe ich vergessen

  • Wird ein Dialog mit dem Kritisierten ermöglicht?

Publizistischer Schwarzschimmel

In irgendeinem Kriegsfilm – eventuell war es „Good Morning, Vietnam“? – habe ich den Satz aufgeschnappt: „Military intelligence? Was für ein Widerspruch.“ Zugegeben: im Deutschen kommt der Witz nicht so gut heraus. Im Englischen heißt intelligence eben nicht nur „Intelligenz“ sondern auch „Geheimdienst“.

Aber keine Bange – ich habe einen deutschen Ausdruck gefunden, der dem flachen Wortwitz in jeder Hinsicht Paroli bieten kann. Gefunden habe ich ihn in der taz, die in einem Artikel die Denkungswelt eines Netzeitungs-Chefredakteurs vorstellt.

Neben dem neuen Layout, das wohltuend aufgeräumt daherkommt, hat das Chefredakteursduo am „bislang zu einseitigen und mitunter etwas drögen“ Themenmix geschraubt. Das neue Schlagwort lautet: intelligenter Boulevard. Das heißt weniger Politik, dafür mehr Sport und Vermischtes auf der Startseite.

Ich wiederhole diese absurde Wortkombination gerne nochmal: intelligenter Boulevard.

Wie sieht das wohl aus? Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen. Die Synapsen meines Gehirns versuchen die Information zu verarbeiten, fördern aber nur Bilder zu Tage, die eines M.C. Escher würdig sind. Absurde Konstruktionen. Intelligent und Boulevard? Hat das barbusige Mädchen aus Seite 1 nun eine Brille auf? Der Penisbruch als Katharsis und nicht etwa als billige voyeuristische Attraktion?

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Ein Blick auf die Netzeitung belehrt mich – und er erklärt auch, warum ich die Seite in den letzten Monaten immer seltener aufrufe. Intelligenter Boulevard: das sind Besetzungs-Meldungen aus der Welt der Super-Models, Sprüche aus dem WM-Studio, die neuen Nachrichten aus einer abgestandenen Casting-Show und alberne Fotos von Politikern.

Ich könnte mir nichts Drögeres vorstellen.

PS: Stefan Niggemeier hat das taz-Interview auch gelesen, und lässt sich über Vor-Ort-Recherche, Chefredakteurs-Euphorie und Werbung bei der Netzeitung aus. Wer mehr über den intelligenten Boulevard erfahren will, erfährt am 13. Juni an der FU Berlin mehr.

Ehrenrettung für Bombenbauanleitungen und Terroristen?

Drei Monate nach den versuchten Bombenanschlägen auf Regionalzüge berichten Zeitungen von neuen Erkenntnissen. Die Bomben hatten mehr Sprengkraft als damals vermutet wurde. Eine Ehrenrettung für Bombenbauanleitungen im Internet: nach den Anschlägen hatte man den Eindruck, dass die vielzitierten Terrorbausätze kaum gefährlich sind. Und wenn doch: dann vor allem für den Bombenbauer.

Die taz berichtet:

Dabei bauten die Experten die Bomben detailgetreu nach. Sie machten allerdings nicht den technischen Fehler der Attentäter, der eine Detonation der Bomben verhindert hatte. Die Fachleute bescheinigten den Sprengsätzen, die die Täter nach einer Anleitung aus dem Internet zusammengesetzt hatten, eine gewaltige Wirkung.

Mit der Neueinschätzung der Bomben geht offenbar auch eine Neueinschätzung der Täter einher.

Danach verfestigt sich der Eindruck, dass nicht nur fähige Bombenbauer, sondern auch sorgfältig planende, intelligent vorgehende Täter am Werk waren, die aus religiösem Eifer möglichst viele Menschen ins Jenseits befördern wollten. […] An jenem Tag stellten die Extremisten die beiden Kofferbomben in die Regionalzüge, die auf dem Kölner Hauptbahnhof auf ihre Abfahrt warteten. Danach begaben sie sich zum Flughafen und hoben nur Minuten nach der geplanten Explosionszeit gen Beirut ab. Sie seien fest vom Erfolg ihres Anschlag überzeugt gewesen, sagte Hamad in seiner Aussage.

Moment Mal – das soll Anzeichen von Intelligenz und Sorgfalt sein? Ja sicher: die Täter waren nicht grenzdebil und sie waren auch keine Selbstmordattentäter.

Aber ist es wirklich so intelligent, ausgerechnet im Kölner Hauptbahnhof die Bomben zu platzieren? Dort, wo überall Kameras hängen? Regionalzüge halten an bedeutend weniger überwachten Bahnhöfen, die Bahn versteckt ihre Kameras auch nicht. Auch die Uhrzeit überrascht bei der Ansage: Jeden Tag sind die Regionalzüge und Bahnsteige im Berufsverkehr überfüllt. Das in der taz abgebildete Überwachungsfoto zeigt jedoch die Uhrzeit 12:34 und einen ziemlich leeren Bahnsteig an. Die Anschläge von Madrid und London haben gezeigt, dass sorgfältig arbeitende Terroristen ganz bewusst den Berufsverkehr nutzen, um möglichst viele Menschen umzubringen.

Ich möchte den versuchten Massenmord nicht verharmlosen, aber man sollte die Fakten nicht verdrehen. Zum Glück waren die Verbrecher nicht halb so schlau wie sie dachten. Und nicht selbstmörderisch genug, um sich selbst in die Luft zu sprengen. Zum Glück.

Notizen: Es gibt Hartz-IV-Gewinner

Einige Notizen zur Unterschichten-Debatte:

Die taz bringt heute zum Thema Unterschicht sechs Fragen und Antworten

Macht Hartz IV arm?

Jein. Nach einer Studie des Nürnberger IAB-Instituts haben 53 Prozent der bedürftigen Haushalte durch die Reform Geld verloren, 47 Prozent haben etwas dazugewonnen.

Interessant ist der Begriff „Prekariat“. Was ist das eigentlich?

Die Wikipedia-Community hat sich natürlich direkt an die Arbeit gemacht und schreibt:

Prekariat ist ein Neologismus der Soziologie, geformt aus Teilen des Wortes Prekarität (Adj.= pre|kär [lat.-frz.] peinlich, schwierig) und Proletariat und definiert „ungeschützte Arbeiter“ als eine neue soziale Klasse.

Es gibt auch einen älteren Artikel über die Prekarisierung, seine Neutralität ist aber wie bei vielen Wikipedia-Artikeln zu sozialen Themen umstritten. Ein weiteres Stichwort ist die Neue Unterschicht. Ich erwarte in diesen und weiteren Artikeln in nächster Zeit erbitterte Diskussionen, Editwars und wüste Beschimpfungen. Immerhin kann man schon einige Fakten und Links herausziehen, die in der allgemeinen Berichterstattung untergehen. So zum Beispiel ein WDR-Interview mit dem Leiter der Studie, die so große Diskussionen ausgelöst hat – aber erst Mitte Dezember veröffentlicht werden soll.

Netzwerken und Erniedrigung

Die taz hat einen schönen Artikel über das Netzwerken: Raus aus der Smalltalk-Falle. Darin beschreibt Kirsten Reinhardt das Unverbindlich-in-Kontakt-bleiben um irgendwann einen Auftrag zu bekommen.

Zwanglose Kommunikation. So eine Zwanglosigkeit vorzutäuschen ist eine schwierige Angelegenheit. Man möchte es dabei schließlich nicht so aussehen lassen, als wolle oder, noch schlimmer, als brauche man etwas. Einen Job, einen Auftrag … bitte, bitte … die Rechnungen stapeln sich schon zu Hause auf dem Küchentisch. Nein, das will man nicht. Obwohl es so ist. Also tarnt man das Netzwerken unverkrampft-geschickt in einer netten E-Mail, einem Geplauder über die herrliche Herbstsonne und den tollen Film, der gerade im Kino läuft – um sich schließlich so ganz nebenbei zu erkundigen, ob die Schwangerschaftsvertretung noch frei ist.