Audi: Wir können nur Apps

Gestern abend habe ich ein relativ neues Plakat an vielen Stellen in Köln bemerkt — gut beleuchtet an Bushaltestellen platziert. Audi hat da was ganz Tolles. Kein neues Auto, sondern eine neue App.

Soso — mit der App kann man suchen, finden, merken und orten. Und direkt fahren! (Den Part glaube ich übrigens nicht.) Meine Frage ist: Warum keine Webseite, die sich mit jedem Smartphone ansehen lässt? Warum soll ich mich als Interessent ein Programm herunterladen, das meine ohnehin schon viel zu unübersichtliche App-Liste weiter verstopft, um eine Funktiuonalität zu bekommen, die im Gegensatz zum Browser auf eine einzige Automarke beschränkt ist?

Liebe Werber,

wenn Euer Kunde ganz aufgeregt zu Euch kommt, weil die Kunden verloren gehen, besonders die jungen, zahlungskräftigen und dass sie deshalb ganz, ganz dringen eine App brauchen — dann nehmt sie beiseite. „Ja Herr Audi, Apps sind toll. Aber wir haben da noch etwas besseres im Angebot. Eine Webseite. Gucken Sie Mal: Die kann man sogar auf der Internationalen Raumstation anzeigen. Und im internetfähigen Bordcomputer ihres Konkurrenten. Und Herr Audi — das ist sogar viel billiger…“

Ja…. gut. Der letzte Part wird Euch nicht über die Lippen kommen. Und ihr werdet auch nicht sagen, dass die junge, gutverdienende Zielgruppe schrumpft, weil die Jungen halt nicht mehr so viel Geld verdienen. Und dass man ihnen keine Konsumkredite mehr verkaufen kann. Das weiß Herr Audi schon, deshalb hat er eine Gebrauchtwagenbörse. Ihr werdet auch nicht erzählen, dass die tolle Idee von einem Praktikanten stammt, der im Monat so viel bezahlt bekommt, wie ihr für eine Stunde in Rechnung stellt.

Das werdet ihr nicht tun. Dann macht wenigstens das eine: Baut keine sinnlosen Apps.

Vergesst Armstrong

Der Verband UCI hat heute in einer überraschenden Entscheidung nicht nur die sieben Tour-de-France-Titel des US-Pharmakologen Lance Armstrong für nichtig erklärt, sondern weitergehende Konsequenzen angekündigt. „Lance Armstrong hat keinen Platz im Radsport. So etwas darf nie wieder passieren“, sagte UCI-Präsident Pat McQuaid am Montag in Paris. Und fuhr fort: „In der Tat hat das nie gegeben. Denn eine Tour de France gab es noch nie.“

McQuaid führte aus, dass die Idee einer Rundfahrt über mehr als 3400 Kilometern über Gebirgestrecken bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 40 Kilometern pro Stunde ohne ausgiebige Ruhezeiten seien absurd. „Wenn sie sich an so etwas erinnern mögen, haben sie vielleicht die falschen Pilze gegessen“, sagte McQuaid.

In der Tat sei nicht nur das Radrennen eine kollektive Illusion gewesen — die vielleicht auch auf das Internet mit seinen verlogenen YouTube-Videos zurückzuführen sei — auch das Fahrrad selbst sei zweifellos eine Hoax, eine Lüge. „Zwei Räder hintereinander und obendrauf ein erwachsener Mann“, lachte McQuaid. „Der fällt doch um“. Anwesende Reporter, die der absolut logischen Erklärung widersprachen, wurden aus der Pressekonferenz hinauskomplimentiert und in eine Entzugsklinik eingeliefert.

In einer weiteren Wendung hat der UCI heute den Beginn einer neuen Rennserie angekündigt. Die offensichtlich auf einer Wahnerscheinungen basierende Fahrradtour habe als Vorlage für eine völlig neue Idee gestanden: Eine Radtour quer durch Frankreich, die nicht nur die Vielfalt und den Nationalstolz der Franzosen anspornen könne, sondern zudem die sportlichen Werte des UCI verkörpere. Statt auf die wahnwitzige Idee eines Fahrrads setze der Weltverband jedoch auf ein erprobteres Konzept. Schon 2013 würden die Athleten zu dem bemerkenswerten Rennen aufbrechen — auf nagelneuen Segways. Spontan fiel McQuaid auch auf der Pressekonferenz ein inspierender Name ein. „Ich nenne das neue Rennen die Tour de France.“

Ist es wirklich Internetsucht?

Das Wort geht wieder um. Internetsucht. Exzessive Mediennutzung. Spielsucht. Asiatische Heranwachsende zerstören sich am Bildschirm, Schlaf spielt in der Welt von Warcraft keine Rolle — bis zum Kollaps. Tote Kinder zerlegen die Psyche derer, die am Bildschirm deren Schicksal begaffen. Und sich daran aufgeilen.

Ich mag den Begriff „Internetsucht“ nicht. Als ich vor ein paar Monaten in irgend einem Fragebogen ankreuzen sollte, wie oft ich täglich im Internet bin, kreuzte ich mit gutem Gewissen an: Einmal. Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen.

Habe ich deshalb ein Problem? Ja, klar. Wie unsere ganze Gesellschaft. Erinnern wir uns: Einst meinten Menschen, die Eisenbahn sei unnatürlich, weil die Menschen nicht darauf eingerichtet seien, auf Dauer Geschwindigkeiten über 30 Kilometer pro Stunde zu verarbeiten. (Eine Anekdote, zweifellos.) Nun fahre ich mit 250 Kilometer pro Stunde Richtung Frankfurt und lese dabei die neusten Nachrichten im Internet. Chatte gar. Gegen die Fahrtrichtung. Das menschliche Gehirn verträgt mehr als ein bisschen Beschleunigung. Warum sollte man ihm nicht einen Trichter einführen und oben das gesamte Wissen der Welt einfüllen? Und all die Lügen, all die Missgunst, all das Geschwafel dieser Welt hinzu?

Die Rede ist von Internetsucht. Sucht zerstört. Verdrängt die wichtigen Aspekte unseres Lebens. Die Realität. Nichts macht mehr Sinn, nur die Suche nach dem Stoff. I can take about an hour on the tower of power. As long as I gets a little golden shower. Der Kick. Der Kick. Und nochmal der Kick. Nichts spielt eine Rolle. Außer dem Kick.

Ist das Internet der Kick? Vielleicht ein wenig. So wie Geschwindigkeit manche Leute in seinen Bann zieht, ist auch das Internet eine existentielle Erfahrung. Ich habe nicht viel Erfahrung mit Egoshootern, aber was mich mit am meisten faszinierte: Ich kann mir Menschen spielen, die durch einen mächtigen Atlantik von mir getrennt ist. Und schon eine Zehntelsekunde reicht aus, um das Spiel zu zerstören. Der präzise platzierte Kopfschuss klappt nicht mehr, weil selbst Lichtgeschwindigkeit auf 8000 Kilometern hin und her, mit ein paar Routern dazwischen, das Ergebnis verfälscht. Ein gewaltiger Kick. Bin ich spielsüchtig? Nein. Mein letztes Spiel ist Monate her. Einen neuen Rechner, der die geilsten Spiele tatsächlich behrrscht, den kaufe ich nicht.

Ist es wirklich Onlinesucht, die ein Problem ist? Oder geht es um etwas anderes? Wenn ich mich mit jemanden streiten will, finde ich im Netz immer jemanden. Die Homophoben, die Politiker ohne Amt, die verlogenen Selbstvermarkter, die Schlangenöl-Verkäufer. Gegen all die hilft nur eins: Angewandte Ignoranz. Der Mensch kann nur so viele Kämpfe kämpfen. Er kann nur mit so viel Konflikt fertig werden. Und irgendwann muss man sagen: Schluss für heute. Nervt nicht. Fenster zu.

Und wo ist das so einfach wie im Internet? Den Tuba spielenden Nachbarn kann man nicht so einfach ausblenden, wie den Lügner, der im Netz verbreitet, man könne mit seinem Produkt zum Millionär werden, er habe die Schuldigen für unser aller Unglück gefunden, sie könne beweisen, dass zwei plus zwei
fünf ist. GNARGH! Spiel Tuba, aber bitte verbreite nicht so einen Unsinn. Spiel Xylophon in meinem Schlafzimmer. Das Best Of von Modern Talking und den Flippers. Die ganze Nacht. Ich werde ruhig schlafen, wenn Du nicht zur Tastatur greifst und diesen Mist verbreitest. Und sogar Leute findest, die Dir glauben.

Vielleicht gibt es gar kein Internetsucht. Vielleicht müssen wir ein wenig hinter die Router gucken. Denn eins sehe ich ganz deutlich. Den Reiz an Konflikten. Und im Netz — zumindest in der Regel — haut niemand einem anderen die Zähne ein, weil er Blödsinn erzählt hat. Weil er hässliche Bemerkungen über Dein Wesen machte, Deine Freundin, Deine Werte. Das Netz ist eine Konfliktmaschine ohne Folgen. Kommt mit zur Facebookparty, wir sind Tausende. Und keiner wird uns persönlich beachten. Abstrafen. Lächerlich machen. Denn wir sind vielleicht wenige, aber dennoch mehr als einer.

Vielleicht sollten wir uns nicht mehr nach Online-Sucht umschauen. Denn Online ist nicht gleich „virtuell“. Ein furchbarschauriges Wort, weil es so oft verbogen und entkernt wurde. Online ist Realität. Und die Konflikte dort sind Konflikte. Onlinesucht? Konfliktsucht! Wir rennen gegen die virtuelle Mauer, weil es einfach geht. Niemand schlägt uns die Zähne ein, weil wir unter Fantasienamen die Sau rauslassen. Zumindest fast niemand.

Diese Sucht hat nichts mit dem Internet zu tun. Sicher: Das Internet lässt Konflikte so einfach erscheinen. Doch die Datenleitungen sind nur das Medium. Was sind wir für eine gesellschaft, die Konflikte nur lösen kann, wenn einder dem anderen die Zähne einschlagen kann. Selbst das hält viele nicht ab. Ich streite. Ich siege. Oder: ich verliere. Auf alle Fälle: Ich lebe.

Internetsucht? Konfliktsucht? Die Eisenbahn fährt mit 400 Kilometern pro Stunde und beschleunigt so langsam auf ein Drittel Lichtgeschwindigkeit. Unsere Hirne summen. Und wir brauchen einen Weg, damit fertig zu werden.

Sieben Tage Pause

Sieben Tage habe ich nicht darauf geachtet, dass meine Sätze in 140 Zeichen passen.

Sieben Tage habe ich Instant Messages nur per Schall-Nearfield-Signalen gesendet.

Sieben Tage habe ich keinen Shitstorm gesichtet, allenfalls Pferdeäpfel.

Sieben Tage habe ich keine Webcomics gesehen und sie nicht vermisst.

Sieben Tage war mir Facebook ganz egal.

Sieben Tage habe ich keinen Catcontent gesehen, nur Katzen gestreichelt.

Sieben Tage war ich weg. Nun bin ich wieder da.

Die Urheberrechtsfriktion der Piraten

Da ich grade schon beim Thema Schramm-Buch bin: Nachdem sich beide Seiten genug angeschrien haben, könnte man ja nun in die Sachdiskussion übergehen. Die Kritiker Schramms haben natürlich recht damit, dass es einer prominenten Vertreterin der Piratenpartei gut angestanden hätte, den Zugang zu ihrem Werk freier zu gestalten. Gleichzeitig haben ihre Unterstützer damit recht, dass man auch dann wenn man Veränderungen durchsetzen will, irgendwie im bestehenden System leben muss. Konkreter: Verlage wären sicher nicht abgeneigt, ein Prestige-Projekt unter Creative Commons zu veröffentlichen. Dann aber hätte der Vorschuss für das Buch nahe Null gelegen. Und irgendwie müssen auch Piraten ihren Lebensunterhalt finanzieren.

So hatte Wikimedia Deutschland auch ein Buch im etablierten Verlag Hoffmann und Campe unter Creative-Commons-Lizenz herausbringen können, dazu habe sogar ich einen meiner Texte gestiftet. Das Projekt erhielt ein wenig Anfangsapplaus, die versprochene erweiterte Digitalversion ist jedoch nie erschienen. Schließlich habe ich das Buch selbst eingescannt und gemäß der Lizenz kostenlos veröffentlicht.

Heute hat der Landesverband der Piratenpartei einen laut eigener Mitteilung mutigen Vorschlag für das Urheberrecht, der nach ihrer Auffassung die Quadratur des Kreises schafft: Einerseits sollen die Rechte des Urhebers gestärkt werden, andererseits sollen Nutzer entkriminalisiert werden. Zentraler Punkt deshalb: Privater Dateitausch soll künftig legal sein.

Nun gibt es wohl kaum jemanden, der annimmt, der Verlag hätte das Buchprojekt von Julia Schramm auch nur angefasst, hätte es jeder kostenlos herunterladen können. Die Zielgruppe ist netzaffin, hat Tablets und Kindles. Zudem macht das Netz macht keinen großen Unterschied zwischen privaten und nicht-privaten Dateientausch: Wenn ich die Datei googlen kann, dann ist es egal, wer das Buch denn hochgeladen hat und wie viele Werbebanner auf der Seite sind. Creative Commons hat es in meinen Augen nie geschafft vernünftig zwischen kommerziell und unkommerziell zu unterscheiden – ach deshalb wird die Abschaffung der NC-Klausel immer wieder gefordert. Die von den Piraten als Alternative genannten Abomodelle gibt es schon in Form der mächtigen Plattformanbieter, die sich als Tummelplatz der Netznutzer anbieten und überall Geld kassieren, wo sie es problemlos können. Die Masse verdient das Geld für Google, Apple, Amazon — der Großteil der Contentlieferanten sieht jedoch nie auch nur einen Cent, stattdessen allzu oft ein Fehlermeldung, dass ihr Content zum Schutz der Konzerninteressen gesperrt wurde.

Nun haben die Piraten vorgeschlagen, den großen Schalter umzulegen. Julia Schramm und nach und nach alle anderen Autoren bekommen in der Folge keine Vorschüsse mehr — und davon leben nun einmal die meisten Buchautoren in Deutschland. Es ist eine in meinen Augen elementare Existenzberechtigung der ach so überkommenen Buchverlage. Man könnte sie freilich durch Kickstarter-Plattformen ersetzen, die Paul Coelho sicher Millionen und Jeff Jarvis Hunderttausende einspielen werden. Doch wie sieht es für Publizisten wie Julia Schram aus? Immerhin: Zumindest ein MacBook bekäme sie wohl auch sicher schnell.

Dies ist nicht das Ende der Diskussion. Es ist der Anfang. Wie geht es weiter nach dem großen Schalter umlegen?

Die Dauer-Kampagne gegen jeden

Thomas Knüwer hat die geheime Medienkampagne gegen die Piraten aufgedeckt und bekommt dafür von den Piraten reichlich Applaus. Das entschädigt ihn für die kleinen Nachteile. Zum Beispiel kann er eine Woche keine Socken tragen, weil sich seine Zehennägel ein groteskes Eigenleben entwickelt haben, als er schrieb, dass sich die Kanzlerin auch wegen der Piraten mit Startup-Unternehmern trifft. Er weiß das besser, aber ihm fiel wohl grade nichts ein, um den Einfluss der Piraten auf das etablierte System zu dokumentieren.

Aber zum eigentlichen Thema: Wie könnte man Thomas Knüwer nicht zustimmen, dass eine Medienkampagne gegen die Piraten im Gange ist? Man muss sich nur die grotesken Auswüchse der Berichterstattung um das Buch einer prominenten Piratin ansehen, dieses Stille-Post-Spiel, bei dem jeder noch ein paar starke Adjektive hinzufügt, um die Verlogenheit der Piraten im Allgemeinen und der der Frau Schramm im Besonderen auszudrücken. Und dann werden sogar Nachkarter zum Thema veröffentlicht, wie gemein doch die Boulevardmedien waren, um dann deren Kraftausdrücke brühwarm zu zitieren.

Nun — man kann einwenden: Diese Kampagne wird derzeit gegen jeden geführt. Egal ob Bettina Wulff, Jenny Elvers-Elbertzhagen oder Mitt Romney — jeder wird in dieser Medienmaschinerie nach dem fast gleichen Rezept verhackstückt. Die erste Welle von Meldungen greift einen vermeintlichen Skandal auf, dann kommen die vernichtenden Kommentare und Analysen, dann ein paar neue Artikel über neue Interviewäußerungen und schließlich die Gegenanalyse, die gegen den Strom schwimmt, die den Medienzirkus oder das jeweilige Establishment aufs Korn nimmt. Manche Akteure werden gleich von der ersten Medienwelle begraben, andere surfen auf ihnen. Wasser bekommt aber jeder zu schlucken.

Man könnte fast seine Uhr danach stellen: Alle drei oder vier Stunden muss ein ganzes Set neuer Aufmacher auf die Seite. Im Internet des schnellen Klicks gibt es nur noch Boulevardmedien. Denn nach der klassischen Definition gab es die Boulevardmedien, die jeden Tag mit schreinden Schlagzeilen ihre Käufer aufs Neue finden müssen. Und dann gab es die Abonnementzeitungen, die ihren festen Leserstamm hatten und deshalb eben nicht auf allzu viel Geschrei auf der ersten Seite angeweisen waren. Online-Medien sind solche Boulevardmedien. Und sie verarbeiten die komplexe Realität, wie es ihren Arbeitsabläufen entspricht — und die werden demnach gestrickt, was Klicks bringt.

Medien in der Bundesrepublik waren immer Tendenzbetriebe. Man konnte formaljuristisch keinen Autoschlosser feuern, weil er Sozialdemokrat war, einen Redakteur konnte man jedoch aus weltanschaulichen Gründen relativ einfach entfernen. Und so liegt der Verdacht immer nahe, dass ein empörender Artikel immer auch der Weltanschauung des Verlegers, des Herausgebers, des Chefredakteurs entspricht. Doch sehen wir uns etwas weiter um: Die Medien drucken neben entsetzlich verpeilten Feuilletonartikeln, die über das Böse des Internets, der Piraten und allem Neuen schwadronieren auch Gastartikel und sogar regelmäßige Kolumnen der Piraten.

Denn Medien lieben die Kontroverse. Fast nichts bringt den Leser mehr dazu zu einem Medium zu greifen, als ein satter Konflikt. Jemanden, den wir eh nicht leiden konnten, macht oder sagt Blödsinn. Gehen wir achselzuckend an einer solchen Gelegenheit vorbei oder riskieren wir doch einen Klick? Meine Timeline bei Twitter lässt da kaum Zweifel zu: Jede Woche lese ich entsetzte Beschwerden über das Niveau der Diskutanten bei Günther Jauch und dennoch schalten viele jede Woche von Neuem ein. Und auch dieser Blogbeitrag funktioniert nach dem Prinzip: Im ersten Absatz etwas Kontroversen-Namedropping, dann eine starke These, die Gegenthese und ein paar mikrige Links und Beispiele, die meine subjektive Sicht als Trendanalyse qualifizieren sollen. Leute klicken gerne sowas.

Was machen wir nun damit? Kann ich Euch sagen, dass es keine Kampagne gegen die Piraten gibt? Sicher nicht, aber das hängt sehr davon ab, was man unter Kampagne versteht. Dass SIE (TM) Piraten Buchverträge anbieten, um die Partei zu schädigen, halte ich jedoch für eine hirnverbrannte Behauptung. Nicht weil die Buchverleger so edle Menschen wären. Sondern weil sie eine solche Aktion samt Aufteilung der Kosten derzeit eher nicht hinbekommen würden. Und: Die Piraten liefern genug Kontroverse frei Haus. Boulevardmedien müssen sie geradezu lieben.

tl;dr: Medien sind so. Wenn ihr sie ändern wollt, müsst ihr mehr darauf achten, wohin ihr klickt und was ihr ihnen zurückgebt.

Ich bin für Meinungsfreiheit, ABER…

  • …aber DAS muss ja wirklich nicht sein.
  • …aber sie muss hintenan stehen, wenn Leben gefährdet sind.
  • …aber der Islam! DER ISLAM!
  • …aber vielleicht sollte man sie umbenennen in „Recht ein gewaltiges, dummes Arschloch zu sein“.
  • …aber wenn sie auf andere Meinungen trifft, gibt das Ärger.
  • …aber im Internet kennt sie zu wenig Grenzen. Offline war alles besser.
  • …aber wäre es nicht schön, wenn wir uns ab und an über Fakten unterhalten?
  • …aber wie alle anderen Grundrechte ist sie nicht schrankenlos.
  • …aber ich habe Angst davor, was passieren wird.
  • …aber Leute wie ich können sie uns nicht leisten.
  • …aber wer hört uns denn zu, wenn wir nur meinen und nichts verbrennen?
  • …aber ich bin müde. Muss ich zu allem eine Meinung haben? Kann nicht Mal jemand anderes für mich meinen? Was meint Ihr?

Begriffsproblem Kinderpornografie

Immer Mal wieder gibt es die Forderung, dass man in der öffentlichen Diskussion nicht „Kinderpornografie“ schreiben solle, sondern eben „Dokumentation von sexueller Gewalt“. Beide Begriffe sind in zentralen Aspekten richtig und falsch.

Die Kritiker des Begriffs „Kinderpornografie“ kritisieren, dass das Wort die unterschiedlichen Phänomene „Pornografie“ und „Kinderpornografie“ gleichstellt. Da ist sicher etwas dran, wenn man andere Ausdrücke wie „Kinderportion“, „Kinderschokolade“, „Kinderstreitigkeiten“ vor Augen hält. Demnach wäre „Kinderpornografie“ sozusagen eine kleinere, weniger ernst zu nehmende Variante von Pornografie. Ich habe auch schon die Variante „Kiddie Porn“ gehört, die ich als eindeutige Verharmlosung empfinde.

Wenn ich auch zustimme, dass der Begriff „Kinderpornografie“ alleine nicht beinhaltet, dass es sich hier um eins der schlimmsten Verbrechen in unserer Gesellschaft dreht, ist dies alleine jedoch nicht Grund den Begriff abzulehnen. So werden Begriffe wie „Kindesmissbrauch“ oder „Kindeswohl“ eben nicht als Verkleinerung des allgemeinen Begriffs benutzt, das angehängte Wort wird sogar verstärkt.

Weg von der Wortklauberei: Ein weiteres Argument ist, dass Pornografie an sich legal und vielleicht sogar positiv belegt sei. Dem würde ich mich auch nicht ganz anschließen. Zwar hat die Playboyisierung der Medienwelt, die Hugh Hefners Villa als Disneyland für Erwachsene feiert, sicher zu einem schiefen Bild des Gewerbes geführt, das solche Dinge wie Zwangsprostitution überdeckt. Auch Ausdrücke wie „voll porno“ negieren ein Problem.

Dennoch ist der zentrale Aspekt von Pornografie nicht selbstbestimmte Sexualität, sondern eben die Darstellung von Sex mit dem Ziel den Betrachter sexuell zu erregen. Wer Amateurporno auf YouPorn ansieht, woher weiß er, dass es sich dabei tatsächlich um einvernehmliche Akte handelt?

Der Ausdruck „Dokumentation sexueller Gewalt“ hat sicher den Vorteil, dass unmissverständlich klar wird, dass es hier um Gewalt, um ein Verbrechen geht. Doch das Wort „Dokumentation“ ist extrem irreführend. Es impliziert, der dokumentierte Vorgang werde ohnehin stattfinden, was im Fall der organisierten Kinderpornografie-Beschaffung und -Verteilung oft nicht so ist. Auch wenn nicht immer monetäre Faktoren entscheidend sind — der viel zitierte Milliardenmarkt existiert wohl nicht — Kinderpornografie ist auch Währung innerhalb einer Szene, die sich auch über das Internet zusammenfindet.

Gleichzeitig negiert der Begriff „Dokumentation“ den psychischen Effekt beim Betrachter. Die meisten Konsumenten von Kinderpornografie betrachten die Filme und Fotos nicht, um dem Verbrechen auf die Spur zu kommen — diejenigen, die es tun, leiden oft unter enormen psychischem Stress. Es geht um sexuelle Triebe, um Befriedigung und leider auch um Triebverstärkung. Kriminologen haben gezeigt, dass sich zumindest ein Täterkreis an den Filmen und Fotos vor tatsächlichen Übergriffen auf Kindern geradezu psychisch aufgerieben haben. Kinderpornografie macht etwas mit uns und die Veränderung liegt unter den Ebenen unseres Wesens, über die wir rationale Kontrolle ausüben. „Dokumentation“? Eher nicht.

Was bleibt also zu tun? Wir haben zwei unperfekte Begriffe. In meinen Augen sollte man daher beide in den entsprechenden Kontexten verwenden und ihre Defizite dabei nicht außer acht lassen.

Stellt echte Fragen und gebt echte Antworten

Das derzeitige Diskursklima gefällt mir nicht. Wenn Kommunikation Gräben aufwirft statt zu verbinden, wenn Leute mehr übereinander reden statt miteinander, dann ist dies nicht gut. Binsenweisheiten.

Doch was kann man dagegen tun? Das einzige Gegenmittel, das mir einfällt: Mehr lohnende Diskurse führen. Doch wie macht man das? Ein paar Ratschläge, die auch ich mehr beherzigen will.

  • Stell echte Fragen, nicht nur rhetorische. Du magst noch so viel zum Thema wissen — alles weißt Du nicht.
  • Im Gegenzug: Beantworte echte Fragen. Je überflüssiger Dir eine Frage vorkommt, um so einfacher solltest Du sie beantworten können. Kannst Du es nicht, war die Frage wohl nicht so dumm.
  • Lies, bevor Du schreibst. Im Zweifel hat schon jemand Deinen Punkt gemacht und Du kannst bei ihm noch einen Fakt beitragen.
  • Du kannst nur mit Leuten diskutieren, denen Du Respekt entgegenbringst. Wenn Du das nicht kannst, diskutiere nicht. Selbst wenn Du in der Sache noch so recht haben magst, mit Beleidigungen setzt Du dich nur selbst ins Unrecht.
  • Sei nicht faul. Viele Fragen lassen sich in Minuten klären, Links zu Deinen Faktenbehauptungen sind im Internet kein Luxus.
  • Deine Meinung ist Deine Meinung, schreib das auch ruhig dazu. „Ich bin der Überzeugung, dass“, „Ich glaube“, „IMO“ und so viele andere Formulierungen helfen Dir dabei und können Missverständnisse vermeiden.
  • Konzentriere Dich nicht alleine auf die Fehler anderer. Wenn jemand einen langen Beitrag mit Richtigem geschrieben hat, rede nicht alleine über den einen Fehler, den Du siehst.
  • Ein gereizter Tonfall gebiert weitere gereizte Tonfälle. Geht eine Runde um den Block, sieh Dir einen guten Film an, rede mit Freunden. Die Diskussion rennt nicht weg. Und wenn doch — was soll’s?
  • Meta ist Schmeta. Halte Diskussionen über Art und Form der Diskussion auf einem Minimum.
  • Wenn Du Dich zuerst fragst, welchem Lager Du einen Mitdiskutanten zuordnen musst, tritt einen Schritt zurück. Jemand kann ein Argument haben und dennoch zu einer anderen Grundüberzeugung als Du gekommen sein.
  • Beachte das Umfeld. Ironie und Analogien sind nicht unbegrenzt übertragbar. Erst recht nicht, wenn man Dich nicht kennt.
  • Vergiss den Spaß nicht. Ein Forum ist kein Doktoranden-Seminar. Und wer austeilt, sollte auch einstecken können.
  • Es gibt einen richtigen Zeitpunkt, um eine Diskussion zu verlassen. Es ist meist nicht der, wenn Du das letzte Wort hast.