Datenjournalismus braucht Kontext

Die neue Datenjournalismus-Website „The Markup“ ist nach langem Trommelwirbel und einigen Querelen endlich online. Die mit dem Geld von Craig Newmark finanzierte Website verspricht journalistische Hilfestellung dabei, Wahrheit von Meinung, Anekdote, Spin und richtiggehende Propaganda zu unterscheiden. Es ist Tag 2 und ich muss sagen: Nein, da stimmt etwas ganz gehörig nicht.

Heute bringt das Journalismus-Startup eine Geschichte, wie unterschiedlich Google die Kampagnen-E-Mails der unterschiedlichen Präsidentschaftsbewerber behandelt. Das ist eine legitime Fragestellung und eine systematische Untersuchung zum Thema ist sicher einen Blick wert. Auf Twitter zeigt The Markup, wie sexy die Statistik doch ist. Der Artikel wird mit der maximal tendenziösen Frage eingeleitet: „Google the Giant — Swinging the vote?“ – eine Verschwörungstheorie in Frageform.

But there were huge differences. Gmail sent 63 percent of  @PeteButtigieg 's campaign email to the primary inbox.   But it sent none of  @ewarren 's campaign email there. And only 2 percent of  @BernieSanders 's campaign email landed in the primary inbox.

Natürlich verbreitet sich die Story gleich enorm schnell. Google bevorzugt Buttigieg! Und Sanders wird fast komplett ausgefiltert!

Das Problem ist: Die Methodik der Untersuchung ist so fehlerbehaftet, dass jeder, der daraus eine Erkenntnis ziehen will, grob fehlgeleitet wird.

Für den Laien mag die Idee nachvollziehbar klingen: Man sammelt vier Monate lang alle Emails aller Kandidaten und gibt Google keinerlei Anlass E-Mails auszusortieren. Damit keine Daten das Experiment verseuchen könnten, loggt man sich per Tor Browser ein. Also müsste Google doch eigentlich alle eingehenden E-Mails gleich behandeln. Richtig?

Nein, das ist falsch. Denn das Grundkonzept von E-Mail-Filtern wie bei Gmail ist ein anderes. Ein Funktionsprinzip: Wenn 50000 User eine bestimmte E-Mail als Spam markieren, dann wird die Email beim Nutzer mit der Nummer 50001 die E-Mail automatisch in den Spam-Ordner vorsortiert. Man kann dies wie ich als Grund nehmen, Google Mail nicht zu benutzen. Es ist jedoch journalistisch nicht in Ordnung so zu tun, als habe man dieses einfache Prinzip nicht verstanden.

Zudem ignoriert der Text eine grundlegende Wahrheit. Tatsächlich ist politische Werbung per E-Mail spätestens seit dem Obama-Wahlkampf zu einem schieren Ärgernis für viele Nutzer geworden. Seien wir realistisch: Wenn Amy Klobuchar in nur vier Monaten 312 E-Mails verschickt — wer soll all das noch lesen? Und hier kommt dann der Google-Filter ins Spiel. Er sortiert nicht nur Spam aus, sondern sortiert auch „Promotions“ in einer Extra-Box um, die nicht so prominent angezeigt wird. Wenn nun Kampagnen-Emails in der Promotions-Sparte landen, kann man sagen: Der Filter funktioniert. Die befragten Vertreter der Sanders-Kampagne sehen deshalb auch kein Faulspiel von Google. So funktioniert E-Mail-Marketing nunmal.

Natürlich hat Google hier ein kritikwürdiges Eigeninteresse. Wenn nicht jeder gleichberechtigte Sichtbarkeit im Google-Postfach bekommt, dann kann Google Werbeanzeigen verkaufen. Wahr ist aber auch: Wenn jeder gleichberechtigt Sichtbarkeit im Google-Postfach bekommt, dann wird das Postfach für viele Nutzer nicht mehr nutzbar. Es werden viele Witze über Milennials gemacht, die ihre Mailbox nicht mehr abhören und damit wichtige Nachrichten verpassen. Das ist sicher eine Wahrheit. Aber eine andere Wahrheit ist: Im vergangenen Jahr wurden 58,5 Milliarden Robocalls in den USA getätigt. Wer da nicht mehr ans Telefon geht, hat sich schlicht an eine Realität angepasst.

Zurück zu Google: Es ist nicht verkehrt, die Google-Algorithmen unter die Lupe zu nehmen. Doch das wurde hier ja explizit nicht getan. Wenn Pete Buttigieg nicht in den Promotion-Filter abgeschoben wird, hängt das sicher auch damit zusammen, dass er weniger E-Mails als fast alle anderen Kampagnen versandt hat. Wenn die Post von Bernie Sanders komplett in dem Promotions-Ordner landet, hat es damit zu tun, dass er schon seit über fünf Jahren Wahlkampf macht und Google-Nutzer sehr viel Zeit hatten, seine Kampagnen-Emails als Promotion einzustufen. Ohne diese Kontexte sind die Daten ziemlich wertlos. Die Präsidentschafts-Kampagnen sind schließlich nicht vor vier Monaten vom Himmel gefallen.

Wenn man wirklich über den Einfluss von Google schreiben will, müsste man schon ein paar Gegentests einbauen: Zum Beispiel: Arbeiten Outlook, Yahoo und andere Webmail-Provider wirklich anders? Und: Warum sagt die Sanders-Kampagne, dass sie keinerlei Problem hat, wo doch alle E-Mails im Promotion-Tab landen? Man könnte sich auch ansehen: Nutzen politische Kampagnen das Angebot, einen ersten Platz in der Promotion-Inbox zu kaufen? Notwendig wäre es auch gewesen, mal in die E-Mails hineinzugucken, die im Spamfilter gelandet sind. Gab es dafür vielleicht offensichtliche Gründe, wie extensive Tracking-Techniken? Bei Kampagnen mit hohen Spam-Anteilen wäre auch zu fragen: Woher beziehen sie die E-Mail-Adressen der Empfänger? Nichts davon ist hier geschehen. Wenn man sich den Input nicht ansieht, kann man nicht entscheiden ob der Output eines Algorithmus korrekt oder inkorrekt ist.

Erst ganz zum Schluss des statistischen Addendums räumt The Markup dann schließlich ein, dass die Mühe, die sie sich gegeben haben, eigentlich zu nichts geführt hat:

We were unable to discern from the data we gathered why Gmail treated emails from different political entities differently.

Ich würde es sogar etwas härter formulieren: Die Untersuchung hat nicht mal ergeben, ob E-Mails der Kandidaten tatsächlich unterschiedlich behandelt werden. Das wird aber leider viele Fans von Kandidaten und Journalisten-Kollegen aber nicht davon abhalten, das absolute Gegenteil zu verbreiten.

Von Libertären — Freiheit ist ein zweischneidiges Schwert

Ich mag Penn Gilette. Wie könnte ich ihn auch nicht mögen? Er war auf einer Clownsschule, er hat die Ignoranz der Impfgegner mit Orangen beworfen. Und er hat im West Wing die Flagge der Vereinigten Staaten verbrannt, um die Freiheit zu feiern, die sie repräsentiert. Aber Penn ist nicht nur ein Clown, er ist auch Aktivist. Gegen Religion. Und für libertäre Ideologie.

Was das bedeutet, kann man in seinem wöchentlichen Podcast nachhören. Es ist eine Ego-Show von Ausmaßen eines Charlie Sheen, aber er ist charmant, unterhaltsam, intelligent und tut niemandem etwas zuleide. Im Podcast erklärt er, warum er Steuern zum größten Teil für Diebstahl hält. Wenn jemand bedürftig sei, könne man ja fragen — Penn hilft und spendet bereitwillig.

Die Freiheit Quatsch zu sagen

Auch wenn er Religionen für Betrug und Massenpsychosen hält, will er diesen Menschen freundlich begegnen. Und Homophobie findet er ganz und gar nicht toll, er ist aber absolut für die Freiheit der Menschen Homosexuelle von Dienstleistungen auszuschließen. Schließlich — so seine Argumentation — werden Homophobe durch die Freiheit Homosexuelle zu diskrimieren, vom Markt gestraft. Denn jeder habe die Freiheit bei solchen Leuten nicht einzukaufen. Wie gesagt, Penn Gilette ist intelligent. Er weiß, dass das Quatsch ist. Vermute ich. Und er wird auch gerne eingestehen, dass er zuweilen ein Arschloch ist, ein Clown. Dass sein Erfolg zwar sehr von Talent und harter Arbeit, aber auch von sehr viel Glück abhing. Und dennoch.

Ich kenne viele Leute, die ähnliche libertäre Gedanken vor sich hertragen. Die in gesellschaftlichen Diskussion immer die Freiheit als erstes betonen. Die Freiheit in Kneipen zu rauchen. Die Freiheit Filme kostenlos im Internet anzusehen. Die Freiheit, die von GEZ-Gebühr und Ideologen jeder Couleur eingeschränkt ist. Vor allem: die eigene Freiheit.

Oft werden Libertäre mit Linken verwechselt. Denn ihnen sind so manche Forderungen gemein: Das Recht auf Rausch ist ein starkes Bindeglied, die Abneigung gegen Lobbyismus der Milliardenkonzerne, die den Markt manipulieren, die Verlogenheit des „Kampfes gegen den Terror“. Die Präsidentschaftskandidatur von Ron Paul war so ein Beispiel. Aber auch die Piratenpartei. Unter der Flagge der vermeintlichen Ideologiefreiheit wurden hier unverträgliche Ideologien so lange vermischt, bis der Laden auseinanderflog.

Nicht-Ideologie gibt es nicht

Konsequent libertär zu sein geht eigentlich nicht, genau so wenig wie ein epikureischer Berufspolitiker zu sein. Denn der Ausdruck der tolerierten Freiheit ist ein Achselzucken. Sobald ich für die Freiheit eines anderen eintrete, bin ich ja schon wieder ideologisch. Trete ich für den Raucher ein oder für den Nichtraucher? Trete ich für die Freiheit des Homophoben ein oder der des Homosexuellen? Ist die Freiheit des einen auf unbegrenzten Reichtum des einen nicht auch das Recht auf Freiheit zu verhungern oder sich die Knochen zu brechen? Freiheit ist fast immer ein zweischneidiges Schwert.

Der kluge Libertäre bleibt an der Oberfläche, widmet sich nur den 90 bis 100-prozentigen Fragen, wo es eindeutig zu sein scheint, auf welcher Seite die Freiheit liegt. Darf man im Namen der Freiheit alle abhören — auch wenn es nichts bringt? Natürlich nicht. Ist der Krieg gegen Drogen eine gewaltige Geldverschwendung? Natürlich! Geht es jedoch tiefer, geht es an die eigene Lebenswirklichkeit, werden auch die Libertären ins Ideologische reingezogen.

Allzu viele Libertäre entscheiden sich dann für das Recht zu kämpfen, ein Arsch zu sein. Mit der Begründung, dass die anderen doch so viel schlimmer sind. Der Kampfruf „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden!“, bekommt eine Fußnote. Die Freiheit der Andersdenkenden, die so aussehen wie ich und auf der gleichen Schule waren. Die wie ich Jahre geschuftet haben, um etwas zu erreichen. Die das gleiche Craft-Bier mögen.

Die Vorratsdatenspeicherung als Ebay-Käuferschutz

Ich bin kein radikaler Gegner der Vorratsdatenspeicherung. Wenn Autos Nummernschilder haben müssen, wenn es eine Ausweispflicht gibt und das OK ist, dann könnten ähnliche Regelungen für Online-Kommunikation begründbar sein.

Warum ich die Vorratsdatenspeicherung trotzdem falsch finde: Niemand begründet es. Beziehungsweise die vielen Begründungen, die ich lese, sind voll von Falschannahmen, unlogischen Schlüssen, blanken Lügen.

Der Berliner Senator Heilmann liefert heute in einem Gastbeitrag bei Zeit Online ein schönes Beispiel dafür, wie man mich nicht von der Vorratsdatenspeicherung überzeugt. Er geht ein paar der klassischen Irreführungen durch:

1. Die Ebay-Irreführung

Ans Geld aber geht es den Bürgern bei anderen kriminellen Aktivitäten: Wenn wir bei Ebay betrogen, unsere Konten geplündert oder unsere Daten abgeschöpft werden, um damit einen digitalen Einbruch vorzubereiten.

Wenn die Vorratsdatenspeicherung nur bei schweren Straftaten zum Einsatz kommen soll — wie ja immer wieder versprochen wird — dann sind die Ebay-Betrüger eigentlich fein raus. Gibt es eine Straftat mit geringerem Rang vor Justiz und Ermittlungsbehörden?

Selbst wenn man die Vorratsdatenspeicherung als ultimatives Mittel gegen Ebay-Betrüger ins Felde führen will, gibt da ein kleines Problem: Ebay-Betrüger müssen auf irgendwelchen Wegen die Ware oder das Geld kassieren. Die Datenspur zu ihnen existiert auch ohne Vorratsdatenspeicherung. Wenn sie nicht erwischt werden, haben sie also bereits einen Weg gefunden, solche Hindernisse zu umgehen.

2. Die Vier-Wochen-Saga

Wenn die Polizei beispielsweise auf beschlagnahmten Rechnern auf die IP-Spuren stößt, dauert es meist mehr als drei bis vier Wochen, um die Adressen zu entschlüsseln und auszuwerten. Dann aber kann man sich den Gang zum Ermittlungsrichter sparen, weil die Daten für die Zuordnung der IP-Adressen schon gelöscht sind.

Zunächst einmal: IP-Adressen muss man nicht „entschlüsseln“. Die IP-Adressen von Ebay-Betrügern lassen sich in Minuten ermitteln. Selbst wenn man einen Richterbeschluss braucht, ist es heute offensichtlich kein Problem, vielen IP-Adressen Namen und Adressen zuzuordnen. Die Redtube-Abmahner zum Beispiel hatten überhaupt kein Problem, mit Gerichtsbeschlüssen die Daten von über 10000 Bürgern zu bekommen.

Aber es gibt natürlich auch andere Fälle. In Wahrheit dauert es sogar oft genug über zwei Jahre bis Forensiker Datenträger von Verdächtigen auswerten. Dort gefundene IP-Adressen sind so gut wie wertlos. Mit und ohne Vorratsdatenspeicherung. Weshalb Polizeivertreter nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung auf eine Verlängerung der Fristen drängen werden.

3. Die extrem merkwürdigen Vergleiche

Die Gegner der Vorratsdatenspeicherung argumentieren, dass man mit entsprechenden IT-Kenntnissen seine IP-Anschrift verschleiern könne und dann die Vorratsdatenspeicherung nichts bringe. Ja, das stimmt. Aber wir verzichten auch nicht auf Türschlösser, nur weil man dafür Nachschlüssel anfertigen kann.

Durchaus korrekt: Leute, die schwere Straftaten begehen, haben schon vor einigen Jahren die Notwendigkeit entdeckt ihre Identität zu verbergen. Die Metapher zeigt wieder, dass Heilmann Ermittlungserfolge gegen Kriminelle verspricht, die die unterste Klasse darstellen. Und die sollen ja eben nicht durch Vorratsdatenspeicherung abgedeckt werden, oder?

Wenn ich eine Einbruch-Metapher verwenden darf: Staat und Wirtschaft haben und in den letzten Jahren eindrucksvoll bewiesen, dass sie unsere Daten nicht schützen oder nicht schützen können. Statt Daten wegzusperren, plädiert Herr Heilmann dafür, unsere Wertsachen in den Wohnzimmern auszubreiten — sichtbar für jeden vorbeigehenden Passanten. Es ist kein Problem, schließlich haben wir Türschlösser. 

Warum die Vorratsdatenschutz Datenschutz und nicht Ebay-Käuferschutz sein soll, hat Herr Heilmann irgendwie nicht erwähnt.

Passwort-Aberglauben

Grade eben habe ich einen Zugang zum Pressebereich einer großen Organisation geändert. Die Anforderungen an das neue Passwort:

Das neue Passwort muss mindestens acht Zeichen lang sein und mindestens einen Buchstaben, ein Sonderzeichen !§%/()=?+*#-_.:,;| und eine Ziffer (0-9) enthalten. Groß- und Kleinbuchstaben (A-Z, a-z) sind erlaubt, Leerzeichen nicht.

Was wird damit erreicht? Das Passwort ist ein bisschen schwerer durch Wörterbuchattacken zu erraten, bei denen schlichtweg alle Passworte durchprobiert werden. Es wird jedoch wesentlich schwerer für den Nutzer, sich das Passwort zu merken. Gerade der Ausschluss von Leerzeichen ist widersinnig – so verhindert man effektiv, dass jemand einen für sich einfach zu merkenden Satz als Passwort wählt.

xkcd dazu:

xkcd

Occupy und Spaß dabei

Der taz-Redakteur Martin Kaul fordert von der Occupy-Bewegung Kante zu zeigen.

Doch die programmatische Beliebigkeit von Occupy sorgt dafür, dass sich viele Globalisierungskritiker den Protesten nicht anschließen. Sie fühlen: Wer zu allen Seiten offen ist, kann irgendwo nicht ganz dicht sein.

Vielleicht wäre ein erster Anfang, die Protestschilder gegenseitig Korrektur zu lesen:

(gesehen auf der Occupy-Cologne-Demo am Samstag)

Unpertise

In Zeiten fortschreitenden Irrsinns wird Deutschlands führender Experte im Unsinnschreiben immer wieder gerne zitiert.

Wikipedia ist keine Demokratie

Wikipedia ist keine Demokratie. Wikipedia ist kein Staat mit stimmberechtigten Bürger. Bei Wikipedia kann jeder mitmachen. Und da jeder Dutzende Accounts anlegen kann, hat jeder keine Stimme. Außer er reißt sie an sich.

Der Entscheidungsprozess der Online-Enzyklopädie ist der eines gewaltigen Hive-Minds mit Persönlichkeitsstörungen, Selbsthass und einem chronischen Bauchgrimmen. Und jedes Mal wenn sich das Hivemind ärgert, verpuppt es sich. Doch statt sich Flügel wachsen zu lassen, taucht das Hive-Mind jeweils mit einem Kopf mehr auf: Bürokraten. Arbitration Committees. Community-Ausschüsse. Die an sich flache Hierarchie der Jeder-Kann-mitmachen-Enzyklopädie ist über zehn Jahre metastasiert und kann jeden Flowchart-Autoren in den Wahnsinn treiben.

Die Quintessenz ist: wer macht, entscheidet. Oder gibt auf. Wikipedia ist nicht nur eine Enzyklopädie, sondern eine politische Operation. Es gibt da nur ein Problem: die spontane bürokratisch-technokratische Unverbindlichkeit funktioniert nicht mehr, neue Autoren bleiben aus und wohin der Mega-Tanker Wikimedia steuert, weiß niemand mehr so recht — trotz strategischer Visionen und Fünfjahresplänen. Oder gerade deswegen?

Wikimedia will nun diesen gordischen Knoten durchschlagen. Da aber selbst Jimbo Wales im vergangenen Jahr seinen Schwert-Arm chronisch verstaucht hat, versuchen die verschiedenen Wikimedia-Instanzen stattdessen ein bisschen an dem Knäuel herumzunibbeln. So will Wikimedia Deutschland e.V. die Community mehr einbinden, um mehr Legitimität für ihr ansehliches Spendenbudget zu gewinnen. Sie haben die Community gefragt, in welche Projekte sie investieren wollen. Das war gleich eine zweifache Pleite. Die gewählten Community-Vertreter konnten – trotz Mehrfachstimmen – nicht Mal die Unterstützung von 70 Wikipedianern gewinnen. Die Wikipedia-Gemeinde ist zwar klein, aber nicht wirklich so klein. Und dann zerstritten sich Vereinsvorstand und Communitybudgetausschuss in so eindrucksvoller Weise, dass sämtliche Bundestagsfraktionen vor Neid erblassen müssten. Zumindest wenn sie davon erfahren hätten. Wikipedia-Politik findet weitgehend ohne Öffentlichkeit statt. Obwohl sich quasi jeder für die gewaltige publizistische Macht der Wikipedia interessiert, wenden sich die meisten nach kurzer Zeit angewidert ab. Wer übrigbleibt, ist Bestandteil des Systems.

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Die Wikimedia Foundation hat nun eine Abstimmung über ein neues Filter-Tool angesetzt – nein: gar ein Referendum. Das Problem daran: die Wikipedianer dürfen nicht wirklich abstimmen. Das Referendum ist als unverbindliche Umfrage konzipiert, bei dem die Teilnehmer auf einer Skala von eins bis zehn markieren dürfen, wie wichtig sie verschiedene unscharf formulierte Aspekte des Filters finden. Die Wahlbeteiligung liegt schon jetzt bei weitem höher als bei den Wahlen für das Board der Wikimedia Foundation. Und wenn ich die Diskussionsseiten richtig interpretiere, liegt das daran, dass ein guter Teil der Wikipedianer die Einrichtung eines Filters für Wikipedia-Inhalte strikt ablehnen. Doch wirklich dagegen stimmen können sie nicht.

Dies zeigt wieder einmal: es ist relativ einfach Leute gegen etwas zu organisieren. Doch wenn es darum geht, Alternativen und gemeinsame Konzepte zu entwickeln, sind wir allzu oft ratlos. Wozu einen Kompromiss eingehen, wenn man mit einem Klick auf einer anderen Plattform ist. Oder wenn man über Jahre polemisieren kann, wie dumm die Entscheidung war, die man nicht unterstützt hat. Ob es besser wird, ist zweitrangig. Ich hatte recht.

Für September hat Wikimedia Deutschland einen neuen Versuch angesetzt. Der Verein wird einen Entwurf seines Ausgabenplans online stellen und dann in einer Deutschland-Tour in Hamburg, München, Frankfurt, Köln und Berlin den Erntwurf vorstellen und Rückmeldungen annehmen. Das Problem: daran: die Teilnehmer brauchen keinerlei Legitimation und deshalb haben sie auch keine. Vereinsmitglied oder nicht, Wikipedia-Autor oder nicht — egal. Und deshalb ist auch egal, was die sagen. Es werden sich hinterher immer zehn Mal so viele Menschen finden, die die Ideen blöd, falsch und geradezu gefährlich finden.

Die Suche nach dem Rückkanal, zu dem Entscheidungsprozess mit dem man möglichst viele Menschen einbinden und zu konkreten Schritten bewegen kann, ist frustrierend. Aber auch spannend. Und nochmal frustrierend.

Warum der Internet-Alarmknopf dämlich ist

Es gibt Momente, da rollen sich die Zehennägel. Heute hatte ich zwei davon. Über den einen habe ich schon geschrieben, der zweite ereignete sich zur Tagesschau. Denn tatsächlich hat es der Bund der Kriminalbeamten geschafft, seinen uralten Vorschlag eines Internetalarmknopfes mit Oslo zu verbinden und damit ist die Hauptnachrichtensendung zu kommen.

Sehen wir uns den Vorschlag kurz an:

Wer im Internet rechtsradikale Inhalte, islamistisches Gedankengut oder Hinweise auf einen Amoklauf entdecke, müsse die Seite einfrieren und an eine Alarmzentrale weiterleiten können, sagte der Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Klaus Jansen, der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Ein in Echtzeit übermittelter Notruf im Netz sei schneller und effektiver als ein Anruf bei der örtlichen Dienststelle, die damit unter Umständen wenig anzufangen wisse.

Der kurze Draht zur Notrufzentrale lasse sich ohne viel Aufwand mit einer datenschutzrechtlich geprüften Software auf dem eigenen Rechner installieren, erklärte Jansen. Eingehen solle der Netzalarm „bei einer nationalen Zentrale, die rund um die Uhr mit speziell geschulten Polizisten, Soziologen oder Psychologen besetzt ist“.

Warum finde ich das so dämlich? Beweissicherung und schnelle Weiterleitung an Fachleute ist doch sicher richtig, nicht?

NEIN!

Einige der Gründe:

  • Eine datenschutzrechtlich geprüfte Software? Das soll wohl bedeuten, dass die Menschen, die auf den Alarmbutton klicken nichts zu befürchten haben. Das ist jedoch reiner Blödsinn. Denn natürlich fallen bei einer solchen Software Daten an, mit denen der Absender ermittelt werden kann. Das ist schlichtweg nicht zu vermeiden — erst recht nicht, wenn man die Bilanz staatlicher IT-Projekte der letzten Jahre ansieht. Und zweitens macht man sich mit der Erstellung von Kopien bestimmter Inhalte — wie die immer wieder zitierte Kinderpornografie — strafbar. Der Polizei bleibt nichts andere übrig als in ernsten Fällen den Tippgeber zu ermitteln. Die vermeintliche Anonymität gilt also nur, solange sich niemand für die Identität interessiert.
  • Der vermeintliche Datenschutz hat auch einen anderen Hintergrund. Es sollen natürlich nicht nur Straftaten gemeldet werden, sondern abweichendes Verhalten, Anzeichen, Verdachtsmomente. Polizisten, die Informationen über per se nicht-strafbares Verhalten sammeln — das ist keine gute Idee.
  • Was soll man denn da klicken? Der Attentäter von Oslo hat ganz kurz vor der Tat ein Manifest verschickt, das zum großen Teil aus den Beiträgen von Rechtspopulisten bestand. Was hätte ein Psychologe daraus machen sollen? Hätte er auf Seite 647 angelangt die Schlussfolgerung gezogen: das ist ernst, wir müssen handeln! — es wäre zu spät gewesen. Vor allem: was soll er in der Cyber-Zentrale irgendwo im Bundesgebiet tun? Im Erfolgsfall kann die Polizei später aus einer Million Hinweisen den heraussuchen, der dann doch ernst genommen werden musste.
  • Eine Zentrale kann keine Kompetenz in der Fläche ersetzen. Wenn die örtliche Polizei nicht mit URLs umgehen kann, ist das ein Fehler, der dort angegangen werden muss. Wenn Beamten kein Internetanschluss zur Verfügung steht, ist die Lösung nicht, dass man sie umgeht. Man muss ihnen Rechner und Kompetenzen geben. Man stelle sich vor, das Wirtschaftsdezernat könnte noch nicht mit Euro umgehen oder würde Ermittlungen einstellen, weil ein Beamter nicht weiß, wie ein Schweizer Franken aussieht. Es spricht nichts dagegen, einen Bürger an ein Fachkommissariat weiterzuleiten. Aber ihn auf eine obskure Internet-Zentrale umzuleiten, ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich — es ist dumm. Denn natürlich fehlt der Berliner Zentrale das lokale Wissen, um die Hinweise wirkungsvoll zu bearbeiten.
  • Es gibt sooooo viel Bullshit, Verrückte, Verzweifelte, Arschlöcher. Wenn ich jedem hinterher recherchieren würde, der sich bei mir oder den Redaktionen, für die ich arbeite, meldet — ich könnte nichts anderes mehr tun. Ein Browser-Button, den jeder bedienen kann — was da ankommt, dürfte ein Sittengemälde der düstersten Art sein. Viele Menschen können einen andere Meinung nicht von einer Straftat unterscheiden. Und Hass alleine ist keine Straftat.
  • Ein Screenshot hat keinerlei Beweiskraft. Ein Browserfenster zu erzeugen, in dem Klaus Jansen einen Selbstmordanschlag mit Erdhörchen-Bomben ankündigt, kostet mich keine zwei Minuten. Zudem: Es mag sich noch nicht überall herumgesprochen haben: Aber das Internet ist nicht durchweg identisch mit einem Browser-Fenster. Ich hab auch Mal eine Selbstmorddrohung im IRC erhalten.
  • Zum 100. Geburtstag von McLuhan schallt zwar der Satz „The medium is the message“ von allen Häuserwänden — aber wieso sollte ich eine Bedrohung anders behandeln, je nachdem ob ich sie in der Kneipe, im Schützenverein, per Telefon oder auf Facebook gelesen habe. Wenn nicht Mal die Mülltrennung vernünftig funktioniert — woher nehmen die Kriminalbeamten die Hoffnung, dass Anzeigen per Medium sortiert werden können und schließlich im Staatsapparat wieder korrekt zusammengeführt werden?

eG8 – Internet is the new frontier

„Internet is the new frontier“, soll Nicolaz Sarkozy einst gesagt haben. Auf dem heute beginnenden eG8-Forum zeigte er sich jedoch von eoiner ganz anderen Seite: wer das Internet aufhalte, werde weggefegt, sagte er um Beifall heischend. Doch der blieb aus.

Das könnte auch daran liegen, dass die Bekenntnisse zu Grenzenlosigkeit des Internets nicht so völlig glaubwürdig sind. Die rhetorisch gemeinte Frage, wie er denn dem Internet schaden könne, wussten wahrscheinlich alle Teilnehmer viele Antworten. Und bei der Webseite des eG8-Forums kann man es sehr schön sehen.

Wer http://www.eg8forum.com/ von einem deutschen Internetanschluss Browser aufruft, wird dank IP-Geolokalisierung (Korrektur: über die Spracheinstellung des Browsers) umgeleitet auf http://www.eg8forum.com/de/.

Einziger Inhalt der Seite:

Page not found / Page introuvable

Immerhin: wer http://www.eg8forum.com/en/ aufruft, bekommt die englische Version der Seite und wird nicht zurück zur Fehlerseite geleitet.

Ein banales Detail? Ja. Aber ein schönes Beispiel, wie im Internet Grenzen gezogen werden, völlig ohne Sinn und Verstand.

PS: Ein kleiner Check über Rex Swain’s Http-viewer zeigt eine lustige Endlosschleife.

Receiving Header:HTTP/1.1·302·

Moved·Temporarily(CR)(LF)

Content-Length:·147(CR)(LF)

Content-Type:·text/html(CR)(LF)

Location:·http://www.eg8forum.com/(CR)(LF)

Server:·Microsoft-IIS/5.0(CR)(LF)

Date:·Tue,·24·May·2011·13:02:19·GMT(CR)(LF)

Connection:·close(CR)(LF)(CR)(LF)End of Header (Length = 199)•

Elapsed time so far: 0 seconds•

Waiting for additional response until connection closes…Total bytes received = 346

Elapsed time so far: 0 seconds

Content (Length = 147):

<HTML><HEAD>(LF)<TITLE>302·Moved·Temporarily</TITLE>

(LF)</HEAD>(LF)<BODY>(LF)The·document·has·moved·<A·HREF=“http://www.eg8forum.com/“>here</A>(LF)</BODY></HTML>(LF)

Mit Minitel wäre das nicht passiert.

 

Nachtrag: Ich möchte keinesfalls nahelegen, dass die französischen Gastgeber absichtlich deutsche (und anderssprachige User) aussperren wollen. Es ist schlichtweg ein Fehler der Administratoren der Website. Aber er zeigt Potenzial und aktuelle Praxis von Umleitungen, Grenzsetzungen im Netz – egal ob sie nach nationalstaatlichen, sprachlichen, sozialen oder anderen Kriterien aufgebaut werden.