Happy Heise

Heise Online wird heute 20 Jahre alt — das ist doch Mal ein Grund zum Feiern. Ich bin nun auch fast 15 Jahre dabei: 2001 erschienen meine ersten Texte in Telepolis, kurz danach auf heise online und in der c’t.

In all der Zeit habe ich die Zusammenarbeit als höchst positiv erlebt: So kennt der Verlag keine Rücksichtnahme, wenn die Berichte Werbekunden betreffen und stellt sich hinter seine Autoren. Während man in anderen Medien nicht damit rechnen kann, in fünf Jahren noch mit dem gleichen Redakteur zusammenzuarbeiten, sind meine Gesprächspartner aus der ersten Stunde immer noch bei Heise. Statt jedes Jahr die Redaktionen mal in einen neuen Newsroom, mal in eine externe Gesellschaft mit niedrigeren Tarifen zu stecken, ist um Heise Online eine Art Familie gewachsen. Die umfasst auch die Leser. Heise-Redakteure brauchen keine Buzzfeed-Statistiken um zu erfahren, was Admins, Coder, Ingress-Spieler, iPhone-Nutzer oder Cyborgs interessiert. Denn sie selbst leben die IT. Und die Leser leben mit heise online.

Als ich damals(TM) die Verhaftung von Kim Schmitz melden konnte, hat sich ein Leser bei mir gemeldet, der das Ereignis feiern wollte und mir zu Hause Herrentorte und Eistee vorbei brachte. Eine kleine Party war das Ergebnis. Als eine Bande von Abmahnungs-Abzockern endlich von der Justiz hochgenommen wurde, füllte sich in Köln spontan ein mexikanisches Restaurant mit fröhlich feiernden Leuten. Die Zeiten waren noch einfacher: Es gab nur eine Handvoll IT-Bösewichter, die diese Rolle teilweise auch gerne übernahmen.

Heute ist die Welt komplexer. IT hat unser Leben durchdrungen — und das Leben die IT. Politik ist die Folge, mit allen Vor- und Nachteilen. Statt gegen den einen Abmahnanwalt geht es nun gegen Abkürzungen mit drei oder vier Buchstaben, die kein einzelnes Gesicht mehr haben. Konnten wir uns vor zehn Jahren noch die Illusion erhalten, unsere Systeme unter Kontrolle zu haben, haben Snowden, BadUSB und NSA, das ständige Versagen von Closed und Open Source diese Gewissheit zerstört. Facebook und Google bestimmen unser Leben und haben dabei leider nicht die Arroganz der Comic-Bösewichte, sondern die ehrliche Überzeugung, das Leben für alle besser machen zu können. Oder für die meisten. Oder zumindest für sich selbst.

(Vorsicht, Selbstbeweihräucherung!) Diese Komplexität verlangt von Journalisten einen langen Atem, damit wir erklären können, wie die ständigen Neuigkeiten einzuordnen sind, wohin die IT uns steuert. Wir müssen von unseren Schreibtischen aufstehen, um nicht nur ständig zu berichten, was grade auf Twitter als Skandal vermarktet wird. Wir müssen den Leuten ins Gesicht sehen, wenn sie erklären, wie sie das Leben von uns allen verändern wollen, und wir müssen selbst Gesicht zeigen. Und da ist es gut, wenn man sich auf seine Familie verlassen kann.

Auf 20 weitere Jahre, heise online.

Zu viel

Als ich heute nachmittag von der Steueraffäre der Alice Schwarzer gehört habe, hatte ich — natürlich — für einen Moment diese hämische Schadenfreude. Die BILD-Werbefigur und Kachelmann-Hasserin ohne Sinn für Proportionalität oder persönliche Grenzen bekommt ihr Fett weg. Aber das war ein Moment. Dann zog der mediale Diskurs der nächsten zwei Tage vor meinem Auge ab.

Die Fakten sind ja schnell erzählt: Das seit den 80er Jahren bestehende Konto, die unversteuerte Zinsen, die unverfrorene Selbstrechtfertigung der Vorzeige-Feministin. Eine Zeile, zwei Tweets. Da ist eigentlich nicht mehr viel zu debattieren. Und dennoch werde ich, wenn ich morgen die Presseschau im Deutschlandfunk einschalte, viele Versuche hören, dies dennoch zu tun. (PS: Der DLF fand das Kommentar-Thema doch nicht so spannend. Dafür machen andere Medien Presseschauen.) Die Hoeneß-Vergleiche, die Erinnerungen an das hohe Ross, auf dem Frau Schwarzer sitzt, der Verweis darauf, dass sie nur die Spitze des Eisbergs ist. Hunderte Schreiber sind grade damit beschäftigt, den geschliffensten, skandalheischendsten, hämischsten Satz zu ersinnen, der ihren Komentar nach oben schwemmt. Und die Photoshopkünstler, die mit Höneß, Alpen-Öhi und BILD-Werbeplakaten herumexperimentieren.

Das nächste Kapitel: Die Empörung über die Empörung. Alice Schwarzer ist neben einem lebenden fehlbaren Mensch auch eine verdienstvolle Figur der bundesrepublikanischen Geschichte. Eine Symbolfigur, die uns immer wieder daran erinnert, dass die Geschlechtergerechtigkeit immer noch nicht ausreicht auch nur die Couch von Günther Jauch paritätisch unverdächtig zu besetzen. Und seht nur: Die Misogynen, die Frauenfeinde, die Vorgestrigen — wie sie alle verlogen über Alice Schwarzer herfallen. Denn das werden sie tun und Konsequenzen fordern. Als ob es keine Steuergesetze gebe. Und Zuschüsse muss man streichen! Eine Petition? Nein, das ist so Januar 2014. Meine Twitter-Timeline will es schon morgen um 10 Uhr nicht mehr hören. Was sie nicht davon abhält, etwas dazu zu sagen. #schwarzergate. #steuerfehler.

In Zeiten, als ich nur meine Heimatzeitung, die ARD und den Spiegel in der Schulbibliothek als Informationsquellen hatte, bestand das Problem nicht, das ich überflutet werde. Ich wünsche mir diese Zeit weiß Gott nicht zurück. Aber dadurch, dass wir alle alle anderen lesen und jeder mit jedem konkurriert, ist die mediale Debatte zum Mixer geworden. Jeder Kontext wird durch die Link-Moulinette gedreht. Und das Ergebnis schmeckt irgendwie gleich: Bittere Emörung und viel zu wenige aufgeschäumte Fakten.

Niemand ruft: „Zu viel!“ Jedenfalls nicht ohne das letzte Wort haben zu wollen. Die Empörung endet nicht, sie versendet sich. Lernen wir daraus? Nein. Denn nach Schwarzer kommt der nächste ADAC-Skandal, Empörung über die ARD oder Pro7, einen Neuminister der Bundesregierung oder die USA. Was macht eigentlich Dieter Bohlen?

Newsrausch

Ich weiß noch genau, wann ich meinen ersten Newsrausch hatte. Ich war gerade Praktikant bei der Online-Redaktion der Stuttgarter Zeitung und nach einigen Routineaufgaben bekam ich den Auftrag zugeteilt, den Tickerdienst zu übernehmen. Vor mir standen zwei Computer und drei Bildschirme. Auf zweien flimmerten die Tickermeldungen von drei Nachrichtenagenturen an mir vorbei, auf dem dritten schrieb ich.

Ich war sofort begeistert. An diesem Arbeitsplatz bekam ich alle möglichen Infos noch bevor sie irgendjemand anders bekommen konnte. (Außer natürlich den paar Zehntausend, die damals Agenturzugriff hatten.) Im Minutentakt ratterten ständig neue Meldungen in das Redaktionssystem und ich wählte aus, was unsere Leser aus der Welt erfahren mussten. Erdbeben in Asien, Wahlen in Europa, ein schwerer Autounfall in Stuttgart. Anders als bei legendären Nachrichtenmomenten wie dem Fall der Mauer oder den Progromen in Rostock fühlte ich mich nicht ohnmächtig, nicht nur in der Zuschauerrolle. Denn ich wählte aus. Nicht nur Sätze, Formulierungen, sondern die Realität.

Denn ich konnte die Muster erkennen: Die eine Agentur war bei Opferzahlen immer daneben, die andere schickte ihre Nachricht ein paar Minuten später mit teils unmöglicher Sprache. Also bastelte ich „meine“ Nachrichten aus zwei bis drei Quellen zusammen und — man möge mir die nostalgische Arroganz verzeihen — immer hatte ich recht in meiner Auswahl. Denn ich sah nicht nur Meldungen, ich sah die Matrix, das Muster, dass alles verband. Ich erkannte die kleinen sprachlichen Anzeichen, wann sich ein Agentur-Redakteur nicht sicher war und viel wichtiger: Ich wusste wie die Welt tickt.

Natürlich hatte ich keine Ahnung — ich bestückte den Ticker nur für ein paar Tage und zwei Redakteure passten auf mich auf. Wie den Tauben bei Aschenputtel oblag es mir Stücke hoch durchformatierter Sprache zu sortieren. Doch ich fühlte mich plötzlich wichtiger, als Akteur auf der Bühne des Weltgeschehens. Dabei dürften meine Werke damals kaum Leser gehabt haben. Internet war damals ein Silberstreif am Horizont.

In den folgenden Jahren konnte ich von zu Hause den Newsrausch erleben. Mit Gleichgesinnten recherchierte ich den aktuellen Geschehnissen nach, mit Begeisterung tauschten wir die neusten Bilder aus, die im Gegensatz zu dem standen, was da noch im Fernsehen behauptet wurde. Fernsehen? Pah! Wir sind im Internet. Wir sind das Internet! Unsere Realität ist Echtzeit. Und mit ständig neuen verfügbaren Quellen – Nachrichtenticker, Google Maps, Facebook-Profile — kam ich mir immer schlauer vor. Man muss nicht warten, bis sich etwas neues ereignet, man schaut einfach in das Privatleben der Menschen, die durch das Nachrichtengeschen gewabert waren.

Doch mit den Jahren hat sich der Rausch gelegt. Zwar verfolge ich immer — ich sage mal: berufsbedingt — noch viele Geschichten in der Pseudo-Live-Ansicht des Internets. Doch bei den Ereignissen in Boston sagte ich mir: Da ist so viel Rauschen, das hat so wenig mit mir und meinem Leben zu tun. Das kann ich später in der Tagesschau sehen. Und auf den Kick der Klicks, der Illusion der Realität und Klarheit verzichten.

Hallo, mein Name ist Torsten. Ich bin Newsaholic. Und ich bin trocken seit — wisst ihr was? Ich bin es nicht. Aber ich arbeite dran.

Die Dauer-Kampagne gegen jeden

Thomas Knüwer hat die geheime Medienkampagne gegen die Piraten aufgedeckt und bekommt dafür von den Piraten reichlich Applaus. Das entschädigt ihn für die kleinen Nachteile. Zum Beispiel kann er eine Woche keine Socken tragen, weil sich seine Zehennägel ein groteskes Eigenleben entwickelt haben, als er schrieb, dass sich die Kanzlerin auch wegen der Piraten mit Startup-Unternehmern trifft. Er weiß das besser, aber ihm fiel wohl grade nichts ein, um den Einfluss der Piraten auf das etablierte System zu dokumentieren.

Aber zum eigentlichen Thema: Wie könnte man Thomas Knüwer nicht zustimmen, dass eine Medienkampagne gegen die Piraten im Gange ist? Man muss sich nur die grotesken Auswüchse der Berichterstattung um das Buch einer prominenten Piratin ansehen, dieses Stille-Post-Spiel, bei dem jeder noch ein paar starke Adjektive hinzufügt, um die Verlogenheit der Piraten im Allgemeinen und der der Frau Schramm im Besonderen auszudrücken. Und dann werden sogar Nachkarter zum Thema veröffentlicht, wie gemein doch die Boulevardmedien waren, um dann deren Kraftausdrücke brühwarm zu zitieren.

Nun — man kann einwenden: Diese Kampagne wird derzeit gegen jeden geführt. Egal ob Bettina Wulff, Jenny Elvers-Elbertzhagen oder Mitt Romney — jeder wird in dieser Medienmaschinerie nach dem fast gleichen Rezept verhackstückt. Die erste Welle von Meldungen greift einen vermeintlichen Skandal auf, dann kommen die vernichtenden Kommentare und Analysen, dann ein paar neue Artikel über neue Interviewäußerungen und schließlich die Gegenanalyse, die gegen den Strom schwimmt, die den Medienzirkus oder das jeweilige Establishment aufs Korn nimmt. Manche Akteure werden gleich von der ersten Medienwelle begraben, andere surfen auf ihnen. Wasser bekommt aber jeder zu schlucken.

Man könnte fast seine Uhr danach stellen: Alle drei oder vier Stunden muss ein ganzes Set neuer Aufmacher auf die Seite. Im Internet des schnellen Klicks gibt es nur noch Boulevardmedien. Denn nach der klassischen Definition gab es die Boulevardmedien, die jeden Tag mit schreinden Schlagzeilen ihre Käufer aufs Neue finden müssen. Und dann gab es die Abonnementzeitungen, die ihren festen Leserstamm hatten und deshalb eben nicht auf allzu viel Geschrei auf der ersten Seite angeweisen waren. Online-Medien sind solche Boulevardmedien. Und sie verarbeiten die komplexe Realität, wie es ihren Arbeitsabläufen entspricht — und die werden demnach gestrickt, was Klicks bringt.

Medien in der Bundesrepublik waren immer Tendenzbetriebe. Man konnte formaljuristisch keinen Autoschlosser feuern, weil er Sozialdemokrat war, einen Redakteur konnte man jedoch aus weltanschaulichen Gründen relativ einfach entfernen. Und so liegt der Verdacht immer nahe, dass ein empörender Artikel immer auch der Weltanschauung des Verlegers, des Herausgebers, des Chefredakteurs entspricht. Doch sehen wir uns etwas weiter um: Die Medien drucken neben entsetzlich verpeilten Feuilletonartikeln, die über das Böse des Internets, der Piraten und allem Neuen schwadronieren auch Gastartikel und sogar regelmäßige Kolumnen der Piraten.

Denn Medien lieben die Kontroverse. Fast nichts bringt den Leser mehr dazu zu einem Medium zu greifen, als ein satter Konflikt. Jemanden, den wir eh nicht leiden konnten, macht oder sagt Blödsinn. Gehen wir achselzuckend an einer solchen Gelegenheit vorbei oder riskieren wir doch einen Klick? Meine Timeline bei Twitter lässt da kaum Zweifel zu: Jede Woche lese ich entsetzte Beschwerden über das Niveau der Diskutanten bei Günther Jauch und dennoch schalten viele jede Woche von Neuem ein. Und auch dieser Blogbeitrag funktioniert nach dem Prinzip: Im ersten Absatz etwas Kontroversen-Namedropping, dann eine starke These, die Gegenthese und ein paar mikrige Links und Beispiele, die meine subjektive Sicht als Trendanalyse qualifizieren sollen. Leute klicken gerne sowas.

Was machen wir nun damit? Kann ich Euch sagen, dass es keine Kampagne gegen die Piraten gibt? Sicher nicht, aber das hängt sehr davon ab, was man unter Kampagne versteht. Dass SIE (TM) Piraten Buchverträge anbieten, um die Partei zu schädigen, halte ich jedoch für eine hirnverbrannte Behauptung. Nicht weil die Buchverleger so edle Menschen wären. Sondern weil sie eine solche Aktion samt Aufteilung der Kosten derzeit eher nicht hinbekommen würden. Und: Die Piraten liefern genug Kontroverse frei Haus. Boulevardmedien müssen sie geradezu lieben.

tl;dr: Medien sind so. Wenn ihr sie ändern wollt, müsst ihr mehr darauf achten, wohin ihr klickt und was ihr ihnen zurückgebt.

Sommerloch geht immer

Ich bin wirklich beeindruckt. Trotz politischer Dauerkrise in Europa, Sicherheitsbehörden, Bundestag und -regierung, trotz Naturkatastrophen, Syrien, iranischen Viren, trotz Steuer-CDs, Amokläufen und dem kapitalistischen Gesellschaftssystem in Flammen, trotz alledem haben wir immer noch Zeit für das Sommerloch.

Wir suchen Geschichten hinter „shitstorms“ — und selbst wenn wir sie nicht finden, drucken wir sie ab und debattieren sie erregt. Wir erregen uns, wenn jemand in einer Talkshow etwas sagt, statt nur zu sprechen. Und die großen politischen Skandale sind Sitzordnungen und Sommerfeste.

Ach ja: Die trivialste Story im Sommerloch sind Beschwerden über das Sommerloch.

Auch ich bin ein Urheber

Ich bin ein Urheber. Ich schreibe Texte über das Internet, meist sogar in das Internet. Damit unterscheidet sich meine Lebens- und Arbeitsrealität deutlich von der derer, die sich unter dem Slogan „Wir sind die Urheber!“ zu Wort melden.

Wie sieht das aus? Ich bekomme kein Geld von der GEMA und meine Werke sind nicht bei thepiratebay.org aufgelistet. Private Kopien schrecken nicht wirklich, denn für die bekomme ich Pauschalentschädigungen von der VG Wort. Eine willkommene Ergänzung des Einkommens, aber nicht mehr.

Zwischen meinen Verwertern und mir gibt es auch keine großen Differenzen. Total-Buy-Out ist heute kein riesiges Problem mehr, da ich meine Arbeiten eh nicht mehr zwei Mal verkaufen kann. Und meine Auftraggeber auch nicht. Wer bitteschön zahlt 650 Euro, um einen FAZ-Text ein halbes Jahr zu publizieren? Vor Jahren waren Zweitverwertungen für freie Journalisten noch eine substantielle Einnahmequelle, der Markt ist aber tot. Wer früher zum Beispiel Hörfunkbeiträge an fünf ARD-Veranstalten verkaufte, muss nun mit einem Honorar auskommen. Nicht das Netz ist schuld, aber die Vernetzung hat gewaltige Umwälzungen zur Folge. Wer glaubt, dass solche Umwälzungen ohne Verlierer stattfinden können, lügt sich selbst an.

Probleme bereiten mir die vielen, die meine Recherchen einfach umformulieren und abschreiben, vielleicht noch eine skandalisierende Überschrift darüber setzen. Gleichzeitig kann ich ohne die Offenheit der Fakten nicht arbeiten. Recherche baut fast immer auf den Recherchen anderer auf. Und eine „Edelfeder“ bin ich weiß Gott nicht.

Sorgen habe ich, dass jeder zwar den neutralen Journalismus beschwört, aber dann doch lieber tendenziöse Stücke liest, die der eigenen Meinung entsprechen. Oder dem Gegenteil. Was denkt der Schmierfink sich eigentlich!! Das ist weiß Gott nicht neu, Medien sind vor dem deutschen Recht „Tendenzbetriebe“, bei denen die Unternehmensspitze die Leitlinien vorgibt. Bisher war ich aber in der privilegierten Situation, dass meine Auftraggeber vor allem sauberen Journalismus von mir verlangten.

Dankbar bin ich, dass ich davon leben kann, darüber zu schreiben, was mich interessiert — ohne PR-Aufträge nebenher. Das erlaubt mir auch, meine eigenen Blogs ohne Gewinnabsicht zu führen oder für Redaktionen zu arbeiten, die nicht viel zahlen können. Dankbar bin ich auch für die gute Zusammenarbeit mit vielen Redaktionen. Zwei standen mir kürzlich auch bei einem Rechtsstreit beiseite und hielten den Rücken frei. Ohne solche Deckung ist das Publizieren heute ein russisches Roulette. Ob berechtigt oder unberechtigt: motivierte und finanzstarke Kläger können immer Ärger machen. Dagegen hilft nur Rückgrat, eine Haltung. In den letzten 10 Jahren musste ich es aber schon mehrfach erleben, dass solche Redaktionen geschlossen wurden, weil sich ihr Journalismus nach Auffassung der Verleger nicht lohnte.

Sorgen macht mir auch, wenn unreflektiert die Verschärfung oder die Reduzierung von Urheberrechtsdurchsetzungen gefordert werden. Was 70 Jahre nach meinem Tod mit meinen Texten passiert, die oft schon nach einem Tag nicht mehr vermarktbar sind, weil sie aktuell geschrieben wurden, ist jenseits jeder rationellen Überlegung. Dass man heute immer noch nicht Kästners Augenzeugenbericht der Bücherverbrennung zum Jahrestag wiedergeben kann, ist nicht erst durch das Internet widersinnig geworden. Gleichzeitig sehe ich auch auf der Gegenseite wenig valide Konzepte. Eine reine Pauschalfinanzierung ist gerade in Zeiten des Internets nicht durchsetzbar, da die Urheberrechtsmärkte nicht mehr fein säuberlich getrennt sind. Und Konstrukte, die auf die Unterscheidung zwischen „kommerziell“ und „privat“ aufbauen, sind im Zeitalter der Aggregation weitgehend sinnlos. Dieser Punkt betrifft genau so die Vorstellungen der Piratenpartei wie die der Leistungsschutzrechtslobby.

Ach ja: Das Leistungsschutzrecht hilft mir nicht und selbst wenn es das ein bisschen täte, würde ich es immer noch ablehnen. Aber da ich nicht für Springer arbeite, ist auch das kein wirklicher Gegensatz zu meinen „Verwertern“.

Fakten zählen. Emotionen zählen. Und die Wahrheit?

Mike Daisey wurde mit standing ovations bei seiner letzten Vorstellung in New York verabschiedet. Der 40jährige hat einen ungewöhnlichen Job: Er ist Erzähler. Und in den letzten Jahren sorgte er mit seinem kraftvollen Monolog „The Agony and the Ecstasy of Steve Jobs“ für Aufsehen, in dem er unter anderem seine Reise zu den Werken im chinesischen Shenzen schildert, in denen iPhones und iPads hergestellt werden. Vor Ort wird er Zeuge von katastrophalen Arbeitsbedingungen: 14jährige Mädchen, die zu den dort üblichen 12-Stunden-Schichten antreten, Untergrund-Gewerkschafter, denen im vorgeblichen Arbeiterstaat China Gefängnis droht, verkrüppelte Menschen, die allein gelassen werden.

Doch Mike Daisey ist ein Lügner. Er war zwar in Shenzen, hat dort recherchiert, wurde aber eben nicht Zeuge der Vorgänge, die er beschreibt. Sein Monolog ist ein Potpourri aus Berichten, was man eben aus China so hört. Daisey nahm Stücke aus Recherchen echter Journalisten, ließ sich andere Geschichten selbst erzählen und auf der Bühne fügte er das zu einem Gesamtwerk zusammen, das eindrucksvoll, kraftvoll, erschütternd ist. Zwei Jahre tourt Daisey schon mit seinem Programm durch die USA und füllt die Säle. Er konfrontiert die Menschen mit der anderen Seite ihres Konsums.

Dass auf einer Bühne nicht die reine faktische Wahrheit gesprochen wird, ist nichts Ungewöhnliches. Doch die Produzenten von „This American Life“ kamen auf Daisey zu und fragten ihn, ob er nicht seinen Monolog für eine Sendung zur Verfügung stelle. Die Sendung, die ich sehr schätze, ist ein Format im Verbund des „National Public Radio“, das sich mit journalistischen und auch fiktiven Formaten einer Vielzahl von Themen nähert – vom Leben auf dem Schulhof bis zum Leben in Guantanamo. Unaufgeregt, besinnlich, denkanstoßend.

Mike Daisey erklärte sich einverstanden. Mehr noch: Er versicherte den Verantwortlichen der Redaktion, dass seine Erzählungen den Fakten entsprechen. Er schildere auf der Bühne die Wahrheit. Und beim aufwändigen fact-checking-Prozess arbeitete er mit. Doch an entscheidenden Stellen täuschte er die Redaktion. So log er den Redakteuren vor, dass er seine Übersetzerin aus China nicht mehr kontaktieren könne. Angeblich wollte er sie nicht behelligen, erzählt er später. Doch als ein Journalist sie tatsächlich ausfindig macht, erzählt sie eine ganz andere Geschichte. Ja, Mike Daisey sei in China gewesen und habe mit Arbeitern gesprochen. Doch die 14jährigen, die Verkrüppelten, Untergrundgewerkschafter im Starbucks – die hat sie nicht gesehen. Solche Leute existieren zweifellos im großen China, doch der Geschichtenerzähler hat sie nicht getroffen, nicht mit ihnen gesprochen.

Es ist ein Albtraum für jeden Journalisten. Da hat man eine Geschichte, die die Menschen tatsächlich zum Umdenken bewegen kann. Eine Quelle, der man vertraut. Und dann erweist sich alles als große Lüge. Redaktionsleiter Ira Glass zog die Notbremse und zog die Story zurück. Und widmete eine ganze Radiostunde diesem Versagen. Nach einem mea culpa kommt Glass jedoch schnell zu einer Konfrontation mit Daisey, bei der er alles andere als gut wegkommt. Dem großen Erzähler fehlen die Worte. Und als sie kommen, klingen sie nach billigen Ausflüchten. Ja, seine Arbeit mit „This American Life“ sei ein Fehler gewesen, den er aufrichtig bedauere. Nein, er habe tatsächlich Kinder gesehen – wahrscheinlich als die Übersetzerin grade wegsah. Nein, er stehe weiterhin zu seiner Arbeit, eine Arbeit des Theaters. Und zur Wahrheit. Dass er die Redakteure angelogen hat, kommt ihm nicht über die Lippen.

Nun hat Daisey die kontroversesten Stellen in seinem Vortrag zusammengestrichen und hofft, weiterhin beim Publikum anzukommen. Sein theatralisches Genie steht außer Frage. Doch wollen die Menschen bei einem so realistischen Thema sich auf einen fiktiven Holzweg führen lassen? Reicht das Dramatische, um einen Denkanstoß zu geben? Durch den Skandal jedenfalls haben alle, die ihm sowieso nicht glauben wollten, die sich mit dem Thema nicht beschäftigen wollten, eine ideale Ausrede. Arbeitsbedingungen in China? Alles Propaganda der Apple-Hasser.

Will das Publikum belogen werden? Ist die komplexe Wahrheit zu viel für uns? Als Journalist muss ich mich täglich damit herumschlagen, wie weit man die „Wahrheit“ herunterkochen kann. Wenn man immer alle Seiten und Standpunkte wiedergibt, entsteht allzu leicht unverständliches Wischi-waschi, das den Leser ratlos zurücklässt. Wir müssen auswählen, was wir transportieren. Und auf diesem Wege konstruieren wir ein Zerrbild, eine andere Realität. Ist das so viel anders als das, was Mike Daisey tat?

Ja. Denn Fakten zählen. Wenn ich etwas aufschreibe, verlassen sich die Redaktionen darauf, dass das stimmt, was ich schreibe. Dass ich nicht blindlings einer Quelle vertraue. Und die Leser haben auch einen Anspruch darauf. Doch Zeit zum Überprüfen ist oft knapp. Eine Folge ist, dass sich Journalisten tendentiell den einfachen Geschichten widmen. Oder dass wir die Verantwortung abwälzen. Phrasen wie „wie die Calwer Kreisnachrichten berichten“ sind ein einfacher Code für: „Dafür lege ich meine Hand nicht ins Feuer“. Und wenn wir einen „Experten“ zitieren, dann haben wir unsere Schuldigkeit getan. Wir können schließlich nicht alles wissen.

Und die Wahrheit? Also: die Wahrheit? Kann sie nur aus Fakten zusammengesetzt werden? Nein. Aber dafür gibt es Lösungen. Es gibt Kommentare, Reportagen, Essays, die allesamt Ebenen vermitteln, die nicht nur im staubtrockenen Faktischen angesiedelt sind. Und es gibt Comedy. So habe ich Ende vergangener Woche dieses tolle Stück in der „Daily Show with Jon Stewart“ gesehen, das ebenfalls eine Wahrheit transportiert. Auf polemische Weise. Mit provokanten Schnitten, die in einem journalistischen Format verboten wären. Mit Komik.

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Dreckschleuder Internet und Schweigekartell Berlin

Und wir müssen auch aufpassen, daß überhaupt noch Menschen bereit sind sich dieser Sache … auch im Internet, wenn sie da sehn, was alles über meine Frau alles verbreitet wird an Fantasien, dann kann ich nur sagen, da müssen wir doch auch sehen, dass die Menschen auch noch bereit sind sich der Öffentlichkeit zu stellen, in die Öffentlichkeit zu gehen, […]

In seinem Interview thematisierte Bundespräsident Christian Wulff die wilden Internet-Gerüchte, die sich um die Vergangenheit seiner Ehefrau gedreht hatten. Dieses Thema wurde in den letzten Tagen mehrfach thematisiert. Zum Beispiel schreibt Hans Leyendecker Heribert Prantl in der Süddeutschen:

Warum ist das anders geworden? Unter anderem deshalb, weil die Mediengesellschaft über viel mehr und größere Gebläse verfügt als die Gesellschaft vor 30 und 40 Jahren. Vielleicht auch deswegen, weil es den Amtsbonus immer weniger gibt, der selbst demjenigen Amtsinhaber eine Aura gab, der keine hatte. Diesen Bonus hat das Internet in einen Malus verwandelt, weil es dort eine besondere Lust daran gibt, aus Dreckkübeln, die in ausländischen Servern gefüllt werden, ungestraft auf Hass-Subjekte zu schütten. Wulff war und ist da eines der Opfer.

Dass es gar nicht die ausländischen Server waren, hat Alvar Freude in seinem Blog als Reaktion auf einen Cicero-Artikel mit ähnlicher Aussage schön herausgearbeitet:

Aber wie der Laie schon sieht, lautet schon die Top-Level-Domain .de. Sollte es ein Journalist tatsächlich nicht wissen, so kann er leicht recherchieren, dass .de-Domains grundsätzlich nicht anonym zu haben sind. Man kann problemlos gegen den Verantwortlichen vorgehen. Aber selbst wer nicht in der Lage ist dies zu recherchieren, sollte den Link „Impressum“ auf der Webseite finden. Das gleiche gilt für andere vom gleichen Autor gefüllte Webseiten.

Doch es geht noch weiter. Denn es waren nicht die Klowand-Beschreiber, die das Gerücht in die Welt setzten. So erschien am 15. Dezember dieser Artikel von Frankfurter-Rundschau-Journalist Holger Schmale:

Wenn Wulff nicht bald folge, so wurde in Berlin gemunkelt, könne das Blatt mit einer Geschichte über das Vorleben Bettina Wulffs aufwarten. Angeblich verfügt die Redaktion über Informationen, die bisher auf Weisung von ganz oben nicht gedruckt werden dürfen. Aus Respekt vor dem Amt des Bundespräsidenten. Man wird sehen, ob die wenigen Sätze aus dem Schloss Bellevue den Präsidentenjägern nun genügen.

Sprich: Die Gerüchte, die von den Dreckkübeln im Internet verbreitet wurden, kursierten schon drecklöffelweise in Journalistenkreisen. Und irgendwie hat man sie dann über Weihnachten komplett vergessen.

Dass der Anruf bei BILD-Chef Kai Diekmann mit einem solchen Hintergrund einen ganz anderen Hintergrund hätte, taucht in der Berichterstattung nicht auf. Dabei ist der Vorwurf beträchtlich: Ein Medium soll versucht haben den Bundespräsidenten mit gezielten Indiskretionen gefügig zu machen. Das klingt doch sehr nach News Of the World. Aber wir sind ja nicht in England, oder?

Fehler? Fakt!

Fehler sind nicht nur menschlich, sie sind kaum vermeidbar.

In 99,7 Prozent aller Texte über 3000 Zeichen finden sich grobe Ungenauigkeiten, Verzerrungen oder plumpe Fehler. Das reicht vom simplen Vertipper über Grammatik-Schleifen, die der Logik über die Zehen fahren bis hin zu Terminologie-Missbrauch, der die Zehennägel der Fachleute zum Rollen bringt. Oder jemand erfindet einfach Statistiken. Wenn dazu noch ein Journalist morgens über Quantenphysik schreibt und mittags über die Ego-Probleme der Facebook-Nutzer, steigt die Fehlergewissheit über 3000 Zeichen auf 99,97 Prozent.

Da dieser Blogeintrag aber bedeutend weniger Zeichen hat, kann man das ruhig ungeprüft glauben.