Über Sherlock

Grade wird dieser fast zweistündige Rant von dem YouTuber „hbomberguy“ eifrig geteilt, in der dieser all seinen Hass über Steven Moffats Serie „Sherlock“ ausgießt. Dabei hat er in vielen Punkten recht: Die Serie ist überproduziert, over-the-top, die Cliffhanger nerven und die Spionagegeschichten sind albern. Womit er absolut nicht recht hat: Dass diese Punkte irgendwie neu sind und Moffat eine überdurchschnittlich schlechte Sherlock-Adaption abgeliefert hätte.

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Zunächst einmal: Ich fand Sherlock in der erste Staffel genial, aber die Begeisterung ist stark gesunken. Ich genieße es aber dennoch, die Neuinterpretation der alten Fälle zu betrachten. In der Folge, die gestern in der ARD lief, konnte ich zahlreiche Versatzstücke wiederfinden: Der verlassene Klient mit Mundgeruch war eine Adaption des feisten Kaufmanns aus der Red Headed League. Der Bluthund Toby: Sign of Four. Die Thatcher-Statuen: The Adventure of the Six Napoleons. Kurzum: Wenn man Moffat um drei Uhr morgens wecken würde, könnte der jedes obskure Detail aus einer Sherlock-Holme-Geschichte auswendig zitieren. Würde man dagegen hbomberguy auch nur nach den Baker Street Irregulars fragen, müsste der wohl im Videoarchiv nachgucken.

Spannend finde ich auch, dass Moffat durchaus die Fehler des Materials kennt. In der Episode von gestern fand ich den Dialog von Sherlock und Lestrade über Johns Blog besonders interessant. Das ist nämlich eine notorische Schwäche der Originalgeschichten: John Watson erzählt dauernd, wie oft sein Freund Holmes der Polizei die Lorbeeren überlässt – und publiziert dann das Gegenteil. Lesern vor mehr als 100 Jahren ist diese Inkonsistenz wohl nicht so aufgefallen — heute muss er ausgebessert oder zumindest adressiert werden.

Wenn man Moffat ernsthaft vorwirft, dass seine Fälle Logikfehler haben, dann muss man den Vorwurf leider auch Sir Arthur Conan Doyle machen. Denn keiner der bekannten Fälle ergibt bei näherer Betrachtung wirklich viel Sinn. Warum sich Homes im Hound of Baskerville auf dem Moor herumtreibt – es wird nie erklärt. Warum die Red Headed League plötzlich aufhört, einen Kaufmann aus seinem Haus zu lotsen, wenn dessen Abwesenheit und Arglosigleit eigentlich am gefragtesten wäre — nicht nachvollziehbar. Warum Irene Adler aus England flieht, obwohl sie Sherlock Holmes das Corpus delicti freiwillig übergeben hat — dafür gibt es nur romantische, aber keine logischen Gründe. Am schlimmsten: der ikonische und gänzlich sinnlose Tod am Reichenbach-Fall und die noch unglaubwürdigere Auferstehung.

Das hat mich an der Sherlock-Kritik in dem Video oben besonders gestört: Der Autor behauptet, dass Moffat das Original-Material misshandelt habe, hat aber keine Kenntnis eben dieses Original-Materials. Er behauptet zum Beispiel, Holmes habe in den Original-Geschichten die Leser immer an seinen Beobachtungen teilhaben lassen, damit diese mitraten könnten. Nichts könnte falscher sein: In den meisten Fällen erfährt der Leser erst hinterher, was Holmes getan hat und wie er auf seine tollen Ideen kam. Auch beschwert sich hmbimberguy minutenlang, dass Sherlock unnötigerweise Watson unter Drogen gesetzt habe. Dabei ist das der erste konkrete Charakterzug, den Conan-Doyle in der allerersten Holmes-Geschichte beschrieben hat: Holmes is a little too scientific for my tastes — it approaches to cold-bloodedness. I could imagine his giving a friend a little pinch of the latest vegetable alkaloid, not out of malevolence, you understand, but simply out of a spirit of inquiry in order to have an accurate idea of the effects.

Wer Sherlock Holmes neu inszeniert und adaptiert, hat eigentlich nur wenige Alternativen: Man wirft eigentlich alles weg bis auf ein paar Motive und Namen, wie es zum Beispiel bei Elementary geschieht. Die Serie erinnert deshalb über weiter Strecken mehr an Monk als an Sherlock Holmes. Oder man nimmt den Stoff, wie er ist und versucht ihn in die Gegenwart zu adaptieren. So erfand Anthony Horowitz hat in seinen Romanen neue Holmes-Fälle gebaut und darin exzessiv bekannte Fälle, Figuren und Methoden referenziert. Agatha Christie hingegen erfand mit Hercule Poirot einen Detektiv mit ganz eigenen Marotten und ließ ihn auf einige der selben Fälle los wie Sherlock Holmes. Die dritte Variante: Man nimmt die Widersprüchlichkeit des Charakters, überhöht sie noch ein wenig und hat damit selbst ein wenig Spaß — wie es zum Beispiel Billy Wilder getan hat. Und zum Teil halt auch Moffat. Wer mit keiner der Varianten leben kann, der mag halt Sherlock Holmes nicht wirklich.