Leistungsschutzpflicht

Während deutsche Verleger spannende Ideen zu einem Leistungsschutzrecht haben, scheinen es die Kollegen in den USA etwas anders zu handhaben: als die Geschichte des Rolling Stone Magazine über General McChrystal zum Politikum wurde, stellten die Redaktionen von Politico und Time.com den Artikel kurzerhand online – und scherten sich einen Dreck darum, dass sie keinerlei Rechte an dem Artikel hatten.

Die Begründung ist spannend:

“Time.com posted a PDF of the story to help separate rumor from fact at the moment this story of immense national interest was hitting fever pitch and the actual piece was not available,” a spokeswoman for Time wrote in an e-mail message. “We always had the intention of taking it down as soon as Rolling Stone made any element of the story publicly available, and we did. It was a mistake; if we had it do over again, we would only post a headline and an abstract.”

Sprich: wenn ein Verleger einen Artikel selbst noch nicht online stellt, übernehmen es halt andere Verlage – ungefragt und kostenfrei. Aus dem Leistungsschutzrecht wird eine Leistungsschutzpflicht.

Nyti.ms – darf’s ein bisschen kürzer sein?

Produzierten deutsche Online-Medien in den Aufbruchsjahren eher kurze URLs, die lediglich aus Medium, Ressort und ein paar kryptischen Ziffernfolgen bestanden, sind die Verlage in den letzten Jahren dazu übergegangen, die URLs länger und „sprechender“ zu machen. Wenn die Überschrift schon in der URL steht, kann der Leser schneller sehen worum es geht – und Google wertet diese Stichworte sehr hoch ein. Wer über Michael Schumacher berichtet und nicht in der URL „Michael Schumacher“ stehen hat, wird ein paar Tausend Leser weniger haben. Google, wir huldigen Dir!

Das Ergebnis sind dann solche URLs wie:

http://www.welt.de/politik/deutschland/article7067569/Deutsche-Soldaten-beklagen-Ausbildungsmaengel.html
http://www.focus.de/politik/deutschland/nrw-wahl-ruettgers-fuehlt-sich-nicht-im-stich-gelassen_aid_496072.html
http://www.heise.de/newsticker/meldung/FDP-und-CSU-streiten-ueber-Websperren-970706.html

Sieht doch hübsch aus, nicht?

Doch kaum waren die Redaktionssysteme umgestellt, kam plötzlich Twitter als Klickviehlieferant hinzu. Wer von den führenden Twitternauten verlinkt wird, bekommt schnell ein paar Tausend oder gar Hunderttausende Klicks mehr. Ka-tsching!

Das Problem: die URLs sind für einen Tweet viel zu lang – und wenn die Multiplikatoren einen URL-Kürzer wie TinyURL nutzen, kann man schlecht verfolgen, wie sich denn die Nachricht verbreitet hat.

Das mag sich die New York Times gedacht haben. Denn gibt man die Adresse eines Artikels aus ihrem Angebot an den führenden URL-Verkürzer Bit.ly, bekommt man nicht etwa eine ganz gewöhnlich Bit.ly-Adresse zugeteilt, sondern die separate Kurz-URL unter der der Domain nyti.ms.

Twitter, wir huldigen Dir!

Es muss nicht immer China sein…

Clark Hoyt berichtet in der New York Times über einen Kotau des Schwesterblatts International Herald Tribune gegenüber der Familie des Präsidenten Singapurs:

Lee Kuan Yew once testified, according to The Times, that he designed the draconian press laws to make sure that “journalists will not appear to be all-wise, all-powerful, omnipotent figures.” Four years ago, The Times quoted his son as saying, “If you don’t have the law of defamation, you would be like America, where people say terrible things about the president and it can’t be proved.”

Zensur? Nein, nur kreatives Medienrecht.

Man wird doch wohl noch träumen dürfen…

Ein paar Menschen. von denen ich die meisten seit Jahren kenne und schätze, haben ein Internet-Manifest veröffentlicht, das aus 17 „Behauptungen“ besteht.

Einige der Aussagen lassen mir die Zehennägel hochrollen. Zum Beispiel diese:

16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.

Das Internet entlarvt gleichförmige Massenware. Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist. Die Ansprüche der Nutzer sind gestiegen. Der Journalismus muss sie erfüllen und seinen oft formulierten Grundsätzen treu bleiben.

Leider nein. Ja, das Internet entlarvt ganz gerne Massenware – das stimmt zweifellos. Aber es gibt ein großes Publikum, das Massenware liebt. Man kann 20 Mal entlarven, dass Stefan Raabs Sportveranstaltungen nur Dauer-Werbesendungen sind, sie finden immer noch ein Publikum.

Herausragend, glaubwürdig und besonders zu sein, ist leider kein Erfolgsrezept. Herausragend unglaubwürdige Angebote scheinen hingegen zu boomen – offline wie online.

Ein Beispiel: Michael Arrington – der zu den Erfolgreichen gehört, von dem wohl niemand ungesehen einen Gebrauchtwagen kaufen würde – lästert heute über ein vermeintliches Problem der New York Times. Deren Redakteur David Pogue schreibt, bloggt, podcastet überaus distanzlos über seinen Lieblings-Konzern Apple – und ist damit besonders erfolgreich ist. Die aktuellen deutschen Blogcharts wimmeln vor Blogs, die ihre Artikel niemals recherchieren, geschweige denn Fehler zugeben können. Vor ein paar Monaten konnte ich mir auf einer Fachkonferenz anhören, wie sich die Corporate-TV-Anbieter die Zukunft planen: Statt Werbepausen zu buchen, finanzieren BMW, Daimler Benz und Co einfach ihre Werbefilme in Überlänge und machen einen eigenen Internet-Sender daraus. Glaubwürdig? Wen juckt’s – guckt doch mal die tollen Bilder!

Lange Rede, kurzer Sinn: Der Satz müsste wohl heißen: „Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig oder besonders ist.“ Und da man jedem mit einem Publikum irgendeine Besonderheit nachsagen kann, ist das eine Binsenweisheit

Die traurige Realität: viele Leute wollen keine Fakten, Distanziertheit oder Objektivität. Glaubwürdig ist sehr oft der, der mir am besten nach dem Mund redet. Wer auf dem niedrigstem Niveau losschimpft, ist eine Edelfeder, ein Satiriker – sofern er gegen die richtigen lästert. Wer nur laut genug ist, wird ernst genommen. Nennen wir es: Qualität 2.0.

Wie man Informationen in der Wikipedia unterdrückt

Die New York Times berichtet über einen interessanten Präzedenzfall: Als der Reporter David Rohde von den Taliban entführt wurde, bemühten sich Kollegen und Arbeitgeber, die online erhältlichen Informationen so zu manipulieren, dass er einerseits als möglichst islam-freundlich und andererseits als relativ unwichtig erscheinen sollte.

Damit die Entführung nicht an die große Öffentlichkeit dringt, wurde Wikipedia-Gründer Jimmy Wales eingeschaltet: Er sollte vermeiden dass die Entführung in der Online-Enzyklopädie auftaucht und einen von Rohdes Kollegen decken, der den Wikipedia-Artikel über Rohde unter Pseudonym editierte.

“We were really helped by the fact that it hadn’t appeared in a place we would regard as a reliable source,” he said. “I would have had a really hard time with it if it had.”

The Wikipedia page history shows that the next day, Nov. 13, someone without a user name edited the entry on Mr. Rohde for the first time to include the kidnapping. Mr. Moss deleted the addition, and the same unidentified user promptly restored it, adding a note protesting the removal. The unnamed editor cited an Afghan news agency report. In the first few days, at least two small news agencies and a handful of blogs reported the kidnapping.

Dies ist ein interessanter Präzedenzfall. Hätte es schlichtweg keine verlässlichen Quellen für die Entführung gegeben, hätte die New York Times die Mitarbeit von Jimmy Wales nicht gebraucht. Dass Verweise auf Nachrichtenagenturen unterdrückt werden, wirft die Frage auf, wie hoch der – menschliche – Preis ist, um Wikipedia zu manipulieren.

PS: Die Behauptung, dass es keine verlässliche Quellen für die Entführung gab, ist übrigens falsch. Gleich zu Beginn wurde ein Artikel der Pajhwok Afghan News verlinkt. Und diese Quelle wird in der Wikipedia ansonsten ohne Probleme akzeptiert.

PS2: Auf meine Nachfrage hat Jimmy Wales das Zitat nochmal erläutert:

I would not consider a single report of an incident of that nature, not confirmed anywhere else, to be a reliable source.

Natürlich beißt sich die Katze in den Schwanz – exceptional claims require exceptional sources. Wenn diese exceptional sources aber nicht berichten, dann ist auch die Erwähnung Wikipedia hinfällig. Schwierigkeiten hätte Wales also nur gehabt, wenn beispielsweise CNN das Embargo gebrochen hätte – aber der Damm wäre damit überall gebrochen gewesen.