Weltmeisterschaft im Missverstehen

Matt Bai, Autor beim New York Times Magazine, wird attackiert. In einem langen Portrait über den ehemaligen Waffeninspekteur Scott Ritter schrieb er doch tatsächlich, dass es in dem Irak-Krieg wenige Helden gegeben habe. Ein Tabu in der US-Gesellschaft, deren wirtschaftliches Prosperieren im den letzten Jahrhundert auch auf die Armee zurückzuführen ist. Sie mögen die Verlierer der Gesellschaft sein, sie mögen allein gelassen werden, aber sie haben das ungeschriebene Recht „Helden“ genannt zu werden. Doch von diesen Soldaten schrieb Bai gar nicht. Trotzdem versuchten einige Konservative den Autoren als unpatriotischen Unsympathen zu brandmarken.

Bai antwortet nun per Blog auf diese Anwürfe:

 

I suppose, in hindsight, I might have inoculated myself against such criticism by referring specifically to “public heroes” or “national heroes,” or something like that. But the truth is that no amount of cautious editing can effectively deter those with rigid ideological dispositions. Like water finding its way into the cracks between roof shingles, those who detest the premise of a piece will always hunt down some vulnerability in the language, some line that can be twisted or abbreviated to make a point.

And this, I think, gets to the larger point. We live in a moment where it’s generally not enough for one political faction or another to express honest disagreement with a story or an idea; the standard approach now is to discredit and distract, using 140-character tweets and selective quoting to undermine the writer and change the subject. In this case, the critics fell back on the familiar ground of attacking my patriotism and that of The Times, because it’s a tactic that has worked for them in the past, and because it’s safer ground than having to debate painful truths about the war and its human toll.

Diese Strategie ist nicht neu oder originell, aber in letzter Zeit fällt sie mir gehäuft auf. Statt sich mit anderen Standpunkten zu beschäftigen, scannt man lieber nach Schlüsselwörtern, die man aus dem Zusammenhang reißen oder die man gezielt missverstehen kann. Jemand hat eine dämliche Metapher verwendet? Er ist ein Kriegstreiber! Will den Autoren die Butter vom Brot stehlen! Ist Internetausdrucker.

Und das Deprimierende ist: Keine Seite scheint dieser Strategie müde zu werden und es sind gerade nicht nur die verachteteten Berufspolitiker, die sich ihrer bedienen. Es ist eine Erfolgsstrategie, die von jedem schnell erlernt werden kann und die in der intendierten Zielgruppe schnell Anerkennung bringt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund! Dass dabei die legitimes Kritikpunkte und — seien wir Mal etwas über-optimistisch — Dialogmöglichkeiten so unter den Tisch fallen, ist egal. Auch wer einen legitimen Punkt hat, scheint ihn aus Gewohnheit mit Füllwörtern der Verachtung anzureichern, um gelesen zu werden.

Gerade in der vergangenen Woche fielen mir da die Pseudo-Debatten zu Gauck oder dem Begriff „Netzgemeinde“ auf. Es mag substantielle Beiträge gegeben haben, aber die gingen unter in einer solchen Flut von Gegeifere, von Missgunst, von durchschaubarer Provokation unter, dass ich mich gar nicht mehr mit den Themen beschäftigen will. Wenn die öffentliche Debatte ein Wettbewerb ist, wer die Gegenseite am besten missverstehen, am effektivsten verleumden kann, dann habe ich keine Lust darauf.

Guttenberg entpolarisiert

„Nein, das ist nicht zuende“. Als ich am Wochenende auf einer Geburtstagsparty, war, kamen wir natürlich auch auf Guttenberg zu sprechen. Ich gab meinem Gegenüber recht, dass die mediale Berichterstattung nervt — ich gab ihm ganz und gar nicht recht, dass das Thema mit der Rückgabe des Doktortitels erledigt sei.

Was mir auffällt: es gibt kaum jemanden, mit dem man normal und reflektiert zum Thema reden kann. Als der Skandal zum ersten Mal aufkam, erwähnte ich, dass Guttenberg schon früh mit der BILD ins Bett gestiegen sei. Die Antwort verstörte mich schon fast: „Und wenn es so wäre, würde ich es nicht glauben“. Im Gegenzug schicken mir andere Freunde E-Mails mit triumphalen Betreffzeilen „Der Fatzke geht von Bord“. Ist es dem Karneval geschuldet, dass wir keinen Diskurs mehr führen können, der nicht von beiden Seiten ei n Stück Realitätsverleugnung verlangt? Versuchen wir es Mal.

Ja: Guttenberg ist ein politisches Talent. Man mag naserümpfend darüberstehen, aber Menschen für eine Sache zu begeistern ist Teil der Politik. Selbst wenn der Politiker in erster Linie sich selbst als Mission sieht – nur durch einen gewissen Populismus, lässt sich die Gesellschaft auch Mal auf einen anderen Kurs lenken. Der Krieg in Afghanistan hatte schon fast einen Anstrich, als sei dies eine Operation des Bundesverwaltungsamts, Außenstelle Hindukusch. Guttenberg hat es geschafft, den Blick zu den Soldaten zu lenken, er hat es geschafft den Menschen, die wir, beziehungsweise unsere Volksvertreter losgeschickt haben, das Gefühl zu vermitteln gehört zu werden. Und er konnte politische Erdbeben auslösen, wo sie nötig waren. Wer außer Guttenberg hätte die CSU davon überzeugen können, den seit Jahrzehnten immer absurderen Zustand der Bundeswehr neu zu überdenken?

Nein: Guttenberg war in meinen Augen kein guter Politiker. Viel weiter als bis zur Inszenierung ist Guttenberg nie gekommen. Ich glaube nicht, dass er die Bundeswehrreform auch nur ansatzweise organisieren konnte. Er hatte den Respekt der Soldaten, doch was hat das geändert? Die Soldaten beschweren sich darüber, dass sie mit Afghanen zusammenarbeiten müssen, die ihnen vielleicht in den Rücken schießen — woher wissen sie das schon? Guttenberg hat die Soldaten von sich überzeugt, aber nicht von seiner Politik. Er hielt an der Methode fest, konnte aber seinen Untergebenen auch keine Perspektive vermitteln, wo es denn hinführt. Da hört mir einer zu. Aber ändern tut sich doch nichts.

Ja: die mediale Aufarbeitung der Affäre Guttenberg erschien unverhältnismäßig. In Nordafrika wird Weltgeschichte geschrieben und wir kümmern uns nur noch um unseren eigenen Bauchnabel? Nicht nur eine, sondern zwei, gleich drei Wochen lang? Natürlich spielt eine gewisse Missgunst eine Rolle. Teilweise sind es die gleichen Leute, die Guttenberg hochgeschrieben haben, die sich nun über ihn entrüsten. Dass Guttenberg die Bundespressekonferenz vor den Kopf stieß und den Hauptstadtjournalisten beweisen wollte, dass er ohne sie auskäme — das haben sie ihm nicht verziehen. Medien sind Tendenzbetriebe, Journalisten sind Menschen. Und oft auch Akademiker.

Nein: die Journalisten haben Guttenberg nicht abgeschossen. Das war er selbst. Er muss seinen Betrug gekannt haben, hat sich aber bis heute nicht dazu bekannt, er spricht nur sehr vage von Fehlern. Jeder andere Bundesminister hätte eine Woche vor Guttenberg zurücktreten müssen. Stattdessen forderte Guttenberg Solidarität ein, verspielte politisches Kapital, über das er vor zwei Wochen noch überreichlich verfügen konnte. Doch jedes neue Bundestagsgutachten, jedes peinliche Vorschützen der Bundeswehr-Soldaten, kostete reichlich. Auch Politiker sind oft Akademiker.

Ja: natürlich überschütten Gabriel und Trittin ihn mit Häme. Aber wann hat die Opposition schon einmal so eine Einladung bekommen? Mir fällt nur das Ehrenwort Helmut Kohls ein, als der Altkanzler die Bevölkerung vor den Kopf stieß. Ja: Guttenberg die Schuhe zu zeigen, wie es die Ägypter mit Mubarak taten, war in meinen Augen lächerlich. Guttenberg war kein Mubarak, die Demonstranten mussten ihr Leben, ihre Familie nicht riskieren, um ihre Meinung zu äußern.

Nein: Guttenbergs Doktorarbeit ist keine harmlose Schummelei in der Mathe-Arbeit und auch kein schwerer Raub. Es ist einen jahrelanger, kalkulierter Betrug — vermeintlich ohne Opfer. Keinesfalls ein Einzelfall, aber selbst in der Masse werden die Missetäter schnell abgeurteilt.

Nein: Bisher gibt es keinerlei Indiz, dass die Pro-Guttenberg-Gruppen zusammengekauft wurde. GZSZ-Fans versammeln sich bei RTL.de und Facebook hat den Netzwerk-Effekt auf die Spitze getrieben: Gruppen, die viel Zulauf haben, tauchen besonders häufig im Live Feed auf. Auch die enorme Anzahl alleine ist noch kein Indiz für faules Spiel. Zum Vergleich: die Holofernes-Absage an BILD und Jung von Matt erhielt 54000 Facebook-Likes – und konnte nicht eine Woche lang Fahrt aufnehmen. Facebook polarisiert gerne, um Klicks zu generieren.

Bildungsfern

„Bildungsferne Schichten“ ist ein schrecklicher, ein zynischer Ausdruck. Als ob es einen Teil der der Bevölkerung gibt, der verloren ist. Den man nicht mehr retten kann, der sich schon viel zu weit entfernt hat. Vater und Mutter waren schon so – also geben wir dem Kind auch einen Tritt. Damit es da bleibt, wo es hingehört.

Nennen wir sie doch einfach: MySpace-Nutzer. Wer-kennt-wen-ler. Abmahn-Opfer. Internet-Ausdrucker.

Die Presse ist gar nicht so

Nachdem Jon Stewart unter anderem den Medien am Wochenende so phänomenal die Leviten gelesen hat, fühlen sich einige Medienvertreter zu Unrecht angegriffen.

So schreibt David Carr in der New York Times:

So instead the host of “The Daily Show” took steady aim on the one American institution that everyone can agree to hate: The Media. Within the first minute of his deft, very articulate stump speech at the end of the rally, Mr. Stewart turned his gun sights on the, um, fake news, which he called, “the country’s 24-hour political pundit perpetual panic conflictinator,” which, he added, “did not cause our problems, but its existence makes solving them that much harder.”

Dem mag sich Carr nicht ganz verschließen — er sieht die Prioritäten aber falsch gesetzt. Schließlich haben Medien doch nur einen so beschränkten Einfluss:

But here’s the problem: Most Americans don’t watch or pay attention to cable television. In even a good news night, about five million people take a seat on the cable wars, which is less than 2 percent of all Americans. People are scared of what they see in their pay envelopes and neighborhoods, not because of what Keith Olbermann said last night or how Bill O’Reilly came back at him.

Warum also hat Jon Stewart die Medien attackiert? Sie sind – so argumentiert Carr – willkommene Sündenböcke für eine Realität, die den Menschen nicht gefällt. In dem Jon Stewart die pundits beschimpfte, musste er nichts über Arbeitslosigkeit, Staatsschulden und Kriegen sagen.

His barrage against the news media Saturday stemmed from the fact that, on this day, attacking the message would have been bad manners, so he stuck with the messengers.

Ähnlich argumentiert Hamilton Nolan bei Gawker:

The media does not have the power to convince liberals or conservatives that their position is incorrect. The media does have the power to do this: draw a box, and say, „This box represents the boundaries of acceptable opinions.“ The boundaries of this box are arrived at by sampling a small range of politically acceptable pundits—say, from Arianna Huffington to Charles Krauthammer—and declaring them to represent the absolute extremes of rationality. Any opinions that fall outside of this box are dismissed as lunacy, and may be freely ignored.

Nicht Schreihälse wie Glenn Beck oder Keith Olbermann seien die Wurzel des Übels, sondern Journalisten, die Wischi-waschi-Standpunkte vertreten, um nicht aus dem Rahmen zu fallen. Der Konsens — wie auch anderswo — sei Gift.

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P.S.: Olbermann will nun zumindest nicht mehr regelmäßig die „worst persons of the world“ küren — und Jon Stewarts Rede wurde autotuned:

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I have a… point

If we amplify everything, we hear nothing.

Danke, Jon!

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P.S.

I can only tell you my intentions. This was not a rally to ridicule people of faith or people of activism or to look down our noses at the heartland or passionate argument or to suggest that times are not difficult and that we have nothing to fear. They are and we do. But we live now in hard times, not end times. And we can have animous and not be enemies.

But unfortunately one of our main tools in delineating the two broke. The country’s 24 hour political pundit perpetual panic conflinctinator did not cause our problems but it’s existence makes solving them that much harder. The press can hold it’s magnifying glass up to our problems bringing them into focus, illuminating issues heretofore unseen or they can use that magnifying glass to light ants on fire and then perhaps host a week of shows on the sudden, unexpected dangerous flaming ant epidemic.

If we amplify everything we hear nothing. There are terrorists and racists and stalinists and theocrats. But those are titles that must be earned. You must have a resume. Not being able to distinguish between real racists and Tea Partiers or real bigots and Juan Williams and Rick Sanchez is an insult — not only to those people but to the racists themselves who have put in the exhausting effort it takes to hate. Just as the inability to distinguish terrorists from Muslims makes us less safe not more. The press is our immune system. If we overreact to everything we actually get sicker and perhaps eczema.

And yet with that being said I feel good — strangely, calmly good. Because the image of Americans that is reflected back to us by our political and media process is false. It is us through a fun house mirror and not the good kind that makes you look slim in the waist and maybe taller, but the kind where you have a giant forehead and an ass shaped like a month old pumpkin and one eyeball.

So — why would we work together? Why would you reach across the aisle to a pumpkin-assed forehead eyeball monster? If the picture of us were true of course our inability to solve problems would actually be quite sane and reasonable. Why would you work with Marxists actively subverting our constitution or racists and homophobes, who see no ones humanity but their own? We hear every damn day about how fragile our country is—on the brink of catastrophe—torn by polarizing hate and how it’s a shame that we can’t work together to get things done, but the truth is we do. We work together to get things done every damn day!

The only place we don’t is here or on cable TV. But Americans don’t live here or on cable TV. Where we live our values and principles form the foundation that sustains us while we get things done not the barriers that prevent us from getting things done. Most Americans don’t live their lives solely as Democrats, Republicans, Liberals or Conservatives. Americans live their lives more as people that are just a little bit late for something they have to do—often something that they do not want to do — but they do it. Impossible things every day that are only made possible by the little reasonable compromises that we all make.

Look on the screen this is where we are this is who we are. (points to the Jumbotron screen which show traffic merging into a tunnel. These cars—that’s a schoolteacher, who probably thinks his taxes are too high. He’s going to work. There’s another car — a woman with two small kids who can’t really think about anything else right now. There’s another car swinging I don’t even know if you can see it—the lady’s in the NRA. She loves Oprah. There’s another car—an investment banker, gay, also likes Oprah. Another car’s a Latino carpenter. Another car a fundamentalist vacuum salesman. Atheist obstetrician. Mormon Jay-Z fan. But this is us.

Everyone in the cars in D.C. is filled with individuals with strong believe and principles they hold dear. Often principles and believes in direct opposite to their fellow travellers. And yet this million cars have to find a way to squeeze one bye one in a mile long 30 foot wide tunnel, carved underneath a mighty river. Carved By people by the way who had their differences. And they do it. Concession by concession. You go, then I’ll go. You go, then I’ll go. Oh, is that an NRA sticker on your car? Is that an Obama sticker on your car? But thats OK. You go, then I’ll go.

And sure — at some point there will be a selfish jerk who zips up the shoulder and cuts in at the last minute, but that individual is rare and he is scorned and not hired as an analyst. Because we know instinctively as a people that if we are to get through the darkness and back into the light we have to work together and the truth is, there will always be darkness. And sometimes the light at the end of the tunnel isn’t the promised land. Sometimes it’s just New Jersey. But we do it anyway, together. If you want to know why I’m here and want I want from you I can only assure you this: you have already given it to me. You’re presence was, what I wanted.

Sanity will always be and has always been in the eye of the beholder. To see you here today and the kind of people that you are has restored mine. Thank you.

Ich weiß, was Du 2007 getan hast

Kaum fängt die ernsthafte Aufarbeitung von Wikileaks als Phänomen an, verwandelt sich die Plattform in den Schauplatz einer soap opera. Mit Zerwürfnissen, Intrigen und Geheimnissen.

Domscheit-Berg: i already told you up there
Assange: those are the only persons?
Domscheit-Berg: some folks from the club have asked me about it and i have issued that i think this would be the best behaviour
Domscheit-Berg: thats my opinion
Domscheit-Berg: and this is also in light to calm down the anger there about what happened in 2007
Assange: how many people at the club?

Vor einiger Zeit hatte Wikileaks eine verschlüsselte Datei als „insurance“ veröffentlicht. Wenn jemand gegen Wikileaks vorgeht, soll der Schlüssel veröffentlicht werden und alle Geheimnisse würden so bekannt werden. Ein fragwürdiges Unterfangen – zeugt es doch davon, dass Wikileaks auf Dauer Informationen zurückhält. Zudem: eine solche Strategie funktioniert nur bei einem spezifischen Gegner, den Wikileaks allerdings nicht hat. Kein Wunder, dass Daniel Schmitt/Domscheit-Berg damit wenig anfangen konnte, wie auch mit dem sonstigen Geheimdienst-Getöse um Assanges Privatleben.

Nun hat also jemand anders diese Taktik angewandt. Eine ominöse Begebenheit aus dem Jahr 2007 wird ins Gespräch gebracht, die so skandalös ist, dass Julian Assange unbedingt kontrollieren will, wer davon weiß. Ein Geheimnis, das von einem engen Zirkel gewahrt wird und Assange und die Plattform Wikileaks ernsthaft diskreditieren könnte.

Allmählich muss ich sagen: bei dem Kindergarten-Theater fällt die ernsthafte Analyse schwer. Ich freue mich lieber auf die Verfilmung der Wikileaks-Story. Keanu Reeves wird mit weißen Haaren bestimmt gut aussehen.

Ganz unrecht hat er nicht!

Ein Satz, den wir in den letzten Wochen besonders häufig hören: „Ganz unrecht hat er ja nicht“. Doch eins wird dabei übersehen: um ganz und gar unrecht zu haben, muss man sich schon sehr anstrengen.

Nehmen wir zum Beispiel das Lied von Pipi Langstrumpf in deutscher Übersetzung:

Zwei Mal Drei macht Vier
Widdewiddewitt und Drei macht Neune

Die Rechenschritte (2*3 und 4+3) sind falsch, aber das Endergebnis stimmt. 2*3 + 3 = 9. Ganz unrecht hat Pipi also nicht. Möchte man sie dennoch seine Steuererklärung machen lassen? Ich glaube nicht.

Ganz unrecht zu haben ist ein Kunststück. Und so unnötig. Meist reicht es aus, wenn nur einer von 100 Fakten falsch ist, um die 99 übrigen zu entwerten

Letzte Behauptung hab ich zwar erfunden, aber ganz unrecht hab ich damit ja nicht, oder?

Die Debatte ist richtig! Die Fakten nicht so.

Es gibt ja einige, die sagen: egal ob die Thesen von Thilo Sarrazin nicht mehr als ein Aufguss von missverstandenem Infoabfall sind – Hauptsache, die Debatte wird angestoßen. Denn die Debatte ist wichtig und deswegen ist sie auch richtig!

Und natürlich findet sie ihren Wiederhall in der politischen Arena. So sagt Unionsfraktionsvize Michael Fuchs der Rheinischen Post:

Wenn etwa die Kinder nicht in die Kita oder die Schule geschickt werden, dann muss das mit Hartz-IV-Kürzungen sanktioniert werden.

Wenn Kinder nicht in die Kita geschickt werden, ist das die freie Entscheidung der Eltern. Werden die Kinder hingegen nicht in die Schule geschickt, dann ist dies Verstoß gegen die Schulpflicht, was in Deutschland zu Geldbußen oder sogar – ob Hartz IV, Migrant oder Mutter Beimer – zu einem Gefängnisaufenthalt der Eltern führen kann. Die Forderung von Herrn Fuchs ist purer Blödsinn und das weiß er auch. Aber er wird Applaus bekommen, von denen, die immer gerne Sanktionen gegen andere fordern.

Herr Sarrazin hat keine Integrationsdebatte angestoßen, sondern einen Wettbewerb: wer kann am besten Stimmung machen? Wer ist am wenigsten auf Fakten angewiesen? Wir argumentieren nicht, wir verbalisieren Bauchgefühle. Und darauf kann man getrost verzichten.

PS: Oswald Metzger skizziert die Lage bei FOCUS Online so:

Denn die Causa Sarrazin belegt doch auch, dass ohne die Skandalisierung von Missständen, ohne Übertreibung und Polemik kaum eine öffentliche Resonanz in unserer Mediendemokratie zu erzielen ist.

Aber was nutzt alle Resonanz, wenn nur Polemik auf Polemik gestapelt wird? Eine Debatte mag vorhanden sein, aber statt einen kleinen Schritt näher an die Lösung der Probleme zu gehen, sind wir nun drei riesige Schritte zurückgefallen.