Kasse machen mit Khashoggi

Zugegeben: Ich bin ein wenig sauer. Aber durchaus aus Gründen.

Am Sonntagabend spülte mir Twitter den Hashtag #WeHearYouKhashoggi in den Aufmerksamkeitshorizont – verbunden mit einer merkwürdigen Story: Die New York Times hatte eine Anzeige abgelehnt, die Solidarität mit dem ermordeten Kolumnisten der Washington Post ausdrücken sollte. Mein Interesse war geweckt, ich klickte auf den Link.

Er führt zum Marketing-Blog einer Firma, die VPN-Zugänge verkauft.

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Die Anzeige zeigt eine stilisierte Hand, deren Finger abgetrennt wurden – blutüberströmt. Darüber steht #WeHearYouKhashoggi – und direkt darunter das Logo des Anbieters. Ganz unten nochmal die Internetadresse des Anbieters — eingebettet in den furchtbar entstellten Arm.

Und dazu kann ich nur sagen: #FuckYouPrivateInternetAccess #FuckYou #SeriouslyFuckYou.

Ich habe von der Firma noch nie gehört. Es mag sein, dass sie sonst gute Arbeit leistet und vielleicht in diesem Fall sogar aus guter Absicht gehandelt hat. Was diese Anzeige jedoch ist: Eine Beleidigung. Sie ist schamlos, sie ist sensationalistisch und sie dient augenscheinlich nur einem Zweck: VPN-Pakete zu verhökern. Der Journalist, den sie vermeintlich ehren soll, kommt hier nur als entstelltes Gliedmaß vor.

Dass die Washington Post die Anzeige abgelehnt hat, hätte den Verantwortlichen zu denken geben sollen. Tat es aber nicht. Sie gingen stattdessen zum nächsten Medium. Und erwischten dabei irgendjemanden beim Verlag der New York Times, der die nächsten Monate mit einer anderen Aufgabe betraut werden sollte.

Als der Anruf oder die E-Mail der New York Times kam, dass sie den Auftrag stornieren müssen, obwohl schon 80000 Exemplare mit der Anzeige gedruckt und ausgeliefert worden waren — das wäre ein erstklassiger Anlass gewesen nochmal nachzudenken. Es ist nun schon das zweite Medium, das uns sagt, dass unsere Anzeige unzumutbar ist — und dieser Verlag hat sich deshalb sogar in beträchtliche Unkosten gestürzt. Haben wir einen Fehler gemacht?

Aber nein.

Stattdessen versuchte die Firma die Absage der Anzeige zu skandalisieren. Sie setzten einen Blogpost auf, indem sie nicht nur totale Unkenntnis vortäuschten, warum denn die Anzeige abgesagt wurde. Sie setzten auch die Statements von Leuten darunter, die bereits von der Firma ab und an bezahlt werden, für das Marketing-Blog zu schreiben, darunter der Ur-Pirat Rick Falkvinge und der IT-Journalist Glyn Moody. Die werden damit zu Charakterzeugen der Anzeige, die sie vermutlich im Vorhinein nicht gesehen haben — und der Blogbeitrag wird zu einer Attacke auf die New York Times. Wie konnte die Grey Old Lady nur zu diesem bedauerlichen Fehlschluss kommen?

Auch wenn irgendjemand in der Firma gedacht hat, es wäre toll sich solidarisch mit ermordeten Journalisten zu zeigen — das Ergebnis ist das Gegenteil. Jeder unbefangene Leser muss meinen, wenn er die Anzeige sieht: Die tollen Produkte dieser Firma hätten verhindert, dass Menschenrechte auf diese entsetzliche Weise verletzt werden. Das ist jedoch lächerlich. Ich glaube es ist nicht zu vermessen zu sagen: Jeder in der arabischen Welt, der Dissenz ausdrücken will, kennt VPNs bereits. Khashoggi kannte sie ganz sicher. Das Ergebnis: Er wurde ermordet. Ein anderer Aktivist ging grade an die Presse, dass sein Handy gehackt wurde und seine Brüder verhaftet wurden. Was hilft ein VPN da? Gar nichts. Ein dritter wurde verhaftet? Private Internet Access? Macht Euch nicht lächerlich.

Als ich mich auf Twitter beschwerte, antwortete die PR-Abteilung, dass lediglich das Timing etwas aus dem Ruder gelaufen sei. Man habe nur vorgehabt, Khashoggi unter dem Hashtag zu ehren. Und wieder muss ich sagen: Bullshit! Hätte man tatsächlich Wert darauf gelegt Khashoggi zu ehren, wäre nicht als einziges die Homepage der Firma prominent gefeatured. Es gibt keine vorbereiteten Inhalte, es gibt keine Zusammenarbeit mit irgendeiner Journalistenorganisation, keinen Link zu den gesammelten Werken Khashoggis. Die Washington Post, die tatsächlich grade die gesammelten Werke von Khashoggi veröffentlicht, hat der Marketing-Abteilung eine Absage erteilt. Sich tatsächlich mit Khashoggi zu solidarisieren — das hätten alles die Social-Media-Wichtel erledigen müssen. Sponsored By Your Fucking VPN-Dealer.

#FuckYou #SeriouslyFuckYou

Den Datenschutz mit dem Klingelschild ausschütten

Es gibt viel an der Datenschutz-Grundverordnung zu kritisieren. Mit gutem Recht. Zum einen: Wir sind mit der Umsetzung ein bis zwei Jahre im Rückstand. Viele Chancen wurden verschenkt. So hätte ich mir gewünscht, dass ich meine Datenschutzerklärung nicht auf der Seite einer Anwaltskanzlei zusammenklicken musste, so etwas hätten nun wirklich die Datenschutzbehörden anbieten können. Und dann hätten sie diese Datenschutzerklärung maschinenlesbar machen können, so dass Nutzer ihre Daten tatsächlich verwalten können, statt nur stumpf sechs Seiten Text wegzuklicken. Ich wünschte die Datenschutzbehörden hätten Dark Patterns vorhergesagt und Richtlinien gegeben.

Diese ganze Aufregung um Klingelschilder zusammengefasst: ES GIBT KEIN VERDAMMTES PROBLEM MIT DEN VERDAMMTEN KLINGELSCHILDERN! Natürlich kann jeder seinen Briefkasten beschriften. Und natürlich kann dies auch von Hausmeistern übernommen werden, damit das Ganze sauber aussieht. Wir lieben saubere Klingelschilder. Wenn eine Wohnungsgesellschaft 15000 Wohnungen quer durch die Stadt automatisch beschriften will, kann man sich mal Gedanken machen. Zum Beispiel: Die Mieter fragen, was denn draufstehen soll. Erscheint Euch das zu kompliziert?

Was für persönlich mich eher ein Problem ist: Ich wohne in einem Haus mit verdammt vielen Wohnungen. Wie zunehmend viele Menschen. Trotzdem haben sich Versender bis heute nicht angewöhnt, ihre Adressformulare so einzurichten, dass man seine Wohnungsnummer eingeben kann. Ein Elektroversender hat mir tatsächlich geraten, ich soll die Wohnungsnummer doch in irgendein anderes Feld schreiben. Hallo ich bin Torsten Wohnungsnummer Kleinz 2718. Nur wurde das andere Feld auf dem Formular für den Lieferfahrer abgeschnitten. Are you kidding me??? Hättet ihr das nicht fixen können, als ihr die DSGVO umgesetzt habt?

Dass sich BILD und Co unqualifiziert und polemisch über die DSGVO mokieren — geschenkt. Ich bin jedoch verwundert, wie schnell auch andere Leute quasi alles vergessen, was sie zu Datenschutz mal gehört haben und flugs im Ton der vermeintlichen Vernunft in die Ecke der Ignoranz abschweifen, weil es eben grade günstig scheint.

Dieser Kommentar auf FAZ.Net gehört dazu.

Ein unbehebbarer Fehler ist die Konstruktion des Datenschutzrechts: Es verbietet praktisch sämtliches Hantieren mit persönlichen Daten. […]Aus dieser Strenge spricht der Geist des Volkszählungsurteils: Das Bundesverfassungsgericht erblickte in jeder Information des Staates über die Bürger ein Risiko. Dieses Konzept ungefiltert auf die Wirtschaft auszudehnen war ein Fehler.

Nein, das ist kein Konstruktionsfehler. Denn ist der verdammte Sinn des Ganzen. Ein Datenschutzrecht, das sich nicht auf Konzerne erstreckt, wäre schlichtweg kein Datenschutzrecht. Und es würde auch die Schutzrechte gegen den Staat abschaffen. „Ach, wir können nicht die Wohnung von X abhören? Kein Problem — fordern wir das Protokoll beim Google, Facebook oder dem intelligenten Stromzähler an.“

Und:

Allein Deutschland hat 18 Datenschutzbehörden und mindestens so viele Rechtsauffassungen. Das ist unzumutbar.

Das wäre unzumutbar… und ist falsch. In den meisten Fragen liegen die Datenschützer ganz eng beisammen – wenn es in einzelnen Fragen einen Ausreißer gibt, dann ist das frustrierend, aber halt immer noch ein Ausreißer. Eine Reduzierung der Zahl der Datenschutzbehörden würde hier leider auch gar nichts helfen — denn die Regeln müssen nun auch durch Gerichte interpretiert werden. Und wer sich mal mit deutschen Landgerichten beschäftigt hat, weiß: Das wird noch um einiges frustrierender und zeitraubender.

Richtig ist: Viele kritische Fragen wurden verschleppt. Dass in letzter Minute erst ein Konsens zum Nutzerkonsens gefunden wurde – unzumutbar. Aber bisher ist das große Problem ausgeblieben.

Es bleibt die Verwirrung der Bevölkerung. Eltern bestehen plötzlich darauf, dass Bilder ihrer Kinder bloß nicht erscheinen sollen. Oder im Gegenteil: Sie bestehen auf Fotos. Das wirkt lächerlich — ist aber auf gewisse Weise notwendig. Denn dass Privatfotos plötzlich in eine bereite Öffentlichkeit dringen und damit nicht mehr kontrolliert werden können, ist für viele ein neues Phänomen. Ich sehe alltäglich auf sozialen Medien, wie ein Konsens gesucht wird, damit umzugehen. So haben mittlerweile viele Eltern für ihre Kinder eine Art Codenamen ersonnen: „Der Große“, „Kind 2“ oder „der Schnuppel“. Dabei ist es nicht notwendig, dass diese Leute Angst haben, dass ihr Kind entführt wird, nur weil jemand den vollen Namen weiß. Es ist schlichtweg eine Linie im Sand. Ich weiß, dass es da Probleme geben könnte. Ich überblicke nicht, welche Konsequenzen mein Handeln haben kann. Also bin ich lieber vorsichtig.

Die Datenschutz-Grundverordnung wird uns in den kommenden Jahren noch viel Frust bescheren. Was jedoch fehlt: Eine grundsätzliche Alternative. Jetzt einfach die Augen zu schließen und die ignorantesten Standpunkte aufzuhübschen, ist nicht hilfreich. Den Datenschutz mit dem Klingelschild auszuschütten – das wäre einfach dämlich. Verdammt dämlich.

Der wütende Radfahrer

HALT! STOP! BIST DU DENN BLIND???“

Ich bin ja eigentlich ein relativ entspannter Verkehrsteilnehmer. Egal ob zu Fuß, im Auto oder auf dem Fahrrad — mir eilt es in der Regel nicht besonders. Ich muss niemanden die Vorfahrt nehmen und solange jemand blinkt oder seine Absicht sonst kundtut, lasse ich ihn gerne vor.

Heute morgen wurde ich ganz plötzlich sehr unentspannt. Ich hatte einen Termin am Mediapark und fuhr per Rad dahin. Es war ein wenig frisch, aber sonnig — haufenweise Radfahrer waren unterwegs. Am Mediaparkt dann nahm uns ein LKW beim Rechtsabbiegen in die Spichernstraße die Vorfahrt — soweit normal. Es gibt keinen besonderen Grund sich aufzuregen. Mir wird als Radler andauernd die Vorfahrt genommen. Es dauert dann halt zehn Sekunden länger. Wir müssen halt um den LKW herumfahren. Der war mittlerweile auf Geh- und Radweg zum Stehen gekommen. Wir haben uns dran gewöhnt. Doch dann legte der LKW den Rückwärtsgang ein und setzte unvermittelt zurück — direkt auf die zwei Radfahrerinnen zu, die vor mir fuhren und denen der LKW wenige Sekunden zuvor die Vorfahrt genommen hatte.

Vor dem inneren Auge sah ich schon, was in Zeitungen wie dem Tagesspiegel in letzter Zeit immer wieder geschildert wird: Ein gestürztes Rad, ein Mensch am Boden, Verletzungen, gegen die kein Radhelm hilft. Doch zum Glück hat mich der LKW-Fahrer gehört und stoppte grade noch rechtzeitig. Wenige Zentimeter bevor er die erste Frau erwischt hätte.

„BIST DU DENN VOLLKOMMEN BESCHEUERT???“

So ein Adrenalinstoß am Morgen ist wirksamer als Kaffee. Und er ist bewusstseinsbildend. Früher habe ich mich nie als Radfahrer definiert. Als ich nach Köln kam, war ich Student. Studenten fahren Fahrrad. Später war ich Kölner. Kölner fahren Fahrrad. Und jetzt: Hat mich der LKW-Fahrer zum Radfahrer gemacht?

Seit einigen Jahren gibt es in Köln die Aktion Critical Mass. Einmal pro Monat treffen sich hunderte oder gar tausende Leute mit ihren Rädern und radeln in einer riesigen Kolonne durch die Stadt. Über die Ringe, durch den Rheinufertunnel, über die Brücken. Auf der Straße und nicht auf engen, schlecht ausgebesserten Radwegen. Es ist einerseits eine Kundgebung, eine Demonstration einer Gruppe, die bisher einfach kaum wahrgenommen wurde. Leute, die bisher halt um den LKW herumgefahren sind und glücklich sein mussten, wenn er denn rechtzeitig bremste. Sie fordern nun ihr Recht als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer ein.

Sammelt Euch

Gleichzeitig wirkt das Event auch als interne Sammlungsbewegung. Leute definieren sich selbst als Radfahrer. Die meisten radeln aus Spaß mit, aber ein kleiner Teil geht den Weg, den viele Aktivisten gegangen sind. Sie suchen den Dialog mit der Verwaltung, sie veranstalten Konferenzen, sie planen kleine Aktionen, um wild parkende Autos sichtbar zu machen. Sie dokumentieren mit einer Helmkamera, wie die vermeintlich sicheren Radwege durch scheinbar nichtige Verkehrsverstöße zu Gefahrenzonen werden.

Mit dieser Identitätsfindung gibt es aber auch noch einen Effekt: Ich fühle mich nicht mehr ganz so wohl auf dem Rad. Die vielen Kleinigkeiten, an die ich mich gewöhnt hatte, erscheinen mir nicht mehr selbstverständlich. Eben zum Beispiel kam ich an einer Ampel vorbei, ich hatte grün. Ein Fußgänger will augenscheinlich bei Rot gehen, schaut die Straße lang und sieht, dass kein Auto kommt. Er sieht auch mich. Er wägt kurz ab und läuft mir genau vor das Rad. An einer Stelle, an der ich wegen neben mir verlaufender Straßenbahngeleise nicht gut ausweichen kann. Früher hätte ich „Idiot“ gedacht. Heute denke ich: Der Mann ist der festen Überzeugung, dass Radfahrer keinerlei Rechte im Straßenverkehr habe und nur Autos zählen. Immerhin — auf Zuruf und Klingeln sprang er dann doch wieder zurück.

Zu der Gruppenfindung gehört auch ein Konsens: Radfahrer sind eben doch die besseren Menschen. Denn wer mehr Rücksichtnahme fordert, kann nicht gleichzeitig das Augenmerk darauf lenken, wie viele Radfahrer leichtsinnig ohne Licht auf Bürgersteigen fahren. Und natürlich haben sie einige Argumente auf der Seite: Radfahrer sind bei einer Kollision strukturell benachteiligt. (Und das nicht nur gegenüber Autofahrern. Ich hab tatsächlich eine kleine Narbe am Arm, weil mich eine Fußgängerin von der Seite touchiert hat, weil sie schnell zum Bus rennen wollte.) Radfahrer büßen für die Fehler anderer. Und die eigenen Fehler erscheinen angesichts solcher Konsequenzen zu vernachlässigen. Wer zurecht wütend ist, kann nicht immer nach Gründen suchen.