Vorbild Türkei

Wer sich fragt, wo denn der Unterschied zwischen den willkürlichen Internet-Sperren in der Türkei und den hiesigen geplanten Access-Blockaden liegt: die Türken lassen die Sperren zumindest ab und an von Richtern absegnen.

Reporter ohne Grenzen meint nun, die türkische Regierung müsse ihre Gesetzgebung zur Regulierung der Internet-Nutzung überarbeiten, statt willkürlich Inhalte zu zensieren. Laut Gesetz kann die Staatsanwaltschaft Webseiten innerhalb von 24 Stunden blockieren lassen, falls sie befindet, der Inhalt befördere Selbstmorde, Pädophilie, Drogenmissbrauch, enthalte obszöne bzw. pornografische Szenen oder verletze das Gesetz, das Angriffe auf die Erinnerung an Atatürk verbietet.

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In der vom Bundesfamilienministerium verbreiteten Weltkarte zur Kinderpornographie-Gesetzgebung erreicht die Türkei damit immerhin ein blasses Rosa – das steht für „inadeguate laws“(sic!). Bemängelt wird nicht das Übermaß an Zensur, sondern der Mangel an noch weiter gehenden Gesetzen.

Passenderweise fehlt bei den Hintergrund-Materialien der Bundesregierung Angaben darüber, welche Mängel das sein mögen. Aufklärung bringt die ICMEC, die sich in einer vergleichenden Studie auf Interpol-Angaben stützt. Und siehe da: die Türkei landet in der unteren Kategorie, weil das Land keine spezifische Definition von Kinderpornografie habe, keine Meldepflicht der Provider existiere und weil in der Gesetzgebung „computer facilitated offenses“ nicht genug gewürdigt werden – das bedeutet: es gab keine Sondergesetze für Vergehen, die irgendwie mit Computern zusammenhängen.

In order to qualify as a computer‐facilitated offense, we were looking for specific mention of a computer, computer system, Internet, or similar language (even if such mention is of a “computer image” or something similar in the definition of “child pornography”).

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Die Studie stammt aus dem Jahr 2006, das Datenmaterial ist schon älter – es sieht so aus, als ob die Türkei mindestens in zwei entscheidenden Punkten nachgebessert hat. Damit verdient das Land das etwas sattere Violett, das auch den westeuropäischen Ländern Ehre macht.

PS: In der Studie wurde auch Deutschland als Land identifiziert, das nicht alle gesetzlichen Kriterien erfüllt. Allerdings wurden nicht etwa fehlende Access-Sperren bemängelt, es hakte einzig am Punkt „ISP reporting“:

While some countries may have general reporting laws (i.e., anyone with knowledge of any crime must report the crime to the appropriate authorities), only those countries that specifically require ISPs to report suspected child pornography to law enforcement (or another mandated agency) are included as having ISP reporting laws. Note that there are also provisions in some national laws (mostly within the European Union) that limit ISP liability as long as an ISP removes illegal content once it learns of its presence; however, such legislation is not included in this section.

Eine solche Vorschrift ist nicht Gegenstand der aktuellen Gesetzgebungsvorhaben.

Richtervorbehalt

Udo Vetter hat einen Fall vor dem Bundesverfassungsgericht gewonnen. Kurzfassung: Wegen fadenscheiniger Ausdrucke eines Webforums wird die Wohnung des Foren-Betreibers durchsucht, seine Rechner mitgenommen.

Aus der Urteilsbegründung:

Auch aus der mit „T.“ betitelten Abbildung, auf die das Amtsgericht den Tatverdacht maßgeblich stützte, ließen sich keine über bloße Vermutungen hinausgehenden Hinweise dazu entnehmen, ob unter der angegebenen Internetadresse tatsächlich ein urheberrechtlich geschützter Spielfilm mit dem gleichnamigen Titel gespeichert war; in diesem Zusammenhang ist nicht nachvollziehbar, warum in dem Durchsuchungsbeschluss – von dem Landgericht unbeanstandet – der Abbildung ein Hinweis auf ein „Computerspiel“ entnommen wurde, obwohl es sich deutlich erkennbar um die Ankündigung eines Spielfilms handelt.

Zu meiner Kindheit haben ungezogene Jungs an fremden Türen geklingelt und sind weggelaufen. Heute können sie viel mehr Spaß haben. Einfach irgendwen anzeigen und seine Wohnung wird durchsucht, seine Rechner mitgenommen. Überprüft wird der Vorwurf nicht mal im Instanzenweg. Und dass der Durchsuchte bis zum Bundesverfassungsgericht geht, ist ja nicht wirklich zu erwarten. Und selbst wenn – der Streich ist mehr als gelungen.