Dr. Leaks – oder: Julian auf der Flucht

Bild.de hat einen neuen Spitznamen für Julian Assange:

Entkommt Dr. Leaks den britischen Behörden?

Das könnte natürlich eine ungelenke Kimble-Anspielung sein. Mich erinnert das jedoch eher an eine Szene aus „The Big Bang Theory“.

Sheldon: Leonard is upstairs right now with my archenemy.
Penny: Your archenemy?
Sheldon: Yes: the Dr. Doom to my Mr. Fantastic, the Dr. Octopus to my Spiderman, the Dr. Sivana to my Captain Marvel…
Penny: OK, I get it, I get it…
Sheldon: You know, it’s amazing how many supervillains have advanced degrees. Graduate schools should do a better job of screening those people out.

Dr. Leaks ist zweifellos der Name eines Super-Schurken aus dem Reich von Batman und Superman. Das Wikileaks-Drama in den Medien kann eigentlich nur noch absurde Züge annehmen.

Ferndiagnose einer Ferndiagnose

Es wird ja viel Mist zu Wikileaks geschrieben. Es ist deprimierend mit anzusehen, wie eine so komplexe Story in Banalitäten und Info-Schnippsel zerteilt und über 24-Stunden-Infotainment-Kanäle in die Bevölkerung gepumpt wird. Man kann die größten Skandale offenbaren – und trotzdem ändert sich nichts an dieser korrupten Welt.

Das hat auch Arno Frank mitbekommen und schildert uns die vielen Unzulänglichkeiten der Berichterstattung – angefangen von dem peinlichen Interview bei CNN bis hin einem bitter-bitter-bösen Artikel der New York Times, über den sich Julian Assange medienwirksam mokiert hat.

Er lebt, wenn er nicht in wechselnden Wohnungen auf einem Sofa übernachtet, in einer einsamen Hütte in Nordschweden. Er war Hacker. Er ist ein egomanischer Tyrann. Er wechselt seine Mobiltelefone wie andere Männer ihre Hemden. Er bezahlt nie mit Kreditkarte, sondern immer nur bar, und das Geld leiht er sich von Freunden.

[…]

Genau so las man’s in der New York Times, die ihrer Berichterstattung zu den Enthüllungen von Wikileaks ein Fernpsychogramm von Julian Assange beistellte. Um zu ihrem Fazit zu kommen, dass der Typ ein gefährlicher Irrer ist, mussten Journalisten nicht einmal bei einem Psychiater einbrechen. Wikileaks tut, was eigentlich Aufgabe des Journalismus wäre. Darauf reagiert der Journalismus gereizt und gekränkt.

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Frank den New York Times-Artikel ebenfalls nur ganz aus der Ferne gelesen hat. Denn von einer Ferndiagnose kann absolut keine Rede sein: Reporter der Zeitung haben Assange – zumindest kurz – in London begleitet, sie haben viele Menschen aus dem Umfeld von Wikileaks interviewt, sie haben ihre Büros in Kabul und in Washington zu Rate gezogen. Das ist es, was Journalismus, was Recherche ausmacht. Welche Arbeit hat sich Frank gemacht? Nun, er hat den New York-Times-Artikel angesehen und möglichst irreführend wiedergegeben.

Zum Beispiel: was schreibt die New York Times über die Ermittlungen in Schweden gegen Julian Assange? Bei Frank liest sich das so.

Er hat zwei Frauen vergewaltigt. Okay, sexuell belästigt. Na gut, dann eben nur belästigt. Oder auch nicht.

Die New York Times hat Assange also unbelegte Vorwürfe gemacht und sich dabei aber in Widersprüche verstrickt. Wirklich?

He is also being investigated in connection with accusations of rape and molestation involving two Swedish women. Mr. Assange has denied the allegations, saying the relations were consensual. But prosecutors in Sweden have yet to formally approve charges or dismiss the case eight weeks after the complaints against Mr. Assange were filed, damaging his quest for a secure base for himself and WikiLeaks. Though he characterizes the claims as “a smear campaign,” the scandal has compounded the pressures of his cloaked life.
[…]
Within days, his liaisons with two Swedish women led to an arrest warrant on charges of rape and molestation. Karin Rosander, a spokesperson for the prosecutor, said last week that the police were continuing to investigate.

Man kann dies als nüchterne Zusammenfassung der Ereignisse lesen. Man kann aber auch nach Reizwörtern suchen und daraus einen Angriff auf Assange stricken. Ich weiß schon, welche Alternative ich als „tabloid“-Journalismus bezeichnen würde.

PS: Wer den kritischen Journalisten in sich entdecken will und die Rolle der Medien analysieren will, kann zum Beispiel den Schwerpunkt der Berichterstattung in verschiedenen Medien vergleichen. Als am Freitagabend die Sperrfrist von Wikileaks zu den Irak-Akten endete, kamen zum Beispiel Al Jazeera und CNN zeitgleich mit Sonderberichten heraus. Während sich der arabische Sender in seinem englischsprachigen Programm vor allem Einzelschicksalen widmete, die durch die US-Militärakten enthüllt wurden, brachte CNN eigentlich nur Berichte über die Berichterstattung. Was sagt das Pentagon? Was sagt der Mann auf der Straße – und das zu einem Zeitpunkt, wo niemand Gelegenheit hatte in das Material zu schauen. CNN selbst hätte die Gelegenheit gehabt – und hat die Inhalte zu Gunsten einer Sprechblasen-Berichterstattung ignoriert.

Weitere spannende Frage: Führt die Publikation zu einer Stärkung der Anti-Irakkriegs-Bewegung oder sind sie eher Antrieb für diejenigen, die einen Krieg gegen den Iran fordern. Denn sobald die Rechtsausleger an der Wikileaks-Bedrohung abgearbeitet haben, dann werden sie in den 400000 Akten viel Material finden, was sie in ihrer Überzeugung bestärken wird, dass der Iran eine unmittelbare Bedrohung sei.

PS 2: Den Cameo-Auftritt von Assange bei dem Comedy-Format Rap News finde ich lustig – er ist aber absolut unvereinbar mit seinen Beschwerden über die Personalisierung der Wikileaks-Berichterstattung und dem „tabloid journalismus“. Natürlich wird der Kampf um Wikileaks in den Medien geführt und natürlich bedient sich die US-Regierung der US-Medien, um die Glaubwürdigkeit von Wikileaks anzugreifen. Journalisten, die sich so instrumentalisieren lassen, betreiben schlechten Journalismus. Für Assange aber gibt es wohl nur ein Kriterium für guten Journalismus: er muss schreiben, was Assange will. Und alleine das.

Ich weiß, was Du 2007 getan hast

Kaum fängt die ernsthafte Aufarbeitung von Wikileaks als Phänomen an, verwandelt sich die Plattform in den Schauplatz einer soap opera. Mit Zerwürfnissen, Intrigen und Geheimnissen.

Domscheit-Berg: i already told you up there
Assange: those are the only persons?
Domscheit-Berg: some folks from the club have asked me about it and i have issued that i think this would be the best behaviour
Domscheit-Berg: thats my opinion
Domscheit-Berg: and this is also in light to calm down the anger there about what happened in 2007
Assange: how many people at the club?

Vor einiger Zeit hatte Wikileaks eine verschlüsselte Datei als „insurance“ veröffentlicht. Wenn jemand gegen Wikileaks vorgeht, soll der Schlüssel veröffentlicht werden und alle Geheimnisse würden so bekannt werden. Ein fragwürdiges Unterfangen – zeugt es doch davon, dass Wikileaks auf Dauer Informationen zurückhält. Zudem: eine solche Strategie funktioniert nur bei einem spezifischen Gegner, den Wikileaks allerdings nicht hat. Kein Wunder, dass Daniel Schmitt/Domscheit-Berg damit wenig anfangen konnte, wie auch mit dem sonstigen Geheimdienst-Getöse um Assanges Privatleben.

Nun hat also jemand anders diese Taktik angewandt. Eine ominöse Begebenheit aus dem Jahr 2007 wird ins Gespräch gebracht, die so skandalös ist, dass Julian Assange unbedingt kontrollieren will, wer davon weiß. Ein Geheimnis, das von einem engen Zirkel gewahrt wird und Assange und die Plattform Wikileaks ernsthaft diskreditieren könnte.

Allmählich muss ich sagen: bei dem Kindergarten-Theater fällt die ernsthafte Analyse schwer. Ich freue mich lieber auf die Verfilmung der Wikileaks-Story. Keanu Reeves wird mit weißen Haaren bestimmt gut aussehen.

Popcorn-Krieg um Wikileaks

Ich habe die Geschichte um die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange als Strohfeuer bezeichnet. Aber in diesem Sommer gibt es offenbar keinerlei Mangel an Stroh, so dass die Geschichte wohl noch einige Zeit Schlagzeilen verursachen wird.

Gerade habe ich den Tagesspiegel-Artikel von Christoph von Marschall gesehen, der mit der Märchenstunde um Julian Assange aufräumen will.

Die meisten US-Zeitungen schlagen einen distanzierten, aber nicht unfreundlichen Ton an. Viele deutsche Zeitungen lassen ihre Sympathie mit Assange und ihr Misstrauen gegenüber US-Militär und Geheimdiensten durchklingen. Die meisten deutschen Online-Medien betreiben bewusst oder unbewusst die Stilisierung Assanges zu einem Robin Hood des Internets. In Konfliktfällen wird seine Darstellung breit zitiert. Fakten, die diesem Bild widersprechen, und die Darstellung der Gegenseite, werden oft weggelassen.

In der Tat haben in der Vergangenheit viele Behauptungen von Wikileaks über nicht standgehalten. Allerdings schießt von Marschall für meinen Geschmack etwas über das Ziel hinaus. Das liegt aber auch daran, dass ich jetzt grade nicht nachvollziehen kann, wie viele Aussagen von Assange, denen der Tagesspiegel-Autor widerspricht, tatsächlich gefallen sind oder eventuell verfremdet wiedergegeben wurden. Zudem: ob Wikileaks in den USA tatsächlich gegen das Gesetz verstoßen hat, ist keinesfalls geklärt.

Man muss aber gar nicht lange suchen, um eindeutige Widersprüche zu finden: So zitiert der Guardian Assange in einem lesenswerten Artikel über die Fakten zum Vergewaltigungsvorwurf den Wikileaks-Gründer:

In subsequent tweets and interviews, Assange suggested that the timing of the allegations against him was „deeply disturbing“. He told al-Jazeera on Sunday: „It is clearly a smear campaign … The only question is who was involved. We can have some suspicions about who would benefit, but without direct evidence, I would not be willing to make a direct allegation.“

Das ist eine Logik-Konstruktion, die mancher Politiker erst nach zermürbenden Jahren im politischen Kampf hinbekommt. Wenn die Vorwürfe Teil einer Kampagne gegen Assange sind, dann ist dies ganz logisch eine direkte Anschuldigung gegenüber den beteiligten Frauen.

Dass die Anschuldigungen gegenüber Assange bekannt wurden, überrascht keineswegs. Ergeht ein Haftbefehl, müssen viele Polizisten Bescheid wissen. Und Boulevardmedien legen viel Wert auf Beziehungen zur Polizei um eben solche Informationen zu bekommen. Auch eine Art von Transparenz.

Einige enthusiastische Wikileaks-Anhänger sind unterdessen nicht zimperlich dabei, die beteiligten Frauen zu ermitteln und zu beschimpfen. Besonders skurril: einige Leute legen sehr großen Wert darauf, dass eins der vermeintlichen Opfer eine „radikale Feministin“ sei. Aber keine Sorge: erste vermeintlichen Verbindungen zur CIA wurden schon identifiziert, die Verschwörungsspirale rotiert. Wem Fakten zu langweilig sind, muss sich nicht mit ihnen beschäftigen.

Der britische Blogger David Allen Green fasst es so zusammen:

But if the enemies of WikiLeaks had actually wished to bring discredit on it with some smearing conspiracy, then they would not have brought WikiLeaks as much discredit as some of its supporters have managed by themselves in the last few days.

Aber auch im anderen Lager gießt man reichlich Öl ins Feuer: ein Abgeordneter des US-Repräsentantenhauses fordert die Todesstrafe für den mutmaßlichen Whistleblower Bradley Manning:

Following news that an Army private was accused with leaking thousands of pages of intelligence documents related to the war in Afghanistan, Congressman Mike Rogers says he supports execution for the soldier involved if he is ultimately found guilty.

Character Assangination

Die Story Das Strohfeuer des Tages war: CSI, NSA oder MI5 haben dem Staatsfeind Nummer Eins etwas angedichtet. Diese Interpretation der Ereignisse kam nicht von ungefähr.

Die Wahrheit ist wahrscheinlich wesentlich simpler. Der Mann hat kein eigenes Bett. Und muss sich andere suchen. Der Rest ist ein emotionales Bermudadreieck.

P.S.: Die plumpe Schwarz-Weiß-Malerei auf Twitter und in Foren ist – wie zu erwarten – deprimierend blöde. Dem müssen sich natürlich die Online-Medien anschließen. So hat Süddeutsche.de einen Mitarbeiter in Stockholm aktiviert, der allerdings ebenfalls nur die Medienberichte aufzählt, die schon alle anderen zitiert haben. Der Artikel beginnt so:

Ist Wikileaks-Gründer Julian Assange ein Sexualtäter oder Opfer eines Geheimdienstkomplotts?

Für eine dritte Möglichkeit ohne Verschwörung oder Vergewaltigung reicht die Fantasie wohl nicht.