Ich will neue Narrative

Grade geht ja wieder eine Debatte darüber los, wie man mit der Berichterstattung um Serienmörder an Schulen umgehen soll.

Ich würde die Diskussion gerne etwas erweitern. Ich glaube ja, dass Fiktionen Realität auf verschiedene Weisen widerspiegeln und auch neue Realitäten formen. Wenn jeden Abend fünf CSI-Folgen mit jeweils mindestens einem grausamen Mord laufen, wenn Mankell seine schlechten, deprimierenden Bücher verkaufen konnte, weil er absurde Gewalttaten in ihren Mittelpunkt stellt, wenn auch die Kritikerlieblinge auf Netflix im Blut ersaufen — dann ist es kein Wunder, wenn die Mörder im realen Leben auch eine Obsession sind.

Es ist Zeit für neue Narrative. Ich wünsche mir zum Beispiel endlich mal wieder Krimiserien über Leute, die Sachen klauen. Eine provokative neue Serie aus Finnland, in der es um *trommelwirbel* die Steuerfahndung geht. Anstelle des üblichen Musters ein Mord pro Folge und ein Serienmord pro Staffel möchte ich Trickdiebe, Korruptionsermittler — vielleicht sogar eine neue Serie über Journalisten.

Anzeige wegen einer Anzeige

Ich berichte nun schon einige Jahre über Online-Werbung und manches begreife ich einfach nicht. Zum Beispiel: Warum gibt es immer noch „Rogue Redirects“ – also auf Websites eingeschmuggelte Werbeskripte, die den Nutzer auf einer fremde Betrugs-Website umleiten?

Ich habe im vergangenen Jahr schon mal über die Nerv-Pop-Ups berichtet. Und viele andere haben es auch getan. Doch obwohl eigentlich jeder Marktteilnehmer über die Masche Bescheid weiß, klappt sie immer noch. Es ist auch furchtbar einfach: Man bucht unter falschem Namen Werbeplätze auf mehr oder weniger renommierten Websites und sobald die Auslieferung beginnt, schiebt man dem Werbe-Netzwerk eine kleines Zusatz-Skript unter.

Als Nicht-Branchen-Insider nahm ich an, das Thema wäre schnell gegessen. Wenn Google, Appnexus und Co endlich mal auf den Dreh gekommen sind und auf die Dringlichkeit des Problems hingewiesen werden, dann basteln sie schnell einen Filter. Dieser Filter muss ja nichts besonderes können. Er muss nur die Frage beantworten: Öffnet dieses Skript ohne Nutzerinteraktion eine neue Website, die wir nicht kennen? Doch niemand programmiert diesen Filter und schaltet ihn frei. Und so geht es immer weiter. Mal werden Schrott-Apps verhökert, mal werden die persönlichen Daten der Opfer meistbietend verkauft.

Was auch erschreckend ist: Das Schweigekartell. Ich habe Dutzende von Firmen drauf angesprochen, wieso denn solche Betrug seit Jahren toleriert wird. Auch viele Medien, die diese zutiefst rufschädigenden Skripte auf ihren Webseiten ausgeliefert hatten, schweigen zu den an sich sehr einfachen Fragen: Woher kam die Anzeige? Und was wollt ihr dagegen tun?

Heute habe ich mal eine neue Methode ausprobiert. Als ich von der Website des Kölner Stadt-Anzeigers auf eine Scareware-Website weitergeleitet wurde, die mir etwas von der Vireninfektion meines Computers vorgelogen hat und die mir irgendeine Adware installieren wollte, habe ich Strafanzeige gegen unbekannt gestellt.

Es wäre doch zu schön, wenn sich die nagelneuen auf Internetvergehen spezialisierten Kommissariate und Staatsanwaltschaften mal diesem Problem widmen, das nur existieren kann, wenn die Betrüger tagtäglich tausende Opfer finden, wenn in der langen Lieferkette der Online-Werbung niemand Identitäten der Kunden überprüft. Ich wünsche mir, dass bei den Firmen endlich Ermittler anrufen, denen es egal ist, wenn die Beihilfe zum Betrug durch Non-Disclosure Agreements abgedeckt ist. Und die auch zur Vernehmung vorladen können. Denen ein „Passiert garantiert nicht wieder“ nicht reicht, sondern ein wenig Druck machen. Es müsste ja gar nicht so viel Druck sein. Nur so viel, dass es sich nicht mehr rechnet den kriminellen Abschaum der Werbebranche auf seine Plattformen zu lassen.

Minority Report ist eine Fiktion

Ich weiß, es wird Euch schockieren. Aber die Dokumentation über den Polizisten Toto Harry Tom Cruise ist keine. Minority Report ist von vorne bis hinten erfunden. Doch andere scheinen daran zu glauben: Denn immer noch versprechen Überwacher, dass ihre Überwachung schon die Lösung der gesellschaftlichen Probleme sein soll. Natürlich bis auf das Problem der Überwachung. Aber ist das überhaupt ein Problem?

Es fing auch mit einer realen Fiktion an. In New York sorgte einst das allmächtige Computersystem, das Verbrechen katalogisierte bis es sie quasi vorhersagen konnte, für ein neues Zeitalter. Bürgermeister Rudolph Giuliani war für diese Neuentwicklung der Kriminalitätsbekämpfung medial verantwortlich und seine Erfolge mussten sich nicht hinter denen von Batman verstecken. Das Problem war: Es waren nicht seine Erfolge. Das meiste davon war schlichtweg Demographie. Er hätte Steuerbefreiungen für Zuhälter und Taschendiebe einführen können — den Rückgang der verzeichneten Kriminalität hätte er kaum aufhalten können.

Trotz allem wird die Legende vom computergestützten Vorahnungs-Polizisten weiter verbreitet. Wenn wir nur die Muster der Kriminalität erkennen, wenn wir nur genug Überwachungskameras und Sensoren verteilen, dann nimmt die Kriminalität ab. Nein. Sicher kann die Kriminalitätsbekämpfung von modernen Technologien profitieren. Aber nur in Maßen, wenn man nicht alle Leute ihrer Freiheit berauben oder massenhaft Unschuldige oder Kaum-Kriminelle verurteilen will.

Menschen passen sich an. Sie klauen vom Schreibtisch aus Milliarden, sie meiden die Kameras, sie nutzen das Desinteresse derer, die damit umgehen wollen. Und Daten lügen. Viele Daten bedeuten viele Lügen. Wer meine Bewegungsmuster durch die Stadt verfolgt, wird mich beim Auskundschaften von vielen Wohnungen erwischen. Es sei denn, er weiß: Ich spiele ab und an Ingress. Vielleicht bin ich aber auch ein Ingress-Spieler, der Wohnungen auskundschaftet? Big Data bedeutet große Lügen. Denn es ist das Versprechen, dass die Daten mein Wesen erkennen, dass sie objektiv sind und die Antworten auf die Daten rational.

Auch Polizisten sind Menschen. In New York erfanden sie eine Lösung für die Statistik-Gläubigkeit der Politik. Einfache lösbare Straftaten wurden erfunden, schwere Straftaten nicht in das System eingegeben. Folge: Die Erfolgsbilanz stieg, die Krimkinalitätsrate sank überdurchschnittlich. Das ging über Jahre so. Und als der Whistleblower Adrian Schoolcraft sich dem System widersetzte, packten sie ihn und verschleppten ihn in eine geschlossene psychiatrische Station. Als er entkam, wurde er sogar angeklagt. Pech: Schoolcraft hat Beweise. Und am Rande des Prozesses kommt heraus: Auch Vater und Schwester des Whistleblowers wurden durch das scheinbar allmächtige Datensystem überprüft.

In New York musste die Polizei die Taktik aufgeben schlichtweg jedermann anhalten und durchsuchen zu können. Eine formelle Schranke wurde errichtet — aber erst nachdem die Praxis von einer Richterin als verfassungswidrig eingestuft wurde. Die Stadt will das Urteil bekämpfen. Und führt eine Statistik als Begründung an.

6,3 Stellen

Bei Kinderpornografie wird viel mit Zahlen herumgeworfen. Einige sind pure Erfindungen, andere veraltet oder auf grob geschätzt, wieder andere werden schlichtweg aus dem Zusammenhang gerissen.

Grade mokieren sich viele Sperr-Gegner, dass das Bundeskriminalamt nur 6,3 Stellen zur Bekämpfung von Kinderpornografie hat – je nach dem, wem man zuhört sind diese Planstellen für die Bekämpfung des Kindesmissbrauchs in Deutschland zuständig. Eine kleine Erinnerung: Polizei ist in Deutschland Ländersache. Das BKA kann allenfalls technische Unterstützung leisten und Koordinierungsaufgaben erfüllen – der Großteil der Ermittler sitzt in den Landespolizeibehörden.

Willkommen im Paralleluniversum

Jens Jessen empört sich über die Auswüchse des ach so anonymen Internets und spricht von einem „Paralleluniversum mit weitem Raum für kriminelle und halbkriminelle Aktivitäten“.

Man kann dem viel entgegnen, hier nur ein Gedanke: Es ist kein Paralleluniversum, es ist dieses, unser Universum. Zwar fühlen sich im Internet viele unerkannt und anonym, in Wahrheit ist es damit aber nicht weit her. Man stelle sich vor, man müsste auf der Straße immer ein zwölfstelliges Nummernschild vor sich hertragen und Kameras würden die Nummer an jeder zweiten Ecke registrieren. Aber im Wesentlichen gelten die gleichen Regeln, die gleichen Mechanismen des Zusammenlebens.

Der Eindruck, dass es im Internet vor Verleumdung und Diebstahl nur so wimmelt, ist auch ein Wahrnehmungsproblem – ein Problem der Sichtbarkeit: Hätte man in den 80ern früher jede getauschte Musik-Kassette auf dem Schulhof per IP erfasst würde – die Jugendkriminalität wäre durch die Decke gegangen. Und wenn man alle Gespräche in einer Kneipe niederschreiben würde, würde man einen Moloch aus Unwissen, Betrug und Verleumdung entdecken. Der Presserat würde geschlossen zurücktreten und Marienhof wäre ein heißer Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis.

Basisvokabular Filesharing: One-Click-Hoster

Zum bevorstehenden Urteil über PirateBay hat die Welt mit dem Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Alexander Skipis gesprochen. Natürlich wird das Interview mit einem meiner absoluten Lieblingssätze überschrieben. Und gleich in den ersten Fragen wird die Kompetenz des Gesprächspartners deutlich:

WELT ONLINE: Bei der Torrent-Technik handelt es sich nur um eine Entwicklungsstufe des Filesharings. Ihre Sorge gilt mittlerweile auch den One-Click-Hostern. Worum handelt es sich dabei?

Skipis: Während Tauschbörsen wie Pirate Bay auf dem Prinzip der gegenseitigen Vervielfältigung von Dateien zwischen Internetnutzern basieren, bieten One-Click-Hoster wie Rapidshare oder Megaupload Links zu Webseiten, von denen man illegal Millionen geschützter Werke herunter laden kann. Mit so genannten Premium-Zugängen und Werbung wird dabei – auf der Basis einer Rechtsverletzung – sehr viel Geld verdient. Unseres Erachtens handelt es sich hier um Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, also letztlich eine Internetmafia.

Es ist ja schön, dass Skipis das Wort „One-Click-Hoster“ kennt – würde ihm nun jemand die Bedeutung erklären? One-Click-Hoster verlinken nicht zu anderen Seiten – das Gegenteil ist der Fall. Sie speichern die Inhalte auf den eigenen Servern. Wie wohl die Schweizer Rapidshare AG darüber denkt, dass sie als „Internetmafia“ bezeichnet wird?

Internetzensur – lässt sich das Biest zähmen?

Mathias Schindler macht sich Gedanken:

Nach der Sperrung der Wikipedia durch die “IWF” gab es hin und wieder Ansätze einer Diskussion über die Mindestanforderungen einer Zensurinfrastruktur. Also so etwas wie der Versuch, das Biest ein wenig zivilisierter erscheinen zu lassen.

Sein Rezept ist – verkürzt gesagt – Transparenz und Rechtsstaatlichkeit.

Doch ist eine transparente Sperrliste nicht automatisch auch eine Surf-Empfehlung für Möchtegern-Kriminelle? Eine staatliche gepflegte Liste des Stoffs, der nicht mehr „barely legal“ ist? Eine Liste von Dingen, mit denen sich 13jährige auf dem Schulhof gegenseitig erschrecken?

Und zum Thema Rechtstaatlichkeit: wo sind denn die Mindeststandards? Liegen sie dort, wo man aktiv Piraten bekämpft? Oder liegt sie doch ein wenig höher? Oder besser ein wenig niedriger?

Programm für Straßenkriminalität

Nicht neu aber lustig: das MMS-Zeugenschutzprogramm der Firma Waleli:

MMS-witness highlights to people that the digital camera they are carrying can be used to combat crime. The introduction of MMS-witness will see the number of “eyes” on the street rise dramatically as well as helping to provide increasingly reliable witness statements.

Having taken a photograph or filmed a movie, the person texts the file to a central, secured police database using a country-wide telephone number. The image is reviewed, stored on the database and, if required, sent to the mobile phones / PDAs of police officers on the street to help increase the chances of a successful arrest.

Straßenräuber werden sich bedanken, wenn man ihnen leichte, einfach zu handelnde und nicht ganz billige Gegenstände entgegenstreckt.