Wikipedia ist keine Demokratie

Wikipedia ist keine Demokratie. Wikipedia ist kein Staat mit stimmberechtigten Bürger. Bei Wikipedia kann jeder mitmachen. Und da jeder Dutzende Accounts anlegen kann, hat jeder keine Stimme. Außer er reißt sie an sich.

Der Entscheidungsprozess der Online-Enzyklopädie ist der eines gewaltigen Hive-Minds mit Persönlichkeitsstörungen, Selbsthass und einem chronischen Bauchgrimmen. Und jedes Mal wenn sich das Hivemind ärgert, verpuppt es sich. Doch statt sich Flügel wachsen zu lassen, taucht das Hive-Mind jeweils mit einem Kopf mehr auf: Bürokraten. Arbitration Committees. Community-Ausschüsse. Die an sich flache Hierarchie der Jeder-Kann-mitmachen-Enzyklopädie ist über zehn Jahre metastasiert und kann jeden Flowchart-Autoren in den Wahnsinn treiben.

Die Quintessenz ist: wer macht, entscheidet. Oder gibt auf. Wikipedia ist nicht nur eine Enzyklopädie, sondern eine politische Operation. Es gibt da nur ein Problem: die spontane bürokratisch-technokratische Unverbindlichkeit funktioniert nicht mehr, neue Autoren bleiben aus und wohin der Mega-Tanker Wikimedia steuert, weiß niemand mehr so recht — trotz strategischer Visionen und Fünfjahresplänen. Oder gerade deswegen?

Wikimedia will nun diesen gordischen Knoten durchschlagen. Da aber selbst Jimbo Wales im vergangenen Jahr seinen Schwert-Arm chronisch verstaucht hat, versuchen die verschiedenen Wikimedia-Instanzen stattdessen ein bisschen an dem Knäuel herumzunibbeln. So will Wikimedia Deutschland e.V. die Community mehr einbinden, um mehr Legitimität für ihr ansehliches Spendenbudget zu gewinnen. Sie haben die Community gefragt, in welche Projekte sie investieren wollen. Das war gleich eine zweifache Pleite. Die gewählten Community-Vertreter konnten – trotz Mehrfachstimmen – nicht Mal die Unterstützung von 70 Wikipedianern gewinnen. Die Wikipedia-Gemeinde ist zwar klein, aber nicht wirklich so klein. Und dann zerstritten sich Vereinsvorstand und Communitybudgetausschuss in so eindrucksvoller Weise, dass sämtliche Bundestagsfraktionen vor Neid erblassen müssten. Zumindest wenn sie davon erfahren hätten. Wikipedia-Politik findet weitgehend ohne Öffentlichkeit statt. Obwohl sich quasi jeder für die gewaltige publizistische Macht der Wikipedia interessiert, wenden sich die meisten nach kurzer Zeit angewidert ab. Wer übrigbleibt, ist Bestandteil des Systems.

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Die Wikimedia Foundation hat nun eine Abstimmung über ein neues Filter-Tool angesetzt – nein: gar ein Referendum. Das Problem daran: die Wikipedianer dürfen nicht wirklich abstimmen. Das Referendum ist als unverbindliche Umfrage konzipiert, bei dem die Teilnehmer auf einer Skala von eins bis zehn markieren dürfen, wie wichtig sie verschiedene unscharf formulierte Aspekte des Filters finden. Die Wahlbeteiligung liegt schon jetzt bei weitem höher als bei den Wahlen für das Board der Wikimedia Foundation. Und wenn ich die Diskussionsseiten richtig interpretiere, liegt das daran, dass ein guter Teil der Wikipedianer die Einrichtung eines Filters für Wikipedia-Inhalte strikt ablehnen. Doch wirklich dagegen stimmen können sie nicht.

Dies zeigt wieder einmal: es ist relativ einfach Leute gegen etwas zu organisieren. Doch wenn es darum geht, Alternativen und gemeinsame Konzepte zu entwickeln, sind wir allzu oft ratlos. Wozu einen Kompromiss eingehen, wenn man mit einem Klick auf einer anderen Plattform ist. Oder wenn man über Jahre polemisieren kann, wie dumm die Entscheidung war, die man nicht unterstützt hat. Ob es besser wird, ist zweitrangig. Ich hatte recht.

Für September hat Wikimedia Deutschland einen neuen Versuch angesetzt. Der Verein wird einen Entwurf seines Ausgabenplans online stellen und dann in einer Deutschland-Tour in Hamburg, München, Frankfurt, Köln und Berlin den Erntwurf vorstellen und Rückmeldungen annehmen. Das Problem: daran: die Teilnehmer brauchen keinerlei Legitimation und deshalb haben sie auch keine. Vereinsmitglied oder nicht, Wikipedia-Autor oder nicht — egal. Und deshalb ist auch egal, was die sagen. Es werden sich hinterher immer zehn Mal so viele Menschen finden, die die Ideen blöd, falsch und geradezu gefährlich finden.

Die Suche nach dem Rückkanal, zu dem Entscheidungsprozess mit dem man möglichst viele Menschen einbinden und zu konkreten Schritten bewegen kann, ist frustrierend. Aber auch spannend. Und nochmal frustrierend.

Wikipedia ist Weltkultur – deal with it

Die Welterbe-Kampagne von Wikimedia ist grade angelaufen und die deutschen Medien (inklusive mir) reagieren folgsam darauf. Doch eigentlich ist Wikipedia ist längst Bestandteil der Welt-Kultur — egal was die Unesco sagen mag. Was hat gerade den Schulalltag von Hunderten Millionen junger Menschen in letzter Zeit mehr verändert als Wikipedia? Wo wird ein 13jähriger in seiner Freizeit Mal eben nachschlagen, wer dieser Michelangelo war, wie ein Dieselmotor funktioniert oder wer diese Madonna ist, die dauernd mit Lady Gaga verglichen wird?

Ich glaube nicht, dass die Aktion irgendeine Erfolgsaussicht hat. Statt sich beim immateriellen Welterbe oder beim Weltdokumentenerbe einzuordnen, möchte sich Wikimedia Deutschland die Wikipedia unbedingt in der elitärsten Liste verewigen, die die Unesco zu bieten hat. Nicht Flamenco und französische Küche sind vergleichbar mit Wikipedia, sondern die Große Mauer von China und die Pyramiden von Giseh. Das wird nicht passieren. Aber die Unesco öffnet sich gerade sowieso für digitale Güter, engagiert sich bereits für Meinungsfreiheit im Internet. Mit oder ohne Wikimedia-Kampagne wird Wikipedia in den nächsten Jahren auf einer Unesco-Liste auftauchen.

Tim Pritlove hat recht, wenn er bei Dradio Wissen erklärt, dass die Diskussion wichtiger ist als das Ergebnis, dass die Welt sich mit ihrer digitalen Kultur auseinandersetzen muss. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nicht nur die Gesellschaft muss reflektieren, wie sie mit digitalem Wissen umgeht, die Wikipedia muss reflektieren, wie sie als Kulturgut funktioniert. Denn die Autoren müssen sich nicht nur mit der ungeheuren Popularität der Plattform herumschlagen, die Artikelarbeit gerade in umstrittenen Bereichen schwerer macht, als es für viele erträglich ist. Sie muss sich auch damit auseinandersetzen, was sie selbst ist. Die Wikimedia Foundation hat grade die Parole ausgegeben, dass sie eine Bewegung, ein „movement“ ist und will so alle Strukturdiskussionen ersticken. Bezahlte Wikimedianer und freiwillige Aktivisten. Die allmächtige Wikimedia mit den Root-Rechten auf den Servern, die sich aber nicht traut, inhaltlich Partei zu ergreifen. Alles kein Problem für eine Bewegung, die gallertartig nachgibt, wenn man sie anstößt.

Einer der Kern-Streitpunkte in Wikipedia — der in 1000 verschiedenen Stellen ausgetragen wird — ist: Will die Wikipedia sich an der Hochkultur orientieren, das erprobte oder überkommene Prinzip von Enzyklopaedia Britannica und Brockhaus ausbauen? Ein neues Zerrbild der Geschichte, bunter als die Schulbücher die wir bisher kannten, aber den selben Prinzipien verhaftet? Oder will man selbst ein kultureller Marktplatz sein mit lebendigen Menschen? Wie viele Brüste und Schamhaarfrisuren soll die Wikipedia zeigen? Oder ist Erotik nur Kultur, wenn denn Michelangelo den Pinsel geführt hat? Kurzum: Was ist eigentlich dieses Weltwissen, das die Wikipedia abbilden will?

Noch spannender ist in meinen Augen aber die Frage der Selbstorganisation. Ursprungsgedanke war, dass die Wikipedia von jedem für jeden geschrieben wird. Von diesem Ansatz muss man sich verabschieden: Es waren von Anfang an wenige, die das Wissen in der Wikipedia bestimmten und noch weniger, die sich für die Projektorganisation interessierten. Die Beteiligungen an Abstimmungen ist minimal, das einzig verlässliche ist eine Haltung zur Blockade zur Erhaltung des Status Quo — egal wie verhasst er in Aspekten allen Beteiligten auch sein mag. Wenn Wikipedia nicht irgendwann wirken will wie in Stein gehauen, nicht wie die zerfallenen Ruinen einer vergangenen Zivilisation, muss sie sich nochmal verschäft mit sich selbst beschäftigen. Und endlich Mal zu Ergebnissen kommen.

Wikipedianer verschenken Millionen

Wikipedia ist keine Demokratie. Ich kann das so oft wiederholen wie ich will – es werden immer wieder Medien finden, die das Gegenteil behaupten. Aber, wie Gründervater Jimmy Wales immer wieder betont: Wissen ist keine Verhandlungssache. Wenn es demokratisch zuginge, wären zum Beispiel historische Darstellungen des Propheten Mohammed längst verschwunden, die Evolutionstheorie wäre nur eine von vielen Hypothesen, wie der allmächtige Gott seinen Plan verwirklichen wollte, Sarah Palin zur Präsidentin zu machen.

Wikipedia ist keine Demokratie, weil die Online-Enzyklopädie dazu viel zu offen ist. Jeder kann sich hinter verschiedensten IP-Adressen und Accounts verstecken – und oft genug tun sie es auch. Tagtägliche gibt es bei Tausenden von Artikeln Streitfälle, die sich nicht auf die Regeln runterbrechen lassen, oder die das teilweise konfuse Regelwerk ad absurdum führen. Ruf nicht nach Abstimmungen, nach Umsturz, sondern Sei Mutig! schrieben die altehrwürdigen Früh-Wikipedianer ihren Nachfolgern ins Stammbuch – und verabschiedeten sich ins Elysium von Berufstätigkeit und höheren Aufgaben.

Wikipedia ist keine Demokratie. Und doch gibt es Wahlen. Und Abstimmungen. Eine kleine Schar von Autoren, die sich dem großen Ganzen verpflichtet fühlen, die von den Entscheidungen anderer genervt fühlten oder die sonst in einem Sportverein wären ohne selbst Fußball zu spielen, kommt immer wieder zusammen, um über den Zukunftskurs und die Herausforderungen die Wikipedia zu bestimmen. Eine dieser Entscheidungen, die zu treffen wäre, ist mir grade wieder ins Auge gefallen.

Seit Jahren steht die Beteiligung an dem METIS-System der Verwertungsgesellschaft VG Wort immer Mal wieder auf der Agenda des Verein Wikimedia Deutschland. Kurz zusammengefasst: Die VG Wort sammelt Geld von uns allen ein, um Autoren für die vielen unbezahlten Verwertungen von Texten zu entschädigen. Bei Wikipedia ist in den vergangenen zehn Jahren eine ganze Menge Text zusammen gekommen, was die VG Wort dazu bewegte bei Wikimedia Deutschland anzufragen, wohin man das Geld denn überweisen könne. Doch es gibt Schwierigkeiten: die Software von Wikipedia ist nicht wirklich zu dem Zweck gerüstet, die VG Wort würde gerne ihre Zählpixel installieren und überhaupt: will man überhaupt bei einem solchen System mitmachen? Für Wikimedia wäre das System lukrativ – schließlich wird auch ein Anteil des Geldes an den Plattform-Betreiber ausgeschüttet.

Nach jahrelanger ergebnislosen Vereinsberatungen wurde nun die Community um Rat gefragt. Obwohl die Umfrage noch bis zum 25. Februar laufen soll, scheint das Ergebnis bisher eindeutig: gerade Mal 12 Befürworter stehen 120 Gegner gegenüber, 16 schwankende Nutzer hätten gerne ein Gutachten zum Thema. Die Statements zum Thema gehen sehr oft ums Prinzip, es geht um Verteilungsgerechtigkeit, Freies Wissen und die Angst, wie das Geld die zuweilen fragile Gemeinschaft der bisher unbezahlten Autoren untergraben würde:

–† Alt ♂ 02:24, 26. Jan. 2011 (CET) Das gierige Funkeln, das stellenweise jetzt schon in einigen Kommentaren aufscheint (was wir damit alles machen könnten!) verursacht bei mir extreme Magenschmerzen. Wenn wir hier Geld fürs Schreiben bekämen, würde sich verdammt viel ändern und es ließe sich wohl auch nicht mehr zurückdrehen.

–Jogo.obb Disk 21:34, 27. Jan. 2011 (CET) Was bekommen die, die im Hintergrund ackern, um zu verhindern das aus der WP ein Müllhaufen wird? Wer bekommt die Vergütung für Autoren bei einem Artikel mit X Autoren? Wer soll prüfen, ob ein Autor wirklich etwas für den Artikel geleistet hat oder ob er bloß ein Stückchen vom Kuchen haben will? Wer sorgt dafür, das nachher nicht sämtliche wichtige Artikel gesperrt werden, dass sich die Admins den Batzen allein verteilen können? Wie werden die Belohnt, die sich um Illustrationen kümmern? Wenn dann müsste das Geld komplett an die Stiftung fließen, das heißt Autoren müssten einer Verzichtserklärung auf ihre Ansprüche zustimmen, das wäre bei 26.715 aktiven Benutzern bereits ein enormer Aufwand, es müssten jedoch auch alle anderen der 1.156.568 angemeldeten Benutzer zustimmen.

–Andys / ☎ 12:54, 29. Jan. 2011 (CET) Ich lehne das geltende Urheberrechtsgesetz eh ab, das in weiten Teilen überholt und hoffnungslos veraltet ist. Da kann ich mich nicht zu dessen Nutznießer machen. Ich lasse mich nicht korrumpieren.

Es wird viel spekuliert über hive minds und verschwörerische Kungelrunden, die geheimen Agenden der Wikipedia-Oberen – METIS ist nur ein Kapitel von vielen, was diese einfachen Erklärungsmuster ad absurdum führt. Natürlich gibt es in der Wikipedia wie in jedem anderen Lebenraum Politik und Intrigen – wer jedoch sich nur auf das konzentriert, was ihm gefällt oder was ihm gerade nicht gefällt, wird Wikipedia nie verstehen.

Wikileaks und das Geld und die Folgen

Die Empörung über den gesperrten PayPal-Account von Wikileaks ist wieder riesig — und wie üblich führt die Empörung in die Irre.

Denn nach allen mir vorliegenden Informationen wurde nicht etwa ein wikileaks-eigener Account gekündigt, sondern ein Konto, das von Wikileaks laut Paypal „genutzt“ wurde. Und das ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Account der in Deutschland als gemeinnützig anerkannten Wau-Holland-Stiftung. Der Wikileaks-eigene Account wurde schon im Januar gesperrt.

Das hat interessante Implikationen:

  • Übertrumpfen die AGB von PayPal deutsches Steuerrecht? Ein gewisses Maß an Willkür ist unvermeidliche Nebenwirkung von Zahlungsmitteln, die ohne sichere Identifikation genutzt werden können. Aber wenn man nicht Mal auf solche Fundamente wie die Entscheidungen deutscher Finanzämter bauen kann — worauf kann man sich verlassen? Wenn sich ein paar US-Firmen wie Facebook, Amazon, Ebay und Google zu einem Boykott einer Sache oder eines Menschen entschließen, ist die gesellschaftliche Teilhabe nicht mehr möglich oder wesentlich erschwert. Und dazu braucht es noch nicht einmal einen Richter: Bis heute wurde in den USA gegen Julian Assange keine Anklage erhoben. Ob die Plattform gegen geltende US-Gesetze verstößt ist keinesfalls sicher. Der Begriff „transnationale Bedrohung“ könnte eine völlig neue Bedeutung bekommen.
  • Wie ist es überhaupt möglich, dass Wikileaks hierzulande steuerlich gefördert wird? Das ist keine moralische Frage — mich interessiert: Wie kann das steuertechnisch funktionieren? Schon bei Wikimedia Deutschland war es ein bürokratischer Kraftakt, Spenden zur Finanzierung der vergleichsweise wenig umstrittenen Plattform Wikipedia ins Ausland zu leiten. Welche Konstruktion Wikileaks und die Wau-Holland-Stiftung gewählt haben — wahrscheinlich wird sie in dem nächsten Wochen einem Stresstest unterzogen werden. Lautsprecher aus Politik und Medien werden fordern, Wikileaks in Deutschland den Geldhahn abzudrehen — sofern sie noch in der Lage sind, einfache Sachverhalte zu verarbeiten.
  • Gibt es eine Chance für ein zahmeres, berechenbareres Wikileaks Marke Deutschland? Daniel Domscheit-Berg hat neben seinem Insider-Buch über seine Zeit bei Wikileaks auch eine Konkurrenz-Plattform vorangetrieben. Sollte dem großen Wikileaks der deutsche Geldhahn abgedreht werden, könnte dieses Projekt profitieren.

Wiki-wiki heißt schnell

Im Juni beauftragte die Wikimedia Foundation eine Art Schlichter für eine sehr kontroverse und offenbar drängende Frage: Wie viel Bein (oder eher: Penisringe, Vulven und FFK-Fotos) darf eine Enzyklopädie zeigen?

Zwei Monate später kommt der Schlichter Robert Harris zu diesem vorläufigen Ergebnis:

So far, the immediate result for me of the dialogue has been to recognize that the question of whether there is any problem to solve at all is a real question that will need a detailed and serious response, as well as a recognition that the possibility of unintended consequence in these matters is high, so caution and modesty is a virtue.

Ohne Relevanzkriterien keine Wikipedia

Die derzeitige Aufregung um die Relevanzkriterien der Wikpedia nimmt obskure Züge an. Vor allem bin ich erstaunt wie uninformiert auch ein großer Teil der Netzbevölkerung ist, die sich gerne das Wort „Medienkompetenz“ an die Brust heftet.

So schreibt Pavel:

99% aller Deutschen sind irrelevant. Und werden es auch immer bleiben. Jedenfalls nach den Relevanzkriterien der deutschen Wikipedia.

Ähm – ist das ein Vorwurf? Natürlich sind die allermeisten Menschen für Wikipedia irrelevant. Wie kann man sich über Datenlücken bei StudiVZ aufregen, wenn man parallel in der Wikipedia eine Personendatei aufmacht, von der nicht mal Wolfgang Schäuble zu träumen wagt?

Ich persönlich bin ganz froh keinen Wikipedia-Artikel über mich zu haben, den ich ständig nach Vandalismen untersuchen müsste und in dem plötzlich ein Abschnitt „Kritik“ auftaucht, in dem ein Worst-Of der auffindbaren Äußerungen über mich gesammelt werden.
Arrogant oder notwendig?

Wikipedia will das Weltwissen sammeln, ein hehrer Anspruch. Man kann nun fragen, ob der Straßenkehrer Dominik Müller in Bad Salzdettfurt weniger wert ist als ein Mathe-Professor, der auch nur sein Tagewerk vollbringt? Gehört Dominik nicht auch zum Weltwissen? Woher kommt diese Arroganz?

Nun – schauen wir uns das Grundprinzip der Wikipedia an. Zunächst: Wikipedia will Weltwissen sammeln, nicht nur eine Sammlung von Behauptungen. Was trivial klingt, ist in Wahrheit die Quadratur des Kreises. Denn in Wikipedia kann quasi jeder schreiben, was ihm in den Sinn kommt. Man muss sich nicht mal anmelden.

Wissen aus dem Chaos destillieren

Damit aus diesem Chaos an Behauptungen nun so etwas wie Wissen destilliert werden kann, müssen einige Voraussetzungen erfüllt werden. Das Grundprinzip der Wikipedia beruht darauf, dass Artikel ständig überarbeitet und verbessert werden. Denn erstens ist Wissen keineswegs statisch und zweitens soll sich der berühmte Neutrale Standpunkt der Wikipedia dadurch herauskristallisieren, dass Menschen mit unterschiedlichen Standpunkten zusammenarbeiten. Ohne solche Zusammenarbeit wäre Wikipedia nur so etwas wie ein Free-Hosting-Provider, oder ein Portal wie OpenPR, wo jeder einfach veröffentlichen kann, was er will und es niemanden interessiert, wenn es falsch ist.

Die Relevanzkriterien sind ein Mittel dazu einen Ausgleich unterschiedlicher Standpunkte und Quellen herzustellen. Denn Wikipedia kann sich nur aus bereits veröffentlichten Informationen speisen. Wenn der bösartige Schwager schreibt, dass Dominik Müller wegen Vergewaltigung zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde – wie soll ein anderer Wikipedianer das überprüfen? Falsche Quellenangaben sind schnell produziert und Menschen, die Wikipedia-Artikel tatsächlich auf Falschbehauptungen abklopfen sind leider sehr selten. Nur wenn eine Person oder ein Thema lange genug in der Öffentlichkeit ist, werden Fehlinformationen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erkannt.

Jeder Tippfehler wird zur Quelle?

Stichwort Quellen: Ich bin als Online-Journalist in einer seltenen Machtposition. Meine Behauptungen sind googlebar, sie erscheinen in Medien, die viel Wert auf Recherche legen. Dennoch mache ich – wie jeder andere – Fehler. Wie soll man es nun verhindern, dass meine Recherche-Versäumnisse, meine Tippfehler gar durch die Wikipedia zum Weltwissen geadelt werden? Auch hier helfen Relevanzkriterien.

Denn wenn ich dem Bundestagsabgeordnete Dominik Müller fälschlicherweise 100 statt 10 Aufsichtsratsposten andichte, werde ich mit einiger Wahrscheinlichkeit korrigiert werden. Wenn ich einen ähnlichen Fehler bei dem Straßenkehrer Dominik Müller mache, wäre eine Korrektur reine Glückssache. Zudem ließen sich zu den Aufsichtsratsposten höchstwahrscheinlich viele Quellen finden, zu Haftstrafen von unbekannten Menschen hingegen findet man so gut wie keine öffentlichen Quellen – erst recht keine gesicherten. Wenn dazu jemand noch eine toll klingende Quellenangabe (siehe Seite 332 des Standardwerks „Die Müllers“) macht, stößt das System Wikipedia an seine Grenzen. Wer soll dieses Buch ausleihen und dem Ganzen seinen Stempel aufdrücken?

Wissen erfordert Arbeit

Relevanzkriterien haben noch viele weitere Begründungen. So kursiert die Behauptung, dass vermeintlich irrelevantes Wissen der Wikipedia nicht schade – das bisschen Speicherplatz kostet doch nichts. Das ist leider falsch. Alleine schon das Speicherplatz-Argument ist schwach – wer das bezweifelt soll mal einen vollständigen Datenbank-Dump der englischen Wikipedia herunterladen und auf seinem Rechner entpacken. Oder einen Blick in das Operationsbudget der Wikimedia werfen.

Hinzu kommt aber die notwendige Pflege von Artikeln. Niemand kann von sich aus die – großteils sinnvollen – Formatierungsvorgaben auf Anhieb richtig machen. Wie man einen Wikipedia-Artikel richtig mit Projekten wie OpenStreetMap oder der Personennamendatei verknüpft, ist Spezialwissen, für das man einige Stunden trockene Lektüre investieren muss. Gleichzeitig bieten diese Routine-Arbeiten wertvolle Informationen für den Leser. Dazu kommen noch viele andere Probleme, wie das Bemühen den Wissensbestand einigermaßen übersichtlich zu halten, so dass zum Beispiel nicht zum selben Thema unterschiedliche Informationen in unterschiedlichen Artikeln erscheinen.

Relevanzkriterien sind notwendig

In der englischen Wikipedia gibt es ebenfalls erbitterte Kämpfe um die Relevanz. Zwar wird immer wieder angeführt, dass dort quasi jede Folge einer bekannten US-Serie mit einem eigenen Artikel versorgt wird. Aber das hat – hier muss ich etwas mutmaßen – vor allem zwei Gründe: Die Autorengemeinschaft der englischen Wikipedia ist über die ganze Welt verstreut. Der Autor aus Indien wird nie mit den Autoren aus Texas oder Honululu zusammen treffen. Die weltweit verbreiteten US-Serien sind da ein prima Feld um Gemeinsamkeiten auszuloten. Zudem verfügt die englische Wikipedia über ein Vielfaches an Autoren und Korrekturlesern und kann somit mehr Artikel in den eigenen Kanon integrieren. Gleichzeitig jagt in den USA ein Verleumdungsskandal den anderen, längst gehört Wikipedia zum bevorzugten Ziel von Astroturfern.

Jetzt habe ich lange begründet, warum Relevanzkriterien notwendig sind. Qualität, Genauigkeit, Privatsphäre und Relevanz sind eng miteinander verwoben. In meinen Augen kann niemand, der sich ernsthaft das System Wikipedia vor die Augen führt an der Notwendigkeit von Relevanzkriterien zweifeln – ohne sie wäre Wikipedia längst in Falschbehauptungen, Eigen-PR und Verleumdungen versunken.

In der Wikipedia geht einiges schief

Gleichzeitig behaupte ich nicht, dass alle Löschungen vertretbar und gut sind, dass die Praxis der Wikipedia nicht wesentliche Mängel aufweist. Die Relevanzkriterien sind weder „gerecht“, noch übermäßig konsistent. Sie wurden entworfen wie eine Hausordnung eines IRC-Channels oder die Satzung einer Newsgroup. Ein paar Leute haben das mal entschieden – wer und warum das bestimmt hat, verliert sich in den Untiefen der Wikipedia-Diskussionsseiten. Es gibt eine Unmenge von Schein-Abstimmungen und Pseudo-Regularien, die im Endeffekt darauf hinaus laufen, dass ein paar Leute unter sich ausmachen, was durchgesetzt wird. Die checks and balances funktionieren nicht richtig, zu viele selbstverstärkende Mechanismen ziehen die Wikipedia in bestimmte Richtungen.

Wer entscheidet letztlich, dass Artikel gelöscht werden? Menschliche Spamfilter, die sich Tag für Tag Themen widmen, die sie eigentlich nicht weniger interessieren könnten. Dass sich diese daran orientieren, ob ihr Kumpel einen Artikel gut findet oder ob ein Schreihals sie 15 Mal als Nazi-Blockwart beschimpft hat, ist kaum verwunderlich.

Störenfriede und Mitarbeiter frustriert

Das System Wikipedia beruht zum Teil darauf – (Vorsicht: verkürzte Darstellung!) – Störenfriede zu frustrieren. Ich habe letztens einer PR-Arbeiterin die Regeln über Selbstdarsteller zum Lesen gegeben – sie hat dann davon abgesehen, die Eigendarstellung ihres Klienten in der Wikipedia abzuladen. Aber das ist das Leichteste – Wikipedia hat alle Trolle des gesammelten Usenets abbekommen, jeder Heise-Troll verewigt seine Weltsicht gerne Mal in der Mitmach-Enzyklopädie. Dabei hat das System eine bemerkenswerte Standhaftigkeit gezeigt. Gleichzeitig wurden aber viele wohlmeinende und konstruktive Mitarbeiter frustriert und abgeschreckt.

Wer Ideen hat, dieses Problem nachhaltig zu lösen, ist bei der Wikipedia-Community in der Regel gerne willkommen. Man sollte aber darauf gefasst sein, dass die hundertste Wiederholung des selben Vorschlags für wenig Begeisterung sorgt – besonders wenn der Vorschlagende sich bisher nie für die Arbeit in der Wikipedia engagiert hat und demnach keine Ahnung hat, welche Regeln und Entscheidungsprozesse bereits existieren, oder ein Stichwort nicht von einem Lemma unterscheiden kann. Viele gute Ideen sind schon bekannt, es fehlen aber Menschen, die sie auch durchsetzen und dafür arbeiten würden.

Wer gänzlich anderer Meinung ist: ein anderes Grundprinzip der Wikipedia ist das right to fork. Es ist ein leichtes sämtliche Edits der Wikipedia abzufischen – selbst die nachher gelöschten. Bisher hatten zwar alle bekannten Forks höhere Relevanzkriterien als die Wikipedia, aber eine Anarchopedia könnte mal ein spannendes Experiment sein.

Zwei Mal Creative Commons

Der Begriff „freie Inhalte“ wird von jedem ganz anders verstanden. Was heißt es eigentlich, wenn man seine Arbeiten unter eine Creative Commons-Lizenz stellt?

Beispiel 1: Mikel Ortega Mendibil aus dem Baskenland fotografierte im Oktober 2006 zwei Pferde vor dem Berg Gipuzkoa. Er stellte es in Flickr unter der Lizenz CC-BY-SA, die die Nutzung des Bildes erlaubt, wenn man den Namen des Urhebers nennt und das Bildes unter den gleichen Bedingungen weitergibt. Im Februar 2008 wurde das Bild auf Wikimedia Commons hochgeladen. Dort nahm sich der Commons-Nutzer Richard Bartz des Bildes an und editierte es in mehreren Schritten. Vor kurzem wurde das Bild zum Bild des Jahres 2008 gewählt. In einem Artikel auf einem baskischen News-Portal zeigt sich der 31jährige Fotograf hoch erfreut.

Beispiel 2: Eine der derzeit interessantesten Bewegungen zu freien Inhalten ist das Projekt OpenstreetMap, das geografische Informationen sammelt, zu sehr sehenswerten Karten verarbeitet und ebenfalls unter der Lizenz CC-BY-SA verarbeitet. Um eine Stadt komplett zu erfassen sind Dutzende von Freiwilligen unermüdlich unterwegs, kartieren Straßen, Plätze und sogar Briefkästen. Kostenlos. Das ermöglicht einige Nutzungsarten, die zum Beispiel mit Google Maps nicht erlaubt sind – so kann man die Daten einfach komplett herunterladen und selbst verarbeiten – ob in der Autonavigation oder zum Abgleich der Jogging-Strecke.

Oder man lädt die Daten für einzelne Städte herunter, bereitet sie etwas auf und verkauft sie im iTunes-AppStore für 2 bis 4 Euro.

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Startseitenkunde

In der Berichterstattung rund um die Sperrung von wikipedia.de ist einige Verwirrung aufgetreten. So titelt dpa die HNA „Wikipedia lahmgelegt“. Doch jeder Wikipedia-Nutzer reibt sich verwundert die Augen: die Wikipedia ist noch da.

Also – das ist wikipedia.de:

wikipedia.de

Diese Seite wird von Wikimedia Deutschland betrieben. Die Seite sieht bis zum Jahr 2005 leitete die Seite sogar zu einzelnen Wikipedia-Artikeln um.

Die Seite ist ein Suchportal für Wikipedia-Artikel in verschiedenen Sprachen – die Wikipedia selbst ist jedoch woanders. Auf Wikipedia.de befinden sich keine Artikel, es findet keine Artikelarbeit statt und wenn man bei Google nach Wikipedia-Artikeln sucht, wird man nicht auf wikipedia.de stoßen. Der Sinn dieses Portals ist mir nie so richtig klargeworden. Wikipedia-Artikel finde ich bequemer auf anderen Wegen. Sie ist so etwas wie ein Wurmfortsatz für User, deren Internet immer auf .de endet.

Wenn also wikipedia.de aus dem Netz verschwindet, geht die Arbeit bei der Wikipedia selbst ungestört weiter.

Die offizielle deutschsprachige Startseite von Wikipedia sieht hingegen so aus:

de.wikipedia.org
de.wikipedia.org

Schon seit 2002 werden die internationalen Wikipedias unter der Domain wikipedia.org geführt. Hier findet die Artikelarbeit statt, hier sind die Inhalte, die Inhalte werden jeden Monate 10 Milliarden Mal abgerufen. Verantwortlich für diese Seite ist die Wikimedia Foundation mit Sitz in San Francisco.

eins, zwei, rund fünf, rund zehn…

Auch bei der DPA arbeiten nur Menschen und die Kochen mit Wasser. Fehler passieren. Aber es schmerzt dann doch wenn Meldungen wie diese bei vielen Medien unverändert veröffentlicht werden.

Seit rund fünf Jahren trägt die gemeinnützige Wikipedia Foundation in ihrem Online-Lexikon Einträge zusammen, die von Millionen Nutzern weltweit erstellt werden. Jeder Nutzer kann eigene Beträge aufschalten oder bestehende Einträge ändern oder ergänzen. Allein für die deutschsprachige Ausgabe soll es mehr als 10 000 regelmäßige «Mitarbeiter» geben.

Mal abgesehen von der nicht existenten „Wikipedia Foundation“ – warum seit „rund fünf Jahren“? Die Wikipedia gibt es seit über sieben Jahren, die Wikimedia Foundation etwas weniger als vier. Das Wort „aufschalten“ finde ich wohlklingend nostalgisch, wenn auch etwas irreführend. Völlig rätselhaft sind aber die Anführungszeichen um das Wort Mitarbeiter. Ja, das sind keine bezahlten Angestellten, weshalb das Wort vielleicht etwas irreführend ist. Aber warum sollte man es überhaupt verwenden, wenn man es über die Anführungszeichen abqualifiziert? Ein Zitat ist es jedenfalls nicht.