E10

E10 ist der neue Guttenberg: Jeden Tag neue Schlagzeilen, obwohl es eigentlich so wenig Neues gibt. Die Schlagzeile von Montag ruft aufgeregt „Boykott“ und die Schlagzeile vom Dienstag wundert sich, dass die Autofahrer trotzdem nicht massenhaft E10 tanken und erklärt das Ganze zum „Aufstand“. Aufstände sind gerade sehr angesagt.

Interessantes Detail: Während alle anderen von „Biosprit“ reden, schreibt die taz vom Agrosprit. Bio ist Natur, frisch, gut. Agrar, das ist Überdüngung, Gentechnik und Lebensmittelkonzerne.

Die Hoffnung, dass die Deutschen E10 aus enttäuschtem Umweltbewusstsein massenhaft verweigern, halte ich für haltlos. Wer so denkt, fährt tendentiell eh schon Fahrrad und Bahn. Was ich mich frage: Warum wirbt die Bundesregierung für E10 nicht viel lauter mit dem Argument: „Wir wollen den Gaddafis dieser Welt nicht so viel Geld überweisen“?

Wer sich mit Biosprit auseinandersetzen will und sich dabei unterhalten lassen will, sei an dieser Stelle nochmal die Serie The West Wing empfohlen. In Staffel 6, Folge 13 mit dem Titel „King Corn“ wird die Ethanol-Politik der USA aufs Korn genommen. Die Vorzeichen sind etwas andere, die Politik dahinter jedoch die gleiche wie hier:

Russell: It takes more oil to transport it and fertilize it than we save using it.
Will: Sir, you’re not considering changing the speech?
Russell: Don’t worry, I’m not suicidal.

BP zu Guttenberg

Grade verkündet die Tagesschau, dass Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg dauerhaft auf das Führen des Doktorgrades verzichten will. Damit erinnert er mich immer mehr an die Öffentlichkeitsarbeit von BP nach der Explosion von Deepwater Horizon. Vertuschen, kleinreden, andere beschuldigen. Über Tage hat der CSU-Politiker seine Partei und Koalitionspartner in Geiselhaft gehalten: Unterstützt mich. Ihr braucht mich! 21,9 Prozent! Afghanistan!

Das Problem ist nur: Mit einem Verzicht ist es nicht getan. Nun muss die Universität Bayreuth prüfen und – ohne vorverurteilen zu wollen – ich vermute, das Ergebnis sieht nicht gut aus. Die Frage ist: hat er betrogen? Zwar hat laut Guttenberg-fanclub.de Bild.de zu Guttenberg bei einer Wahlkampfveranstaltung seine eigene mühevolle Arbeit als „Blödsinn“ bezeichnet und Reue gezeigt. Aber wieder einmal schreckt er vor dem Schritt zurück, der mir unvermeidlich scheint: eigene Verantwortung zu übernehmen.

„Ich habe Fehler gemacht, ich habe sie nicht bewusst gemacht”, sagte er.

Genau das erscheint mir nach dem derzeitigen Informationsstand ausgeschlossen. Sieben Druckseiten aus einem Zeit-Artikel kopieren, über 20 Prozent der Textmasse plagiieren — das passiert nicht einfach. Guttenberg schützt Unkenntnis vor, um die eigene Ehre zu retten. Vielleicht sogar mit Erfolg: denn seine Gefolgschaft weiß es ja auch nicht oder will es nicht besser wissen.

Man könnte es nun auf sich beruhen lassen, so zumindest die Pro-Guttenberg-Fans. Er hat sich ja entschuldigt. Doch leider ist durch die anhaltende Nicht-Übernahme der Verantwortung dieser Weg versperrt. Er hat sich immer nur für die Light-Version des Geschehenen entschuldigt, immer nur die Hälfte von dem zugegeben, was eigentlich nicht mehr zu Leugnen war.

Journalisten werden weiter bohren, weiter bohren müssen. Denn der Klärungsbedarf ist groß: wie konnte die renommierten Prüfer so offenkundige Mängel übersehen? Wie tief ist der Sumpf, in dem solcher Blödsinn nicht nur durchgewunken, sondern mit Auszeichnungen belegt werden? Welche politischen Deals werden geschlossen, um Oberfranken vor der Bedeutungslosigkeit zu retten?

P.S.: In der öffentlichen Diskussion kommt die tätige Reue etwas zu kurz. Nach wie vor entschuldigt sich Minister Guttenberg für eine lässliche Sünde, die er aus vermeintlicher persönlicher Größe als schwere Verfehlungen bezeichnet. Das ist natürlich nur ein persönlicher Eindruck.

Was mir aber eindeutig fehlt: Bevor man eine Entschuldigung akzeptieren kann, muss der Entschuldigende reinen Tisch machen. Doch das hat er bis heute nicht. Er hat nicht erklärt, wie viel er geschummelt hat, er hat nicht erklärt, wieso er geschummelt hat und seine Professoren haben nicht erklärt, wie sie die Arbeit mit summa cum laude bewerten konnten, obwohl der Prüfling selbst die Arbeit nun als „Blödsinn“ bezeichnet.

Netzethik als Loriot-Film

Die Bundesregierung will uns mit einer Netz-Ethik beglücken. Und geht gleich forsch dabei vor – ohne falsche Schüchternheit.

Wettengel stört sich an den gängigen „Phantasienamen“ in Online-Foren. Normalerweise sei es ein Zeichen von Höflichkeit, dass sich der Bürger „zu sich selbst bekennt“. Er warf die Frage auf, was die „ständige Verwendung“ von Pseudonymen „für Rückwirkungen auf die reale Welt haben wird“.

Ja, was mag das für Auswirkungen haben? Ich war zum Beispiel heute am Supermarkt und habe mich weder an der Metzgereitheke, noch an der Kasse vorgestellt. Dabei wissen wir doch, wie das korrekt ablaufen muss. Das Vorbild der Netzethik des Herrn Wettengel ist offenbar Loriots Pappa ante Portas: „Guten Tag, mein Name ist Lohse! Ich kaufe hier ein!“

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Mal im Ernst: die Phantasienamen stammen daher, dass im digitalen Raum unsere Umgangsformen eingeschränkt sind. Was ist das für einer, unser Gegenüber? Wir sehen ihn nicht. Wir wissen nicht wie alt er ist, wie er sich kleidet, wer er ist. Und da im Netz Millionen von Fremden mit Millionen von Fremden zu tun haben, ist es sogar ganz praktisch, wenn das Gegenüber sich durch einen Nicknamen etwas mehr zu erkennen gibt. Was weiß ich, wenn mir jemand „Lohse“ ins Kommentarfeld schreibt? Nichts.

Darüberhinaus wird man im Netz ständig nach seiner Identität gefragt. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mich in der „realen Welt“ das letzte Mal den Personalausweis vorzeigen musste — ich glaube, es war als ich in ein Flugzeug steigen wollte. Der Normalfall ist, dass wir uns nicht ausweisen, sondern einfach sind. In der stofflichen Realität tragen wir Kapuzenpullis oder Krawatte, Nasenpiercing oder Halbglatze, im Netz tragen wir Nicknamen. Es ist wenig, aber es ist etwas. Es ist eine Notwendigkeit, wenn man unter Fremden ohne große Angst kommunizieren will. Man stelle sich vor, die Stammkneipe verlangt Ausweise und schickt uns alle paar Minuten einen misstrauischen Aufseher vorbei, der gerne alle Gäste abmahnen würde.

Bezeichnend ist auch dies:

Derzeit werde das von Bundesinnenminister Thomas de Maizière ausgearbeitete „Gesetz zur Verhinderung schwerer Eingriffe ins Persönlichkeitsrecht“ in den Ministerien abgestimmt, das besser bekannt sei unter dem Titel „Rote-Linie-Gesetz“.

Rote-Linie-Gesetz? Ich weiß, dass der US-Kongress seinen Gesetzen gern blumige Namen gibt – aber im bürokratischen deutschen Gesetzes-Slang soll diese frivole Namensgebung wohl auch ein Signal sein: Hier ist die rote Linie!“, sagt uns der Innenminister. Denn wir sind 6-jährige Rotzlöffel, denen man Grenzen setzen muss. Anscheinend steht hier nicht der Schutzgedanke an erster Stelle, sondern ein Erziehungsauftrag. Herr de Maizière erklärt uns, wie man sich zu benehmen hat.

Mein Name ist Torsten. Ich werde hier bloggen, Herr Minister.

Wikipedianer verschenken Millionen

Wikipedia ist keine Demokratie. Ich kann das so oft wiederholen wie ich will – es werden immer wieder Medien finden, die das Gegenteil behaupten. Aber, wie Gründervater Jimmy Wales immer wieder betont: Wissen ist keine Verhandlungssache. Wenn es demokratisch zuginge, wären zum Beispiel historische Darstellungen des Propheten Mohammed längst verschwunden, die Evolutionstheorie wäre nur eine von vielen Hypothesen, wie der allmächtige Gott seinen Plan verwirklichen wollte, Sarah Palin zur Präsidentin zu machen.

Wikipedia ist keine Demokratie, weil die Online-Enzyklopädie dazu viel zu offen ist. Jeder kann sich hinter verschiedensten IP-Adressen und Accounts verstecken – und oft genug tun sie es auch. Tagtägliche gibt es bei Tausenden von Artikeln Streitfälle, die sich nicht auf die Regeln runterbrechen lassen, oder die das teilweise konfuse Regelwerk ad absurdum führen. Ruf nicht nach Abstimmungen, nach Umsturz, sondern Sei Mutig! schrieben die altehrwürdigen Früh-Wikipedianer ihren Nachfolgern ins Stammbuch – und verabschiedeten sich ins Elysium von Berufstätigkeit und höheren Aufgaben.

Wikipedia ist keine Demokratie. Und doch gibt es Wahlen. Und Abstimmungen. Eine kleine Schar von Autoren, die sich dem großen Ganzen verpflichtet fühlen, die von den Entscheidungen anderer genervt fühlten oder die sonst in einem Sportverein wären ohne selbst Fußball zu spielen, kommt immer wieder zusammen, um über den Zukunftskurs und die Herausforderungen die Wikipedia zu bestimmen. Eine dieser Entscheidungen, die zu treffen wäre, ist mir grade wieder ins Auge gefallen.

Seit Jahren steht die Beteiligung an dem METIS-System der Verwertungsgesellschaft VG Wort immer Mal wieder auf der Agenda des Verein Wikimedia Deutschland. Kurz zusammengefasst: Die VG Wort sammelt Geld von uns allen ein, um Autoren für die vielen unbezahlten Verwertungen von Texten zu entschädigen. Bei Wikipedia ist in den vergangenen zehn Jahren eine ganze Menge Text zusammen gekommen, was die VG Wort dazu bewegte bei Wikimedia Deutschland anzufragen, wohin man das Geld denn überweisen könne. Doch es gibt Schwierigkeiten: die Software von Wikipedia ist nicht wirklich zu dem Zweck gerüstet, die VG Wort würde gerne ihre Zählpixel installieren und überhaupt: will man überhaupt bei einem solchen System mitmachen? Für Wikimedia wäre das System lukrativ – schließlich wird auch ein Anteil des Geldes an den Plattform-Betreiber ausgeschüttet.

Nach jahrelanger ergebnislosen Vereinsberatungen wurde nun die Community um Rat gefragt. Obwohl die Umfrage noch bis zum 25. Februar laufen soll, scheint das Ergebnis bisher eindeutig: gerade Mal 12 Befürworter stehen 120 Gegner gegenüber, 16 schwankende Nutzer hätten gerne ein Gutachten zum Thema. Die Statements zum Thema gehen sehr oft ums Prinzip, es geht um Verteilungsgerechtigkeit, Freies Wissen und die Angst, wie das Geld die zuweilen fragile Gemeinschaft der bisher unbezahlten Autoren untergraben würde:

–† Alt ♂ 02:24, 26. Jan. 2011 (CET) Das gierige Funkeln, das stellenweise jetzt schon in einigen Kommentaren aufscheint (was wir damit alles machen könnten!) verursacht bei mir extreme Magenschmerzen. Wenn wir hier Geld fürs Schreiben bekämen, würde sich verdammt viel ändern und es ließe sich wohl auch nicht mehr zurückdrehen.

–Jogo.obb Disk 21:34, 27. Jan. 2011 (CET) Was bekommen die, die im Hintergrund ackern, um zu verhindern das aus der WP ein Müllhaufen wird? Wer bekommt die Vergütung für Autoren bei einem Artikel mit X Autoren? Wer soll prüfen, ob ein Autor wirklich etwas für den Artikel geleistet hat oder ob er bloß ein Stückchen vom Kuchen haben will? Wer sorgt dafür, das nachher nicht sämtliche wichtige Artikel gesperrt werden, dass sich die Admins den Batzen allein verteilen können? Wie werden die Belohnt, die sich um Illustrationen kümmern? Wenn dann müsste das Geld komplett an die Stiftung fließen, das heißt Autoren müssten einer Verzichtserklärung auf ihre Ansprüche zustimmen, das wäre bei 26.715 aktiven Benutzern bereits ein enormer Aufwand, es müssten jedoch auch alle anderen der 1.156.568 angemeldeten Benutzer zustimmen.

–Andys / ☎ 12:54, 29. Jan. 2011 (CET) Ich lehne das geltende Urheberrechtsgesetz eh ab, das in weiten Teilen überholt und hoffnungslos veraltet ist. Da kann ich mich nicht zu dessen Nutznießer machen. Ich lasse mich nicht korrumpieren.

Es wird viel spekuliert über hive minds und verschwörerische Kungelrunden, die geheimen Agenden der Wikipedia-Oberen – METIS ist nur ein Kapitel von vielen, was diese einfachen Erklärungsmuster ad absurdum führt. Natürlich gibt es in der Wikipedia wie in jedem anderen Lebenraum Politik und Intrigen – wer jedoch sich nur auf das konzentriert, was ihm gefällt oder was ihm gerade nicht gefällt, wird Wikipedia nie verstehen.

<x-pire> is expired

Gerade wird in Berlin vorgestellt, wie sich die Bundesregierung einen digitalen Radiergummi vorstellt. Wie Kristian Köhntopp beschreibt ist das Ganze eine Art DRM, das jedes Mal beim Keyserver anfragt, ob es denn eine Datei anzeigen kann. Ein aus meiner Sicht nicht sehr praktikables Konzept.

Und es ist nicht Mal neu: Bereits 2002 war das Problem mit zunehmendem Alter peinlich oder gar schädlich werdenden Inhalten bekannt. Allerdings konzentrierte man sich damals noch auf e-Mails wie zum Beispiel dieser AP-Bericht zeigt:

In addition to Authentica, Atabok Inc., SafeMessage Americans Inc. and Omniva Policy Systems have systems designed to keep embarrassing or incriminating messages from surfacing years later. In essence, they allow e-mail to self-destruct.

Many of these services can also restrict what recipients do with messages – such as bar them from forwarding, copying or printing email. These digital-rights management tools work much like copy-protection systems being developed for music, movies and e-books.

Der Schwachpunkt des Ganzen:

Even if the self-shredding software disables printing, copying and screen-capture functions, nothing will stop a determined person from photographing the screen or jotting down the information by hand.

Und vor allem: dies waren alles proprietäre Techniken, die voraussetzten, dass Sender und Empfänger das gleiche Produkt zur Ver- und Entschlüsselung benutzten. Es wurde dann auch nichts aus der Idee der selbstkompostierenden E-Mail. Statt E-Mails zu shreddern, shredderten sich die Anbieter selbst — in Rekordzeit.

Aber wartet Mal: eine unpraktische proprietäre Lösung mit staatlichem Stempel? Die Technik könnte doch einfach bei De-Mail eingebaut werden und so die notwendige Marktpenetration erreichen. (Anmerkung: die Prämisse dieses Arguments ist rein hypothetisch. Dass De-Mail jemals eine Marktpenetration erreicht, die irgendwas bewirken könnte, glaube ich vorerst nicht.)

Aber nein, nicht Mal das klappt, wie man bereits 2002 wusste:

Though a 2000 federal law gives electronically signed documents the same legal standing as paper documents, electronic documents can’t be considered equal to paper if senders can shred them by remote control.

Senders get unprecedented powers over decisions normally left to the recipients. So it becomes up to the recipient to go back to the sender to request a paper or permanent electronic copy – and count on the sender’s cooperation.

Wenn man elektronische Botschaften Rechtssicherheit verleihen will, können Selbstvernichtungsmechanismen nicht angewandt werden.

Was bleibt also: eine uraltes Konzept, das sich aus guten Gründen nicht durchgesetzt hat und jetzt auf in einem neuen Bereich angewendet werden soll, der sich noch weniger für die Idee eignet als das vorangegangene Szenario. Denn seien wir ehrlich: wer peinliche Bilder auf Facebook hochlädt, wird nicht gerade viel Energie in Verfallsmechanismen investieren.

JMStV auf britische Art: Netzsperren für Pornos

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident hat es schon klar gemacht – wenn die schöne Illusion des staatlichen Jugendmedienschutzes nicht durchsetzbar ist, muss man zu härteren Mitteln greifen: Sperrverfügungen – auch bekannt als Netzsperren.

Die britische Regierung — nicht gehindert durch ein föderales System — ist offenbar schon weiter, wie ein Artikel der Sunday Times beschreibt:

THE UK Government is to combat the early sexualization of children by blocking internet pornography unless parents request it, it was revealed today.

[…]

Instead of using parental controls to stop access to pornography – so-called „opting out“ – the tap will be turned off at source. Adults will then have to „opt in.“

Sprich: die Provider sollen sämtliche Internetseiten weltweit nach Porno-Gehalt qualifizieren und für ihre Kunden sperren. Zugang erhält nur, wer sich einem — wie auch immer gearteten — Alterscheck unterzieht. Die Erfahrung lehrt, dass solche Klassifikationen sehr verschieden ausfallen können. Selbst beim relativ gut abgegrenzten Begriff Kinderpornografie gibt es zum Teil große Schwierigkeiten.

Kurios ist die Begründung:

It follows the success of an operation by most British internet service providers (ISPs) to prevent people inadvertently viewing child porn websites. Ministers want companies to use similar technology to shut out adult pornography from children.

Sprich: die Kinderporno-Sperren sind das Vorbild. Was bei Kinderpornos funktioniert, muss ja auch für Pornos klappen.

Dazu gibt es zweierlei zu sagen. Erstens: Ob die Kinderporno-Sperre in Großbritannien ein Erfolg ist, hat bisher niemand wirklich untersucht. Einige Provider sperren, andere sperren nicht. Die Zahl der Sperren wird registriert – und das war es auch schon. Ob die Maßnahme irgendeine Wirkung hatte, ist auch fast ein Jahrzehnt nach Einführung unbekannt. Dass sich Leute unabsichtlich Kinderpornos ansehen, ist nach meiner Erfahrung lediglich eine oft verwendete Schutzbehauptung — ob im Gegenzug die Bemühungen der britischen Polizei zur Löschung von Kinderporno nicht so ausgeprägt sind, wie sie sein könnten, wurde sicherheitshalber auch nicht untersucht.

Das Argument ist: das Mittel ist erfolgreich, weil das Mittel existiert. Mit der gleichen Begründung könnte man sagen, dass der Wintereinbruch in Deutschland keinerlei Verkehrsprobleme verursacht hat. Schließlich fahren ja regelmäßig Streufahrzeuge und die Enteisungs-Teams an den Flughäfen sind dauernd im Einsatz.

Zweitens: Aufgrund der enormen Menge an Pornografie im Netz sind die Maßnahmen sehr schwer umzusetzen. Die Kinderpornografie-Sperren betreffen im Höchstfall ein paar Tausend Seiten – legale Porno-Seiten gibt es hingegen im Millionenbereich. Hier zu filtern führt entweder zu dramatischen Über- oder Unterreaktionen. Entweder werden nur ein paar Seiten gesperrt oder die Ausmaße sind so dramatisch, dass selbst die Wikipedia riskiert, blockiert zu werden. Kinderpornografie und Pornografie sind nicht vergleichbar – im einen fall wird oft realer Kindesmissbrauch gezeigt, im zweiten Fall haben Erwachsene Sex, eins der fundamentalsten Rechte der Menschen. Ob freiwillig, unfreiwillig, ob aufklärend oder schädlich ist für Zugangsprovider schlicht nicht zu unterscheiden. Sexuell aufgeladene Nacktheit, Aufklärung, der obere Reihe im Zeitschriftenregal, der Graubereich ist enorm.

Doch was spielen Fakten für eine Rolle, wenn man öffentliche Empörung zur Entscheidungsgrundlage macht?

„In the past, internet porn was regarded as a moral issue or a matter of taste. Now it has become a mental health issue because we now know the damage it is causing. We are seeing perverse sexual behavior among children. Legislation is both justifiable and feasible.“

She quoted the example of two underage brothers sentenced to at least five years‘ detention this year for a sadistic sex attack on two other boys in South Yorkshire. The brothers were said to have had a „toxic“ home life where they were exposed to pornography.

Die Diagnose gesellschaftlicher Probleme anhand des Extremfalls ist ein üblicher politischer Schachzug — ob und welche Auswirkungen Internet-Pornografie auf die Jugend im Allgemeinen haben, ist bisher keinesfalls erwiesen.

Was werden diese Politiker wohl vorschlagen, wenn sie erkennen, dass Pornografie trotz ihrer Netzsperren weiterhin über P2P-Tauschbörsen oder gar Handies ausgetauscht werden? Wann kommt die Forderung, dass man doch auch Wikileaks sperren sollte? Wenn man Millionen Porno-Seiten sperren kann, sind 2000 Wikileaks-Mirror ja auch kein Problem.

Deutsche Netzsperren-Gegner können sich erst Mal freuen. Ihr Argument, dass Netzsperren einer Art recht schnell zu Sperren anderer Art und damit zu einer umfassenden Internet-Zensur führen werden, wurde einmal mehr bestätigt. Nicht in Saudi-Arabien, China oder der Türkei, sondern in MittelEuropa, in der Geburtsstätte der parlamentarischen Demokratie.

How Jon Stewart Stole 9/11!

Neben den „Bush tax cuts“ gehört derzeit ein Gesetz zur Unterstützung von Einsatzkräften, die im Einsatz rund um die Attacken vom 11. September 2001 ihre Gesundheit oder ihr Leben verloren zu den Haupt-Streitpunkten der US-Politik. Die Republikaner haben mit ihrer neu gewonnenen Kongress-Mehrheit die Blockade aller demokratischen Gesetzesvorhaben angekündigt. Die Demokraten beschimpfen sie, weil sie dadurch die Hilfen für Helden von 9/11 verhindern. Helden sind sehr wichtig für die USA — wie sonst sollte man knapp 1,5 Millionen aktiver Streitkräfte motivieren und rechtfertigen?

Nun hat Jon Stewart zum publizistischen Gegenschlag ausgeholt. Er sagt: 9/11 gehört nicht mehr der Republikanischen Partei. Und das auf eine ungewöhnlich deutliche Art:

The Daily Show With Jon Stewart Mon – Thurs 11p / 10c
Lame-as-F@#k Congress
www.thedailyshow.com

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Daily Show Full Episodes Political Humor & Satire Blog</a> The Daily Show on Facebook

Trotz des überschäumend zur Schau gestellten Patriotismus räume ich der Kampagne jedoch wenig Chancen ein.

Wikileaks – Substanz und Inszenierung

Mittlerweile ist es ein mediales Dauerfeuer – Wikileaks hier, Wikileaks da, hier, da, hier, da, hier, da und dort sowieso. Doch leider geht unter dem Aktualitätsdruck das Gefühl dafür verloren, was eine relevante Entwicklung ist und was nur Theaterdonner. Alle Seiten in dem Konflikt inszenieren, was das Zeug hält — doch gleichzeitig geht es auch um höchst wichtige Fragen zur Informationsfreiheit, zur internationalen Politik und auch zum digitalen Zusammenleben.

Ein Beispiel: Julian Assange hat sein Schweizer Bankkonto verloren. Skandal oder Anekdote? Ich meine: letzteres. Wikileaks und Julian Assange haben manchmal einen bemerkenswert hohen Verpeilungsfaktor. Schon mehrmals musste Wikileaks Nachteile in Kauf nehmen, weil sich Assange und seine Mitarbeiter sich nicht um Formalien scherten.

MasterCard, PayPal und VISA sperren Wikileaks die Konten? Sehr relevant. Denn hier geht es um das finanzielle Äquivalent zur Netzneutralität. Dass PayPal dauernd Konten sperrt, gehört zwar seit Jahren zum Alltag — in diesem Fall wird jedoch klar der illegale Charakter von Wikileaks angeführt. Dafür liegt aber nichts weiter vor außer ein paar vagen Behauptungen der US-Regierung. Wenn eine Anklage vorläge, könnten die Dienstleister zumindest ihre Rechtsgutachter prüfen lassen, wie sich die Rechtsvorschriften auf sie als vermeintliche Mitstörer auswirkt. Da die amerikanische Regierung dies jedoch bisher vermieden hat, ist klar: Hier wird mit politischem Druck wird hier ein unbequemer Kritiker behindert – ein Armutszeugnis für jeden Rechtsstaat. Man muss jedoch auch fragen, ob tatsächlich die derzeitige amerikanische Regierung die treibende Kraft ist oder gerade das andere politische Lager.

Wikileaks.org ist down? Absolut irrelevant – den Domainnamen hat Wikileaks entweder mutwillig oder grob fahrlässig selbst riskiert. Theaterdonner, um die Unterstützer zu mobilisieren. Die gerichtliche Auseinandersetzung zur Abschaltung von Wikileaks.org gab es schon Anfang 2008 im Streit mit dem Bankhaus Julius Baer. Ergebnis: Wikileaks bekam den Domainnamen zurück. Auch die Aktion Wikileaks auf über 1000 Servern zu verteilen ist vorrangig Fassade – Backups sind einfach gemacht, Ausweichquartiere schnell gefunden.

Das führte aber zur Debatte deutscher Provider, ob das Spiegeln von Wikileaks-Akten gemäß den AGB erlaubt ist. Dies sollte eigentlich nicht relevant sein, weil die Rechtslage eigentlich relativ klar ist. Hier gilt die gleiche Situation wie bei den Finanzdienstleistern — die Haftung der Provider für vermeintlich illegale Inhalte ist wieder in der politischen Diskussion. Solange nirgendwo ein Referenzfall, eine Anzeige oder gar ein Urteil existiert, können Hosting-Provider nicht zu den Richtern über legal oder illegal gemacht werden. Sie haben aber freilich die Möglichkeit eine eigene Entscheidung zu treffen.

Eine der Frauen, die Assange angezeigt hatte, hat um drei Ecken irgendwie mit bösen Ex-CIA-Extremisten zu tun? Derzeit absolut irrelevant. Diese guilt-by-association-Methode wird gewöhnlich gezückt, wenn man nichts Substantielles in der Hand hat und man den Gegner anschwärzen will. Doch bei jedem politisch aktiven Menschen kann man solche Verbindungen aufbauen, wenn man böswillig genug sucht.

Ein britisches Gericht lehnt Kautionszahlungen für Assange ab? Spannend im Moment, aber substanziell absolut irrelevant. Denn der Promi-Auflauf zur Unterstützung von Assange machte eine Kaution eigentlich unmöglich: Die ach so großzügigen Spender riskierten ja nicht einmal die Einschränkung ihres Lebensstils, wenn die Kaution denn verfallen wäre. Wichtig ist vor allem eins: das britische Gericht muss zügig entscheiden, ob die Vorwürfe, die auch von zwei schwedischen Gerichts-Instanzen validiert werden, für eine Auslieferung reichen. Der Prozess um die Auslieferung des „UFO-Hackers“ Gary McKinnon zeigt die vielen Fallstricke in solchen Verfahren. Wichtiger ist hingegen wie zügig die Auslieferung läuft. Wenn Assange seinen Prozess in Schweden hinter sich gebracht hat, bevor die US-Staatsanwälte eine Anklage formuliert haben, ist das Verfahren in erster Linie sein persönliches Problem.

Die australische Regierung prüft, ob man Assange den Prozess machen kann? Auf den ersten Blick Theaterdonner, auf den zweiten Blick aber durchaus im Interesse von Assange, wenn er denn je in sein Geburtsland zurückkehren will. Daniel Elsberg, der die pentagon papers veröffentlicht hatte, stellte sich damals dem Prozess in den USA und konnte auch nur so langfristig die Gesetzgebung beeinflussen.

Die Untiefen des schwedischen Sexualrechts? Spannend für die gesellschaftliche Debatte, nicht wirklich für Wikileaks. Wenn ein Mann mit einer schlafenden(!) Frau, die er kaum kennt, gegen ihren erklärten Willen ungeschützten Geschlechtsverkehr beginnt, kann (und sollte) er in allen westlichen Ländern Ärger bekommen. Ob es denn tatsächlich so war, müssen aber nun Richter entscheiden.

Mastercard.com ist down? Auf den ersten Blick eine weitere Aktion des niemals endenden shitstorms, ohne den sich netizens wohl nicht mehr zu einer Teilhabe entscheiden können. Man attackiert ein paar Stunden MasterCard und sonnt sich im vermeintlichen Erfolg. Doch: das haben die Leute wahrscheinlich auch gedacht, die Wikileaks.org seit zwei Wochen massiv attackieren. Statt dem Cyber-War der Nationalstaaten könnte es schon längst um einen digitalen Bürgerkrieg der Onliner gehen, die mit 4Chan und Co die digitale Lynchjustiz zum Spiel erhoben haben und nun als Machtmittel entdeckt haben.

Ach ja — eine relevante Sache bekommt zur Zeit relativ wenig Aufmerksamkeit: die Inhalte, die auf Wikileaks veröffentlicht wurden.