„Ich bin kein Bot, nehmt mich ernst“

Gestern war ich mal wieder bei einer netzpolitischen Demo in Köln. Da ich offenbar der einzige Journalist vor Ort war, der für Medien jenseits von YouTube arbeitet, schreibe ich hier einige Kontexte und Eindrücke auf.

Zunächst mal: Die Demo war ein außergewöhnlicher Erfolg. Innerhalb von nur zwei Tagen hatten es die Organisatoren geschafft, ihre Botschaft zu verbreiten und ihre Follower davon zu überzeugen, dass es nicht reicht, nur eine Online-Petition zu unterschreiben oder im eigenen Kreis per WhatsApp oder TeamSpeak über die Politiker zu lästern. Auf der Straße waren schätzungsweise 1000 bis 1300 Teilnehmer. Ich habe viele Demos gesehen, die mit einem Vielfachen an Aufwand und Vorbereitungszeit lediglich 200 oder gar nur 50 Leute auf die Straße brachten – selbst wenn die Bedingungen ideal waren.

Die YouTube-Szene hat sich in den vergangenen Jahren nie wirklich für netzpolitische Themen mobilisieren lassen – und wenn sie doch aktiv wurde, tat sie das außerhalb der etablierten Strukturen. Das Medium einer Straßendemo ist für alle Beteiligten ziemlich wesensfremd. Diese machte sich schnell bemerkbar: So gab es statt des üblichen Lautsprecherwagens nur einen Lautsprecher, der von zwei Ordnern in die Höhe gehalten wurde, so dass einige Redebeiträge kaum verständlich waren. Solche Lektionen muss jede neue Bewegung lernen.

Es handelt sich augenscheinlich um eine neue Bewegung. Von den Leuten, die sich sonst keine Netzdemo entgehen lassen, waren nur einzelne vor Ort. Im ganzen Demozug habe ich zum Beispiel nur eine Flagge der Piratenpartei gesehen. Es hat wohl schlicht niemand dran gedachte, die Piraten aus dem Kölner Umland frühzeitig zu alarmieren. Die Kanäle, auf denen sich der Demo-Aufruf massenhaft verbreitete, werden von Leuten über 30 Jahren eher selten gelesen.

Das heißt auch: Die Beteiligten haben noch nicht ihre vorgefertigten Talking Points parat. Einige Teilnehmer hatten allenfalls vage Vorstellungen davon, was sie denn konkret demonstrieren. Der erste Jugendliche, den ich drauf ansprach, war tatsächlich der Auffassung, dass seine Lieblings-Youtube-Channel oder gleich die ganze Plattform geschlossen werden würden. Gleich darauf wurde er aber von vier umstehenden Mitdemonstranten korrigiert.

Auch wenn der Artikel 13 auf fast allen Bannern explizit thematisiert wurde, ging es doch um mehr. Für die meist jugendlichen Teilnehmer ist YouTube ist nicht irgendeine Plattform eines Silicon-Valley-Konzerns, sondern eine Heimat. Hier haben sie nicht nur Gleichgesinnte, sondern ihre eigene Identität gefunden. Ein paar davon versuchen damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber für die meisten ist YouTube keine Geldquelle, sondern Ursprung einer Solidarität, die sie sonst nicht im Leben erfahren. Ich lebe nicht nur mein Leben, ich lebe Deines mit, wenn Du mich dran teilhaben lässt.

Genau diesen Nerv hatten Politiker wie Sven Schulze getroffen, die darauf bestehen, dass der Widerstand gegen die Urheberrechtsreform eine externe Kampagne ist, die mit Bots und Fake-Emails agiert. Insbesondere ein Banner brachte es daher auf den Punkt: „Ich bin kein Bot, nehmt mich ernst!“ Ein anderer gern zitierter Spruch: „Warum sollen alte Männer über mein Internet bestimmen?“ Andere Botschaften waren krasser: „Artikel 13 tötet uns“. Viele befürchten, dass die Freiheiten unter denen sie aufgewachsen sind, nun wieder genommen werden sollen. Dass sie in Rollenschemata einer für sie vergangenen Welt gepresst werden sollen.

Für viele war es die erste Demo ihres Lebens. Deshalb steht es in den Sternen, wie es weitergeht. Schaffen die YouTuber — man erlaube mir hier diese Vereinfachung — den Schulterschluss mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen? Brauchen sie den überhaupt, damit die Abgeordneten des Europaparlaments in den protestierenden Jugendlichen eine zu wichtige Gruppe für den Wahltermin im Mai sehen und nicht nur einen Bestandteil des Lobbyings von Google? Ausgeschlossen scheint mir, dass die etablierte Politik die Jugendlichen davon überzeugt, dass die Urheberrechtsreform in ihrem Interesse ist. Dazu wurde zu viel Porzellan zerschlagen.

 

 

Die Blockchain und die Zensur

Ich mach mich ja oft über Blockchain-Enthusiasten lustig — und ab und zu denke ich: Ja, absolut zurecht. Jetzt springt auch noch die US-Bürgerrechtsbewegung ACLU auf den Blockchain-Zug auf — und lässt Edward Snowden erklären, warum die Technik so super ist.

Einer der Punkte, der aufkommt: Die Zensurresistenz der Blockchain. Wenn einmal ein Artikel mit der Technik veröffentlicht ist, kann er nicht mehr getilgt werden.

Ben Wizner: So even if Peter Thiel won his case and got a court order that some article about his vampire diet had to be removed, there would be no way to enforce it. Yes? That is, if Blockchain Magazine republished it.

Edward Snowden: Right — so long as Blockchain Magazine is publishing to a decentralized, public blockchain, they could have a judgment ordering them to set their office on fire and it wouldn’t make a difference to the network.

Peter-Thiel-resistant?

Das ist natürlich Quark. Gerichte stecken keine Büros in Brand. Sie können aber Leute zu Geldstrafen verurteilen oder sogar ins Gefängnis stecken. Nehmen wir an, es gäbe ein Blockchain-Magazin, das total dezentralisiert ist. (Eine theoretische Annahme, denn die meisten Blockchains sind sehr zentralisiert oder tendieren nach kurzer Zeit dorthin.) Die Technik verhindert nicht wirklich, dass ein Artikel herausgestrichen werden. Es ist halt schwer und teuer. Und zwar teuer für die Leute, die diese Blockchain betreiben. Sie müssen quasi alle Blöcke löschen, die seit dem zu zensierenden Artikel herauskamen und dann die Blockchain neu berechnen.

Der Blockchain-Idealist sagt nun: Ha, aber niemand kann sie zwingen! Es ist ja dezentral!!

Dazu sagt der hypothetische Peter Thiel aber: Das ist mir ziemlich egal.

Wir erinnern uns, wofür der reale Peter Thiel der Allgemeinheit bekannt wurde. Er hatte einen Konflikt mir dem Klatsch-Portal Gawker, fand einen Schwachpunkt und stellte seine enormen Ressourcen der Klage von Hulk Hogan zur Verfügung. Ergebnis: Gawker existiert nicht mehr.

Wie würde der hypothetische Kläger gegen den Artikel im Blockchain-Magazin vorgehen? Nun, er würde einfach alle die verklagen, die mit dem Blockchain-Magazin assoziiert sind. Den Autor des Artikels, den Betreiber der Website, den Payment-Provider, die Anzeigenkunden des Magazins. Er würde in London Klagen, in Delaware, in Hamburg. Er könnte auch eine PR-Agentur engagieren, die ein paar Artikel in das Blockchain-Magazin stellen, die in China wirklich nicht gut ankommen. Und die Behörden dort ihren Job machen lassen.

Dezentralität als Stärke?

Dezentralität mag als Stärke erscheinen — die Kehrseite ist aber: Der Einzelne in diesem Netz ist verdammt schwach. Die einzelnen Nodes haben keine Rechtsabteilung mit Millionenbudget. Hat ein Kläger einen Schwachpunkt gefunden, kann er so viele Beteiligte des Netzes sehr effektiv attackieren und ausschalten. Er kann jedem Autoren und Redakteur klarmachen: Sobald du dich mit diesem Magazin assoziierst, wird es verdammt teuer für Dich.

Die Argumentation beißt sich an allen Punkten selbst in den Schwanz. Wenn die Gemeinschaft des Blockchain-Schwarms den einzelnen Nodes einen Anwalt zur Verfügung stellen würde, die die Kläger in die Knie zwingen kann, wäre das Blockchain-Magazin gerettet – aber gleichzeitig auch wieder überflüssig.

Ein anderer Punkt: Das Blockchain-Magazin löst vermeintlich ein Problem, das wir derzeit effektiv nicht haben. Mit mittlerem finanziellen Aufwand wäre es kein Problem, einen Gawker-Mirror mit allen Geschichten der Klatschseite online zu stellen. Einige haben sogar damit angefangen. (PS: Ein archiv von Gawker Valleywag ist tatsächlich noch unter der Urspungs-Domain online.) Nur wer interessiert sich wirklich für den Quatsch und Tratsch von vor drei Jahren? Wer wühlt sich durch die Textberge und entscheidet nachträglich: Dies hier war korrekt, dies hingegen nicht? Wenn wir optimistisch sind: Ein paar Historiker. Gawker ist jedoch nach wie vor tot und Vergangenheit.

(Hier sollte ich noch ergänzen: Die Blockchain selbst ist kein zensurresistentes Kommunikationsprotokoll wie beispielsweise Tor. Die vermeintliche Dezentralität beruht darauf, dass jeder Teile der Blockchain abrufen und auf eigenen Ressourcen neu veröffentlichen kann. Wenn das allerdings nur normale Websites sind, können sie auch genau so einfach gesperrt werden, wie gewöhnliche Websites. Gegen die Große Firewall von China ist die Blockchain deshalb absolut kein Rezept.)

No crypto for you!

Zur Ehrenrettung von Snowden muss man aber sagen. In dem vom ACLU promoteten Interview sagt er, auf die Frage, dass die Ablösung von Technikgiganten durch die Blockchain-Technik „wishful thinking“ ist. Dann aber kommt es nochmal dicke.

If a teenager in Venezuela wants to get paid in a hard currency for a web development gig they did for someone in Paris, something prohibited by local currency controls, cryptocurrencies can make it possible. Bitcoin may not yet really be private money, but it is the first “free” money.

Snowden mag zurecht frustriert darüber sein, dass US-basierte oder von den USA abhängige Zahlungsprovider Spenden für Organisationen wie Wikileaks sehr schwer machen. Das Problem ist aber: Der Teenager in Venezuela hat von den Cryptocurrencies ziemlich wenig zu erwarten. Denn seine Regierung kontrolliert die Bäckereien. Und sie hat eine eigene Krypto-Währung, den Petro. Und sie hat sich ein Ausweis-System aus China eingekauft, mit dem kontrolliert werden kann, was der Teenager kauft – und ob er es überhaupt kaufen darf.

Am Schluss sagt Snowden etwas, dem ich mich anschließen kann.

The hype is a world where everything can be tracked and verified. The question is whether it’s going to be voluntary.

Anders formuliert: Dass Blockchain Probleme wie Zentralität und Zensur lösen, ist in etwa so wahrscheinlich wie eine Lösung des Klimawandels durch Carsharing. Die Technik mag funktionieren und zuweilen sogar einen positiven Effekt haben — dazu müssen aber verdammt viele Rahmenbedingungen stimmen. Technik alleine kann soziale Probleme nicht lösen.

PS: Nach viel Kritik auf Twitter hat sich die ACLU entschlossen, den Tweet zu löschen und durch eine bullshitfreie Version zu ersetzen.

Auch Unternehmen wollen Datenschutz

Das Jahr 2018 wird geprägt werden von der Umsetzung der europäischen Datenschutz-Grundverordnung und dem zunehmend schrilleren Lobbykampf um die ePrivacy-Verordnung. Auch die künftige Digitalministerin Dorothee Bär stellt den Datenschutz als Hemmnis für Wirtschaft und Innovation dar.

Diese einseitige Sichtweise teile ich jedoch nicht. Zwar würde ich es zum Beispiel auch begrüßen, wenn wir einen funktionierenden Streetview-Dienst in Deutschland hätten. Aber man darf gleichzeitig auch nicht vergessen: Für sich selbst nimmt die Wirtschaft sehr wohl jeden Datenschutz in Anspruch, den sie bekommen kann.

Pressestellen sind Eigendatenschutzbehörden

In meiner Praxis als Journalist ist das für mich offensichtlich. Wenn ich zum Beispiel einen Experten oder Sachbearbeiter eines Konzerns oder Wirtschaftsverbandes interviewen will, arrangiert die Pressestelle meist eine Telefonkonferenz, bei der auch ein Vertreter der Unternehmenskommunikation sehr genau mithört, was im Gespräch gesagt wird, welche Informationen aus dem Unternehmen nach draußen dringen. Das ist natürlich auch ein legitimes Interesse von Unternehmen.

Manchmal ist es das auch nicht. Ich habe grade zu Algorithmen im Finanzbereich recherchiert und bin darauf gestoßen, dass Unternehmen mitunter drauf bestehen, dass ihre Registrierkasse die rückstandslose Löschung von Buchungen zulässt. Und wenn Leute aus meiner Berliner Twitter-Blase sich darüber beklagen, dass mal wieder ein Taxifahrer die Zahlung per Kreditkarte verweigert, dann liegt es wohl oft genug daran, dass die Kreditkartenumsätze vor den Steuerbehörden nicht verschwiegen werden können.

Einer der Gründe, warum ich den Heilsversprechen der Blockchain-Industrie so skeptisch gegenüberstehe ist dieser unternehmerische Drang zum Eigen-Datenschutz. Es klingt zwar toll, wenn Unternehmensdaten fälschungssicher und dezentral abgelegt werden. Man kann die Unternehmen aber nur in Ausnahmefällen dazu zwingen, ihre genauen Daten offenzulegen. Und Kryptographie alleine kann sie nicht davon abhalten zu lügen.

Geschäftsmodell als Privatsache

Mir kommen zum Beispiel immer wieder Klagen zu Ohren, dass Konzerne wie Amazon ihren Datenzugriff auf die eigene Plattform dazu benutzen, lukrative Geschäftsmodelle zu identifizieren und dann mit ihrer überlegenen Kapitalmacht und Infrastruktur zu übernehmen. Verlegt man Unternehmensinformationen auf eine Blockchain, ist dies kaum vermeidbar.

Es reicht ja mitunter, einen winzigen Aspekt eines Geschäfts transparent zu machen, damit die Konkurrenz sehr genau die eigenen Umsätze abschätzen kann. Aus Sensordaten, die so banale Dinge wie eine Kühlkette sicherstellen sollen, kann man mit ein paar Kalkulationen den Lagerbestand ermitteln. Wenn im Güterhafen von Rotterdam Dein Unternehmen als Empfänger eines Containers voller Quinoa oder China-Gadgets öffentlich markiert wird, bekommt man mitunter sehr genaue Einblicke über Deinen Absatz, Lieferanten, etc. Big Data ist zwar nicht so allmächtig wie es zuweilen dargestellt wird — in dem Umfeld des An- und Verkaufs sind der Technik aber kaum Grenzen gesetzt.

Plattformen nutzen Daten für sich

Das Problem wird auch nicht gelöst, indem man Blockchains nicht öffentlich lesbar macht, sondern in einer Art Privat-Cloud ablegt. Denn dann hat man immer noch Geschäftspartner im Daten-Verbund, vor denen man naturgemäß am meisten Konkurrenz befürchten muss. So gibt es schon heute Beschwerden, dass Amazon sich seinen Marketplace sehr genau ansieht und irgendwann entscheidet, ein profitables Geschäft mal eben selbst zu übernehmen. Und dieses Plattform-Denken greift immer mehr um sich.

Aber wie so oft geht es nicht um die Technik oder das Medium Blockchain — es macht aber die bestehenden Probleme und Zusammenhänge ein wenig sichtbarer als vorher. Was ich mir von einer Digitalministerin erhoffe, ist zum Beispiel eine gründliche Erforschung der Frage, wie es denn um Daten bestellt ist, welche Interessen für und welche Interessen gegen Transparenz stehen.

Dabei sollte sie aber keiner Wirtschafts-Scheuklappen aufsetzen. Transparenz ist keine Einbahnstraße. Wer sie für andere, für seine Kunden, für die Allgemeinheit fordert, sollte nicht zurückstehen, sobald es um die eigenen Daten geht.

„Datenschutz aus dem 18. Jahrhundert“

Die neue Digital-Staatsministerin Dorothee Bär wird grade wegen ihrer unbestreitbaren Kompetenz mit Vorschuss-Lorbeeren überschüttet. Ich weiß ehrlich gesagt nicht so viel über sie. Aber ich bin eben zufällig über ein Interview mit ihr gestolpert.

Da steht aber – wie so oft – der gute alte deutsche Datenschutz davor. Bär: Richtig! Wir brauchen deshalb endlich eine smarte Datenkultur vor allem für Unternehmen. Tatsächlich existiert in Deutschland aber ein Datenschutz wie im 18. Jahrhundert.

Ich weiß, das ist nicht wörtlich gemeint. „Wie im 18. Jahrhundert soll eigentlich nur heißen: „Das ist gaanz, gaaaaanz veraltet“. Und „wie im 18. Jahrhundert“ klingt halt gebildeter, ministerieller. Und doch…

Und doch wünsche ich mir, dass eine Digitalministerin weiß, dass unser Datenschutz ausdrücklich aus dem 20. Jahrhundert stammt. Aus Gründen. Da gab es zum Beispiel ein Regime, das Großkunde von IBM war und damit das staatliche Großprojekt namens Holocaust organisierte. Und dann gab es noch das andere Regime, dessen minutiöse Aufzeichungen über Millionen Bürger immer noch aus Fetzen zusammengesetzt wird. Daher stammt unser Datenschutz. Und wir sind noch im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts — also ist das viel zu früh, das 20. Jahrhundert zu vergessen oder es einfach mit kleinen Witzchen beiseite zu wischen.

(Ich würde mir auch wünschen, dass eine Politikerin der Partei, die ein Heimatministerium durchgesetzt hat, ein wenig Kenntnis deutscher Literatur hat. Im 18. Jahrhundert bestand der Datenschutz darin, dass man Geheimnisse besser gut versteckte und wenn es nicht klappte, musste man halt sein Dorf verlassen oder in einen fernen Krieg ziehen.)

Aber ich weiß, das ist nicht wörtlich gemeint. Genau so wie solche Sätze: „Könnten Daten deutscher Patienten mit weltweiten Datenbanken abgeglichen werden, wäre eine Diagnose oft schneller da, als sie zehn Ärzte stellen können.“ Das ist eine Metapher, denn um zehn Ärzte zu sehen, braucht man mindestens ein Jahr.

Da diese Platitüde aber auch der Slogan des neuen Gesundheitsministers ist, können wir uns schon mal drauf einstellen, dass unsere Gesundheitsdaten tatsächlich um die Welt geschickt werden sollen. Drüben über dem Atlantik wurde grade versucht, die Krankenversicherung für Lehrer in West Virginia an ein modernes Programm namens Go365 zu knüpfen. Wer da Fitness-Ziele nicht erfüllt, keinen Fitbit mit sich führt und auch kein automatisiertes Schlaf-Logbuch anlegt, muss halt für die Krankenkasse etwas mehr bezahlen. Das wurde per Streik zwar grade noch verhindert, aber es war halt auch nur der erste Versuch.

Netzrealpolitik

Wir hören immer wieder die Definitionskämpfe um den Begriff Netzpolitik. Netzpolitik ist wichtig. Netzpolitik ist gut. Und ich bin viel Netzpolitiker als Du.

Doch wie ist die Realität?

Netzrealpolitik bedeutet mit dem Fuß aufzustampfen und zu behaupten, dass der andere die gesellschaftlichen Umwälzungen Umwälzungen nicht begreift.

Netzrealpolitik heißt, Meme zu finden, die man gegen die anderen in Stellung bringen kann. Kinderpornografie, Zensur, Katzentatzen — was auch immer wirkt. Sachinhalte sind nicht so wichtig, in drei Tagen ist es eh vergessen.

Netzrealpolitik heißt, Kontakte zu knüpfen, als ob man einen Klout-Rekord brechen will. Followe mir, ich folge Dir zurück. Aber das heißt nicht, dass ich Dir zuhöre. Jedenfalls nicht, wenn Dein Klout-Score zu gering ist.

Netzrealpolitik ist eine Fortsetzung der Inszenierung. Ein getwittertes Abendessen ist manchmal mehr wert als ein halber Gesetzentwurf.

Netzrealpolitik ist es den Unternehmen zuzuhören, die einem am nächsten stehen.

Netzrealpolitik ist Google. Für Google. Gegen Google. Mit Google. Auf Google Plus.

Netzrealpolitik ist Facebook. Auf Facebook. Gegen Facebook.

Netzrealpolitik ist klicken, klicken, klicken.

Netzrealpolitik ist Transparenz zu fordern. Und an ihr zu verzweifeln.

Netzrealpolitik braucht instant gratification. Besonders für mich.

Netzrealpolitik ist Realpolitik.

Der so genannte Schultrojaner

Odsseus: *Klopf Klopf*
Hektor: Wer da?
Odysseus: Wir sind’s die Griechen. Wir holen Helena ab.
Hektor: Nur über meine Leiche. Mein Bruder wird dies niemals zulassen.
Odysseus: Doch, sicher. Sieh her: er hat die Kapitulation unterschrieben.
Hektor: Niemals!
Paris: Doch, das hab ich unterschrieben. Helena hat schon gepackt. Komm rein, Odysseus.
Hektor: Moment Mal!
Odysseus und Hektor: Ja…?
Hektor: Da fehlt doch etwas. Wo ist das Pferd?
Odysseus: Welches Pferd?

Lange Rede, kurzer Sinn. Der „sogenannte Schultrojaner“ ist kein Trojaner. Er wird nicht ohne Wissen der Administratoren installiert, er kommt durch keine Backdoor und installiert auch keine, er versteckt sich nicht hinter anderen Funktionen.

„Schultrojaner“ ist lediglich ein Kampfbegriff, eine Stimmungsmache, die die falschen Ängste weckt. Das erspart einem zwar viel Erklärungsarbeit, wo jetzt genau der Skandal liegt und sorgt für schnelle politische Ergebnisse, aber es ist dennoch ein irreführender Kampfbegriff. Und wenn man das bei Politikern schlimm findet, sollte man selbst sorgsam mit der Sprache umgehen.

„Wir haben verallgemeinert und überzeichnet“

Vor ein paar Wochen war ich auf dem Medienforum Köln. Auf einem Panel — es ging um Rundfunkregulierung und die Konzentrationsbeschränkungen — saß jemand von RTL und jemand von ProSiebenSat1. Der Moderator sagte etwas in der Art, dass RTL ja zum Glück nicht mehr von dem Problem betroffen sei und der Angesprochene konnte nur säuerlich nicken.

Ich gucke RTL nicht. Ich kann mich nicht einmal erinnern auf welchem Programmplatz ich den Kanal auf meinem Fernseher abgelegt habe. Wenn jemand etwas vor mir verbergen will, soll er es über die RTL-Frequenzen in 40 Millionen Haushalte schicken – ich werde es nie erfahren. Trotzdem habe in der letzten Woche einen Einblick bekommen, warum der einstige Fernseh-Pionier, das Schreckgespenst der Eltern in meinem Kinderalter, nicht mehr unbedingt den besten Stand hat.

Da ist zum einen dieser dämliche Bericht über einen der „vielleicht klügsten Kopf NRWs“. Der hat ein Betriebssystem programmiert, das Windows- und Mac-Programme gleichermaßen ausführt. „Eine Weltneuheit“, resümiert der Reporter von „Guten Abend RTL“. Natürlich war es keine Weltneuheit, natürlich haben ein paar Schüler kein neues Betriebssystem entwickelt, das mal eben nativ Windows- und OS X-Programme ausführen kann. Aber das hat RTL auch nicht interessiert. Man sehe sich nur die Bauchbinde von einem Interview mit den hoch begabten Teenagern an.

„Ist erst 16 Jahre alt“. An solchen Bildunterschriften sind keine Budgeteinsparungen schuld, keine Koketterie, keine geheime Markenstrategie. Es ist pures Desinteresse. Das Thema hat mit Computern zu tun? Schnell, schmier ein paar Klischees drüber, denn UNSERE ZIELGRUPPE INTERESSIERT DAS NICHT“ (An dieser Stelle stelle man sich den Zurück-in-die-Zukunft-Bösewicht Biff Tannen vor, wie er den zuständigen Redakteur am Kragen packt und ihm auf die Stirn klopft „Hallo??? Ist irgendjemand ZU HAUSE???“)

Und dann noch diese Unsäglichkeit zur Gamescom, über die anderswo nun wirklich genug geschrieben wurde. Meine Frage ist da: Merkt ihr noch was? RTL2 kriecht der Internet-Zielgruppe zu jeder Gelegenheit — also wenn eine Veranstaltung im Umkreis von Köln stattfindet und die Anreise nichts kostet — mit Anlauf in den Allerwertesten. Dann werden relativ unspektakuläre ESL-Ausscheidungen zum Top-Thema in den Haupt-„Nachrichten“ des Konservensenders. RTL hingegen will seriös sein und packt quasi jeden Erwachsenen unter 35 in die Freak-Schublade.

Ich weiß: ich überhöhe hier zwei dämliche Beiträge zweier dämlicher Sendungen. Bemerkenswert finde ich aber die Stellungnahme in eigener Sache, die RTL zur Besänftigung der Gamer nachgeschoben hat: „Wir haben verallgemeinert und überzeichnet“ heißt es da. Als ob „RTL explosiv“ das nicht nach jedem Beitrag zu jedem Thema sagen könnte. Dass sie es diesmal ausgesprochen haben, liegt an einem kleinen Shitstorm, den die Gamer inszeniert haben. Und nach 10 Jahren Netzpolitik kann ich sagen: Die Gamer sind nicht besonders gut im politisch-medialen Spiel. Dass sie sich über RTL-Sendungen aufregen, liegt vermutlich daran, dass sie das Programm gar nicht mehr kennen.

Wenn man nach Klischees geht, sind Öffentlich-Rechtliche verstaubt, in der Vergangenheit verhaftet, Loriot ist einer ihrer frischesten Comedians. Doch sie haben mittlerweile die dritte Generation an Computermagazinen am Start, die wahrscheinlich 17jährige nicht übermäßig ansprechen, aber sie doch nicht verspotten. Was läuft auf RTL und ProSieben, was den Normal-Nerd (ja, Nerd-Tendenzen sind heutzutage ziemlich Mainstream) interessieren würde? Wo bekommt man Gedankenfutter her, das nicht in den USA hergestellt und in deutschen Synchronstudios hemmungslos kastriert wurde? Wo ist die Computersendung von RTL? Oder eine Sendung die sich für Facebook-Nutzer interessiert, die nicht nur lustige Videos sammeln oder von finsteren Typen vergewaltigt werden? Wo?

Ein Streiter für das Netz ist von uns gegangen

Eine sehr schlechte Nachricht hat mich soeben erreicht: Jörg-Olaf Schäfers ist tot.

Es fällt mir schwer die richtigen Worte zu finden. Sein Tod ist ein persönlicher Verlust und ein kaum zu schätzender Verlust für die deutsche Netzszene. Mit seinem unermüdlichen Engagement hat er den Weg für viele Entwicklungen bereitet, die in Artikeln immer wieder als Errungenschaften des Netzes gefeiert werden, als unvermeidliche Folgen des Medienwandels.

Doch die Wahrheit ist immer eine andere. Hinter den Kämpfen um Netzzensur, um vernünftige Sicherheitsmaßnahmen, um ein Stückchen Vernunft im alltäglichen Wahnsinn stecken Leute wie Jörg-Olaf. Wenn er ein Ziel auserkoren hatte, war er durch fast nichts zu stoppen. Er sammelte Informationen, dokumentierte und rief zur Aktivität auf. Doch so aktiv wie er konnte kaum jemand anderes sein. Er beließ es nicht dabei, sich lauthals zu beschweren und Verschwörung zu rufen, sondern arbeitete sich in komplizierte Materie ein, sichtete Sitzungsprotokolle, telefonierte mit Verantwortlichen und warb für seine Ziele. Für unsere Ziele. Mit unbändiger Energie hat er sich in den Kampf geworfen, gestritten und blieb doch immer wieder seine Idealen treu. Wer kann das noch von sich behaupten?

Wie lange wir uns kannten – ich weiß nicht mehr. In meiner Ecke des Netzes war er schon vor 10 Jahren nicht zu übersehen – damals noch oft unter seinem Kürzel „ix“. Ich sah ihn auf Mailinglisten, in Foren, im IRC. Wir sprachen über den WDR-Computerclub, über Politik, lästerten über Usenet-Zeiten und die gleichen dummen Sprechblasen, die wir von alten und neuen Politikern hörten. Irgendwann trafen wir uns auf der Verleihung des Big Brother-Awards in Bielefeld. Und trafen uns danach so einmal alle ein bis zwei Jahre. Aber immer war ein Chat-Fenster auf, in dem wir uns austauschen konnten. Ihn konnte ich immer um Rat fragen und wurde ernst genommen.

Es bleibt an dieser Stelle nur eins zu sagen: Jörg-Olaf, danke Dir für alles.

Die vielen Seiten von Netzneutralität

Zur Zeit ist ja viel Geschrei „für“ oder „gegen“ Netzneutralität. Doch die spannende Frage ist: was ist Netzneutralität überhaupt?

Gerade versuchen die Provider Vodafone und Deutsche Telekom ihre Diensteklassen als ultimative Lösung zur Netzneutralität zu verkaufen — was eindeutig nicht meinem Verständnis des Wortes Netzneutralität entspricht, sondern so ziemlich genau das Gegenteil davon darstellt. Die Idee entspricht mehr dem System „BTX“ und nicht dem weltumspannenden Internet, wie wir es heute kennen. Das konnte sich nur durchsetzen, weil niemand mit Rechenschiebern Bytes und Sendeminuten zählte und nach altbekannten Tarifen abrechnete.

Doch die spannende Frage ist weiter unbeantwortet: Was ist Netzneutralität überhaupt? Es hat was mit „gleichberechtigtem Zugang“ zu tun, aber wie geht es weiter?

Ein drei Meldungen vom Tage:

  • Google verbannt Freehoster co.cc aus seinem Index: Google ist als marktführender Suchdienstleister einer der zentralen Dienstleister der heutigen Internetwelt. Nach welchen Regeln kann sich dieses Unternehmen einfach Teile des Netzes aus seinem Index entfernen, wenn nicht Mal alle davon Malware verteilen?
  • Der neue Bitkom-Chef überlegt virenversuchte Rechner unter Quarantäne zu stellen. Wer eine Virenschleuder betreibt wird vom Netz getrennt. Sinnvoll, oder? Mein Provider Netcologne macht das heute schon. Aber haben wir in den letzten Jahren nicht gehört, dass es für Privatpersonen quasi unmöglich ist, zu Hause die Internetsicherheit einzuhalten? Wie soll es Tante Paschulke gelingen, was nicht Mal Sony schafft? Und wenn Tante Paschulke ihren Rechner nicht anschaltet, erfährt sie nicht Mal, dass ihr IP-gestütztes Telefon nicht mehr funktioniert oder die AAL-Dienste, die das Leben per Internet lebenswerter machen sollen. Soll man Tante Paschulke diskrimieren oder die User, die mit Spam-Mails und Viren zugeschüttet werden?
  • Verizon beendet die unbegrenzten Datentarife. Na und? Es sind ohnehin nur ein Prozent der Kunden, die über 5 Gigabyte verbrauchen. Warum sollen die das Netz verstopfen dürfen? Andererseits: Gerade Mobilfunkanbieter entdecken gerade den Videovertrieb als neuen Einnahmezweig. Wenn die Videostreams im eigenen Mobilfunknetz nicht ins Datenvolumen einfließen, ist das doch nur Kundendienst, oder? Wer wollte Verizon zu anderem zwingen?

Eine konsistente Definition von Netzneutralität würde all diese Punkte betreffen – und Tausende anderer Fälle. Und wie auch immer diese Definition aussehen würde — ein Teil der Antworten, die durch die Netzneutralitäts-Direktive vorgegeben würden, würden uns gar nicht gefallen. Egal, welches „uns“ dabei grade gemeint ist.

Löschen vor Sperren, präventiv

Gestern habe ich über den Widerstreit in NRW zwischen dem Grundsatz „Löschen statt Sperren“ und den real existierenden Sperrverfügungen geschrieben.

Da sich die Bundespolitik grade unter sehr schmerzhaftem politischen Bedingungen dagegen entschieden hat, Websperren gegen Kinderpornografie zu etablieren, fällt die Begründung bei dem vergleichsweise harmlos erscheinenden Thema Glücksspiel und Sportwetten schwer. Schließlich ist Poker doch ein regelrechter Familienspaß für Erwachsene, wenn man das Fernsehprogramm von Pro7 und Co als Orientierung nimmt.

In der Antwort auf eine Kleine Anfrage eines Abgeordneten der Fraktion „Die Linke“ liest sich das so:

Die Landesregierung steht dem Mittel der Internetsperre durchaus kritisch gegenüber, selbst  wenn dieses – wie im Glücksspielstaatsvertrag – nur als ultima ratio zur Anwendung gelangt. Internetsperren sind wegen der bekannten Umgehungsmöglichkeiten nur begrenzt wirksam,  bergen aber zugleich die Gefahr problematischer Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger. Allerdings müssen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Rechtsdurchsetzung nach Ansicht der Landesregierung auch im Internet gewahrt werden, kriminelle Machenschaften  müssen auch dort konsequent und effektiv bekämpft werden.

Nach einem generellen Verzicht zu Netzsperren gefragt, lautet die Antwort so:

Die Landesregierung begrüßt den Beschluss  des Bundeskabinetts vom 13. April 2011, auf  Netzsperren zur Bekämpfung kinderpornographischer Inhalte zu verzichten und diesen vielmehr nach dem Grundsatz „Löschen statt Sperren“ zu begegnen. Die Entscheidung entspricht der Auffassung der Landesregierung,  dass diese Methode, dort wo sie Erfolg verspricht, zur Bekämpfung illegaler Inhalte stets vorzugswürdig ist. Das ist im Bereich der Kinderpornographie der Fall, da deren Verbreitung weltweit als kriminelle Handlung angesehen  wird und Bitten deutscher Stellen um Löschung entsprechender Dateien auf ausländischen  Servern daher mittlerweile in den meisten Fällen zeitnah entsprochen wird.

Der Grundsatz gilt also nur dort, wo Löschen erfolgreich ist. Aus „Löschen statt Sperren“ wurde so „Löschen vor Sperren“. Also wo ist das kriminelle Treiben, von dem weiter oben die Reden war?

Davon unterscheidet sich die Situation beim illegalen Glücksspiel. Die zumeist im Ausland  ansässigen Anbieter von Online-Glücksspielen verfügen regelmäßig über eine Zulassung in
dem jeweiligen Staat, die es ihnen gestattet, auch Kunden in Deutschland die Spielteilnahme  zu ermöglichen (sog. Offshore-Lizenzen). Daher schreiten die Behörden dieser Länder selbst  dann nicht gegen solche Angebote ein, wenn sie von deutschen Stellen darauf hingewiesen  werden, dass diese ohne die Erlaubnis der zuständigen Glücksspielaufsichtsbehörden nach  hiesigem Recht illegal sind.  Von daher bedarf es alternativer Methoden, um das illegale Glücksspiel im Internet zu bekämpfen.

Fassen wir zusammen: Da die großen Glücksspielanbieter in anderen Ländern legal sind, kann man sie nicht löschen lassen. Da sie hier nicht legal sind, qualifizieren sie sich als „kriminelle Machenschaften“, die konsequent bekämpft werden müssen.

Dennoch sind die Websperren nicht etwa als Strafe zu sehen:

Der Entwurf sieht die Möglichkeit von Sperrverfügungen vor, die jedoch nicht der Sanktionierung, sondern der Verhinderung illegaler Glücksspielangebote dienen und damit präventiven  Charakter haben.

Dies erklärt auch, dass die Glücksspielanbieter, die von den Sperrverfügungen betroffen wären, bisher offiziell nicht informiert wurden.

Trotzdem will die Landesregierung jetzt nochmal intensiv darüber beraten, ob man auf die Netzsperren verzichten kann.