Bedingungsloses Grundeinkommen: Butter bei die Fische

Jeff Bezos ist der vermutlich reichste Mensch der Welt. Laut Forbes.com betrug sein Vermögen im September 167 Milliarden Dollar, also 146 Milliarden Euro. Natürlich schrumpft das Vermögen, wenn er tatsächlich Amazon verkaufen sollte – sagen wir also der Einfachheit halber: er hat 100 Milliarden Euro in bar. Das hieße, er könnte einer Stadt mit 100.000 Bewohnern auf 100 Jahre ein Bedingungsloses Grundeinkommen von 10000 Euro pro Jahr garantieren. Oder einer Stadt mit einer Million Einwohner fünf Jahre lang ein Einkommen von 20000 Euro pro Jahr. Beides – und die Zwischenstufen — wären lohnende Experimente.

Das Geld der Anderen

In der Schweiz scheitert grade ein Projekt, das 770 Einwohnern eines Dorfes ein altersabhängiges Grundeinkommen zwischen 551 und 2200 Euro auszahlen sollte. Für ein Jahr. Der Grund für das Scheitern: Es gab zu wenig Leute, die Geld verschenken wollten. Ich finde das nur allzu verständlich. Denn ein paar Dorfbewohnern Geld in die Hand zu drücken ist kein Experiment in neuen Lebensformen, es ist schlichtweg eine Werbekulisse. Als ob ein James-Bond-Film im Dorf gedreht wird und plötzlich jeder Bauer seine Scheune teuer vermieten kann und Achtjährige Statistenhonorare kassieren. Alle freuen sich, jedem geht es besser. Ist der Film abgedreht, ist das Experiment wieder vorbei, ist hoffentlich alles wieder wie vorher. Plus ein wenig Geld. Für ein neues Scheunendach oder die Ausbildung des Achtjährigen.

Ein Bedingungsloses Grundeinkommen minus Geld von anderen ergibt: Nichts.

Wenn ich von solchen Pseudo-Experimenten lese, bin ich immer etwas erstaunt: Was wollen die Leute da noch lernen? Es ist eigentlich schon gut genug dokumentiert: Wenn Leute etwas mehr Ressourcen haben, geht es ihnen besser. Sie können Investitionen tätigen, zum Beispiel in einen Karrierewechsel. Leute wissen sich zu beschäftigen. Die wenigsten werden sich für ein Jahr faul hinlegen und Playstation spielen. Selbst die Trump-Kinder haben Jobs. (Man sollte bei den Experimenten natürlich drauf achten, dass keine Heroin-Süchtigen oder Alkoholiker im Endstadium mitmachen – das gäbe mitunter unschöne Bilder. Und natürlich: Keine Trump-Kinder.)

Grundeinkommen brauchen Grundzahler

Rein auf Empfängerseite könnte man allenfalls mit langfristigen Effekten experimentieren, also wenn das Grundeinkommen für zehn Jahre und mehr garantiert ist. Welche Auswirkungen hat ein Grundeinkommen beispielsweise auf die Mieten? Müssen öffentliche Schulen schließen, weil die Kinder nun alle auf eine Privatschule gehen? Können Zugezogene auch partizipieren? Poolen die Leute ihr Geld, um Infrastrukturen wie dringend benötigte Dämme zu bezahlen? Wie sieht es aus mit der Lohnverteilung: Wenn niemand mehr für vier Euro im Schlachthaus schuften will, halbieren die Grundeinkommens-Empfänger dann ihren Fleischkonsum? Was in dem Experiment verhindert werden muss: Dass die Teilnehmer einfach in die Nachbarstadt fahren und dort Waren mitbringen, die unter Nicht-Grundeinkommens-Bedingungen entstehen.

Auch diese Experimente würden nur einen ungefähren Eindruck verschaffen. Jetzt wäre es an der Zeit richtig große Experimente anzuschieben – wenn Silicon-Valley-Milliardäre die Idee so gut finden, sollen sie die Milliarden rausrücken. Oder das kleine Alpendorf führt das Grundeinkommen ohne Geld von außen ein. Denn nur so kann ein BGE-Modell ja funktionieren: Die Gesellschaft der Empfänger muss es selbst finanzieren.

Ein kleiner Schritt von der Utopie zur Dystopie

Dann beginnen nämlich die wirklich spannenden Fragen. Will man das Modell, das die Ärmsten heftigst ausgrenzt oder die obere Einkommenklasse heftigst besteuert? Bisher tun die Fans des BGE so als sei nichts davon nötig. Nur deshalb gibt es noch eine Fangemeinde für das Grundeinkommen. Würden sie sich wirklich mit den Folgen des Modells beschäftigen, wäre diese Gemeinde hoffnungslos zerstritten. Denn ob man ein Grundeinkommen über Mehrwertsteuer, Einkommenssteuer oder eine Kapital/Maschinensteuer finanzieren will, ist keine Petitesse. Soll das Grundeinkommen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, oder nur die schiere Existenz oder nur ein Taschengeld? Jedem Modell liegen komplett andere Annahmen, andere Menschenbilder zugrunde und jedes hätte komplett andere Folgen.

Die meisten Modelle, die sich überhaupt mit der Finanzierung beschäftigen, setzen auf eine Entsolidarisierung und die fiktive Einsparung Einsparung von Bürokratiekosten, die dann schließlich von den Ärmsten getragen werden müssten. Was bedeuten 1000 Euro pro Monat, wenn die Mehrwertsteuer durch die Decke schießt und Wohngeld und Krankenversicherung wegfallen? Enorme Armut. Das vermeintliche Paradies entpuppt sich immer wieder als Dystopie. Man sehe sich nur an, was die Mini-Auszahlung der Ölindustrie an die Bewohner von Alaska mit dem politischen System dort angestellt hat. Wer meint, er habe die Lösung gefunden, sollte mehr tun als sich Filmkulissen zu suchen. Wenn ihr wirklich an ein Grundeinkommen glaubt, dann tut endlich Butter bei die Fische.

Meine stille Homophobie

Die Homophobie meiner Kindheit hatte nichts Spektakuläres. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wo jeder katholisch war und alle meine Klassenkameraden beide Eltern hatten. Auf dem Schulhof hatten wir Jungs zwei Kategorien: Entweder etwas oder jemand war „cool“ oder  „schwul“. Es ist einfach vorzustellen, was wir sein wollten. Unsere Ablehnung des Schwulen fand jedoch keinen Kristallisationspunkt. Denn niemand war schwul. Niemand von dem wir es erfuhren. Und so bleib es mir erspart, explizite Homophobie zu bezeugen. 

Das erste Mal in wissentlichen Kontakt mit einem homosexuellen Mann kam ich in der sechsten oder siebten Klasse: Mein Musiklehrer. Es ist wohl gut, dass ich damals dieses Schulhof-Schimpfwort „schwul“ nicht mit ihm in Verbindung brachte, denn ich mochte ihn ganz und gar nicht. Er hatte enorme Stimmungsschwankungen: Mal schrie er herum, mal verteilte er aus heiterem Himmel Einsen. Und der Unterricht brachte gar nichts — bis auf den Tag wo wir Queen analysierten. Bohemian Rhapsody, Radio Gaga. Ich analysierte eine Tonfolge korrekt und bekam eine Eins. Auf dem Schulhof hörte ich wieder das Wort „schwul“ und einige andere, die nicht so nett waren.  Aber er war Lehrer und wir im Grunde brave Schüler.

Bevor ich zum Studium in die Stadt gezogen bin, war ich ein Jahr lang Zivildienstleistender in einem Kloster — ich wohnte unter der Woche dort. Und ich merkte die Spannung, die wohl auch daher rührte, dass niemand seine Sexualität ausleben konnte. Und ich spürte auch Verachtung für diejenigen, die nicht allen männlichen Rollenklischees entsprachen, die zu feminin wirkten. Das Schwulenbild, das mir die Medien vermittelten half nicht wirklich dagegen anzugehen: Schwule ziehen sich wie Frauen an, und wollen Hetero-Jungs umdrehen. Echte Lesben — unvorstellbar und medial fast unsichtbar. 

Als ich nach Köln kam wandelte sich das endlich. Als Studenten zogen wir auch mal in eine „Schwulen-Bar“ — was nicht wirklich hilfreich war und kein Zeichen für Toleranz ist. Ich bemerkte erst spät, dass ich mich ablehnend und misstrauisch gegenüber denen verhielt, die den üblichen schwulen Klischees entsprachen. Oder denen, die es eben nicht taten, die ich dann aber sah, wie sie jemanden küssten, der nicht meinem katholischen Kindheitsideal entsprach. Ich äußerte mal die Dummheit, wie toll es doch sein müssen schwul zu sein — man bekäme seine Identität quasi frei Haus geliefert. Dass diese Klischee-Identität nicht frei gewählt, sondern oft aus Diskriminierung zusammengezimmert war, hatte ich nicht kapiert. Ich war ja nicht betroffen.

Zum Glück lernte ich aber immer mehr homosexuelle Menschen außerhalb des Klischees kennen, außerhalb gesellschaftlicher Kontexte die sie auf ihre Sexualität festlegen. Und man stelle sich vor: Es sind ganz normale Menschen. Intellektuell war das keine Überraschung — warum sollte das nicht so sein? Emotional und unbewusst hingegen, war ich homophob. Ich hatte Vorbehalte, ich fremdelte, ich war abweisend. Ich beschimpfte niemand, aber stille Zurückweisung ist eben auch Ausdruck der Homophobie. 

Von emotionalen Ressentiments kann man sich manchmal nicht völlig frei machen. Doch man kann diese Impulse, die einst eingeimpft wurden, zumindest zurückdrängen. Wer seine Mitmenschen respektiert, muss nicht mit ihnen Sex haben. Kein Homosexueller kann mich „umdrehen“, und keiner will es. In der Sauna, im Umkleideraum sind natürlich Homosexuelle. Die Furcht dass mir davon jemand was wegguckt oder gar meinen Körper unwiderstehlich findet, finde ich mittlerweile erheiternd. 

Wir brauchen die Daten-Debatte. Jetzt!

Wir sind auf einem Ozean. Rechts von uns: Daten. Links von uns: Daten. Vor uns und hinter uns: Daten – bis zum Horizont. Über Jahre haben die Zuflüsse aus Facebook, Google, INPol und T-Com ein Weltmeer anschwellen lassen und nun segeln wir unter verlorener Flagge auf dem Daten-Ozean. Das heißt: wenn das Wetter gut ist, dann gleiten, dann surfen wir regelrecht dahin. Welcher Kinofilm ist toll? Welcher Politiker hat betrogen? Wo finde ich freunde in feindlicher Welt? Kein Kurs ist verwegen genug und überall gibt es unentdeckte Küsten, die nur auf uns warten.

Doch da ist ein Loch im Boot. Wir nannten es Vorratsdatenspeicherung und fanden es ganz schlimm, dass die Daten in den Rumpf eindrangen. Mit beiden Händen und ein paar Tüchern schafften wir es das Leck abzudicht. Doch unser Rumpf ist marode und der Ozean von Daten dringt aus Dutzenden von Ritzen und Löchern in unser Boot. Unsere Kinder versuchen sie mit Konservendosen zu schöpfen und über die Reling zu schütten. Doch wie lange werden ihr schwachen Arme das wohl mitmachen? Wir werden wohl untergehen. Und dann? PostPrivacy? Die Herrschaft der Facebook-Hedonisten? Oder: Polizeistaat? 1984?

Richten wir den Blick auf ein Leck, durch das schon seit Jahren Wasser sprudelt, das uns aber erst jetzt aufgefallen ist: Routinemäßig scheint die Polizei in Sachsen seit Jahren Positionsdaten von Handybesitzern abzufragen. Die Sächsische Landesregierung hat dazu einen Rechtfertigungsbericht veröffentlicht. Darin heißt es:

Im Ergebnis der Abfrage erhält die Polizei eine Vielzahl von Verkehrsdaten übermittelt. Die Polizei erkennt anhand der erhaltenen Verkehrsdaten lediglich, welche Mobilfunkgeräte wann, wo und wie vor Ort waren. Sie ersieht aus den Daten aber nicht, wer der Anschlussinhaber ist, damit erst recht nicht, welche Personen miteinander kommuniziert haben oder welchen Inhalt das Gespräch oder die SMS hatte.
Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass eine auf eine Tatörtlichkeit und einen Tatzeitraum bezogene Abfrage der Verkehrsdaten, insbesondere bei einer hohen Personendichte in dem Gebiet, wie sie am 19. Februar 2011 zu verzeichnen war, eine überaus große Zahl von Verkehrsdaten erbringt.

Also alles in Ordnung. Zwar ist eine hohe Anzahl von Daten abgefragt worden, aber sie waren an sich nicht schädlich. Denn für brisante Datenabfragen braucht es schwere Straftaten und echte Beweise.

Um Bestandsdaten (Name, Vorname, Adresse und Geburtsdatum des Mobilfunk-Anschlussinhabers), die zu einer festgestellten Mobilfunknummer gehören, vom Provider zu erhalten, ist in einem zweiten Schritt ein weiterer Antrag zu der relevanten Mobilfunknummer an den Mobilfunknetzbetreiber erforderlich. Hierfür ist weder eine staatsanwaltschaftliche Verfügung noch ein richterlicher Beschluss erforderlich. Diese Abfrage erfolgt allein auf
Grundlage des § 112 TKG.

Hoppla, also sind doch keine schweren Straftaten und Beweise erforderlich — wenn irgendwo in der Umgebung eine mutmaßlich gravierende Straftat stattfand, kann jeder neugierige Polizist die rechtsstaatlichen Beschränkungen der Datenabfragen umgehen. Um im Bild zu bleiben: da war ein riesiges Leck und wir sahen es nicht, weil ein nasses Pflaster darüber klebte

Das ist bei weitem kein Einzelfall. Zum Beispiel muss der rheinland-pfälzische Landtag aus dem Urlaub in eine Sondersitzung gerufen werden, um über die Immunität des CDU-Abgeordneten Michael Billen zu entscheiden.

Der Vorwurf:

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Eifeler CDU-Abgeordneten vor, er habe seine Tochter – eine Polizistin – angestiftet, geheime Polizeidaten zu umstrittenen Geschäftspartnern des Nürburgrings zu beschaffen. Billen will die Daten bei ihr nur „abgegriffen“ haben. Die zunächst geplante Privatfinanzierung des Nürburgring-Ausbaus war 2009 spektakulär gescheitert.

Politische Spionage? Whistleblowing um einen veritablen politischen Skandal aufzudecken? Darüber müssen nun die Gerichte entscheiden — wenn sie denn Mal zum Zug kommen.

Diese zwei Beispiele sollten den Datenschützern zeigen: mit Fundamentalopposition zur Vorratsdatenspeicherung ist es nicht getan. Wir sind nicht mehr auf trockenem Land, wo es ab und zu aus Sicherheitslücken regnet. Wir sind draußen, auf weiter See. Und die meisten sind Nichtschwimmer.

Auch jenseits von Polizei und Politik leckt und sickert es. Die 20 Hacks bei Sony, LulzSec, die IRC-Leaks von LulzSec oder die Lecks der selbsternannten Wikipedia-Wächter oder die der offiziellen Wikipedia-Wächer. Ich könnte beliebig weiter aufzählen.

Daten sind nicht sicher und wir wissen nicht wirklich, wie wir mit ihnen umgehen sollen. Was machen wir nun mit diesem Ist-Zustand? Sollen wir einer illusionären Datenseicherheit hinterherlaufen? Oder das Schiff versenken und postprivatär Schwimmen lernen. Ein paar werden absaufen, aber das ist eben der Preis des Fortschritts.

Das Ziel sollte meines Erachtens — wie so oft — in der Mitte liegen. Wir haben in den letzten Jahren auch Kulturtechniken erfunden, um mit Informationen umzugehen. Paravants. Die katholische Beichte. Telefonbücher. Nummernschilder. Nicht jede Entwicklung war gut, aber wir haben gelernt, damit zu leben.

Albernheiten und Publicity-Stunts hatten wir auf beiden Seiten mehr als genug. Spackeria oder ein facebook ohne Frau Aigner — das sind oberflächliche Aktionen, mit denen sich Leute um Extrempositionen scharen können. Die Mitte der Gesellschaft hat die Debatte aber noch nicht erreicht.

Haben wir als Gesellschaft noch die Kapazität, dieses Problem anzugehen. Neben Finanzmarkt, Energiewende und den neuen Senderplänen mit Thomas Gottschalk? Ich finde wir sollten uns die Zeit nehmen, wir müssen uns die Zeit nehmen.

Oder wir lernen eben Wassertreten. Bis zum Horizont.

Pre post privacy

Was mich an der „Post Privacy“-Debatte nervt ist die gnadenlose Überhöhung des Ist-Zustandes. Die „Spackeria“ tut so, als seien Twitter und Facebook der größte revolutionäre Akt, der die Lebensverhältnisse auf den Kopf stellt. Die Datenschutz-Anhänger hingegen halten das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hoch, als sei es ein direktes Ergebnis der Aufklärung und in jeder Verfassung der westlichen Welt direkt neben Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Grundsätzen zu finden.

Ich hingegen frage mich: wenn jetzt das post privacy-Zeitalter eingeleitet wird, wann hatten wir jemals das privacy-Zeitalter? Im Mittelalter, als jeder in die Dorfgemeinschaft so eng zusammenlebte, dass niemand aufs Klo gehen konnte ohne dass es die Nachbarn sahen? Oder in der frühen Neuzeit, als die Arbeiter sich in den Mietskasernen ihre Toiletten teilten? In den 70ern, als der Terrorismus-Wahn die Rasterfahndung gebar?

Heute habe ich in der New York Times ein Stück über das Problem Sexting gelesen:

“Ho Alert!” she typed. “If you think this girl is a whore, then text this to all your friends.” Then she clicked open the long list of contacts on her phone and pressed “send.”

In less than 24 hours, the effect was as if Margarite, 14, had sauntered naked down the hallways of the four middle schools in this racially and economically diverse suburb of the state capital, Olympia. Hundreds, possibly thousands, of students had received her photo and forwarded it.

Zwei Dinge fallen mir auf: Es brauchte weder Facebook, noch Twitter oder ein sonstiges Internetangebot, um das gesellschaftliche Leben dieses Mädchens zu zerstören – es genügte der Mobilfunk. Eine Technik, die uns so selbstverständlich geworden ist, dass wir ihren revolutionären Charakter in weniger entwickelten Ländern gar nicht mehr in Augenschein nehmen.

Zweiter Aspekt: Wann hätte ein Mädchen ungestraft Nackbilder von sich weiter geben können? In meiner Schulzeit hatten wir keine Handys, aber es gab Kopierer und ein Foto zu reproduzieren hätte selbst ich in zwei Stunden im Fotolabor geschafft. Die technische Schwelle ist sicher niedriger — aber das grundsätzliche Handlungsmuster ist nicht alleine durch die Technik gegeben. Wer Nacktfotos von sich verteilt, gibt sich ganz in die Hand des Empfängers.

Ermäßigter Privatsphärensatz

Immer wenn uns Journalisten nicht wirklich etwas einfällt, um die Absurditäten des Staatswesens zu beschreiben, zücken wir die Mehrwertsteuer-Karte: 19 Prozent auf Windeln, 7 Prozent auf Trüffel. Wie absurd! Dass das Problem unterschiedlicher Steuersätze nicht konsistent zu lösen ist, ignorieren wir. Wenn das Prinzip durchgesetzt wird, beklagen wir den Einzelfall. Werden für den Einzelfall Ausnahmen gemacht, beklagen wir das Prinzip.

Eine ähnliche Situation existiert grade bei der Privatsphäre. Ist Streetview der Untergang des Abendlandes? Ja: unser Fassaden, unsere Adressen! Die Einbrecher, die SCHUFA! Nein: der Falk-Stadtplan mit Patentfaltung hat uns auch nicht die Privatsphäre geraubt. Soll Facebook wissen, wo ich bin? Klar: so können mich meine Freunde finden. No way: Facebook vermarktet die Daten und Dritte melden unseren Standort ohne zu fragen.

Okay: diese digitalen Medien sind so neu, im Analogen war es so viel einfacher. Da wusste man noch, was öffentlich und was sehr, sehr privat ist. Den Chef oder die eigene Oma nackt sehen? Nicht mal im Traum! Doch wenn ich arte glauben darf, ist das in finnischen Saunen Alltag. Polizeiberichte einsehen? Doch nur mit Presseausweis oder Anwaltsmandat, sagt der Deutsche! Ich bin Steuerzahler und ich muss kontrollieren ob King George nicht wieder die Regierung an sich reißt, sagt der Amerikaner! Selbst auf die Frage ob wir mit offenem oder geschlossenen Mund kauen, ob wir uns dezent räuspern oder herzlich rülpsen sollen, scheint keine universelle Antwort zu existieren.

Kurz gesagt: Was privat ist und was nicht, ist nicht gottgegeben. Wir alle haben zwar irgendwie dringenden Bedarf nach Feigenblättern – aber wir sind uns nicht sicher, ob wir damit lieber unserer Scham oder über unseren Kontoauszug verdecken sollten. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Antworten gefunden. Und da diese Antworten sehr, sehr verschieden sind, lassen sie sich nicht einfach auf eine globale Plattform übertragen.

Eine einigermaßen konsistente Antwort auch nur für unsere bundesdeutsche Gesellschaft zu finden, wird uns noch fünf, zehn Jahre beschäftigen. Mindestens. Und definitive Lösungen wird es auch nicht geben – im besten Fall angreifbare Gesetze und schon bald überkommene Konventionen.

Wer ist eigentlich Thilo?

Einer der Gründe, warum mich die unsäglichen Thesen des unsäglichen Thilo Sarrazin nicht wirklich interessierten: das abstruse Gehabe um ein Juden-Gen hatte ich schon vor anderthalb Jahren entdeckt und vor knapp zwei Jahren habe ich auch dieses schöne Stück Journalismus über die Harlem Children Zone gehört:

Zwei Erkenntnisse:

  • Vergesst den Müll über angeborene Intelligenz. Mit Liebe und positiver Ansprache kann man Kinder wirklich weiter bringen
  • Der Ausweg aus dem Teufelskreis Sozialhilfe dauert wohl leider mindestens eine Generation. Staatliche Programme, die alleine die Hilfsbedürftigen von heute im Blick haben, werden von der Zukunft überrannt.

P.S.: Jörg Albrecht und Volker Stollorz haben in der FAZ den aktuellen Stand der Intelligenzforschung zusammengetragen und zeigen, worauf sich der Bestseller-Autor Sarrazin stützt: Missverständnisse und eine Forschungsrichtung, die es nur langsam schafft mehr als die gesellschaftlichen Vorurteile abzubilden. Schön herausgearbeitet sind auch die Implikationen der Intelligenz-Debatte.

Wenn Intelligenz zum Teil erblich ist, Forscher aber keine Gene finden – wie passt das zusammen? Vielleicht liegt es daran, dass die Instrumente der Genetik nur solche Erbanlagen aufspüren, die sich negativ auf die Intelligenz auswirken. Dann wären wir alle von Natur aus Genies, sofern wir nicht eine oder mehrere seltene Mutationen tragen, die uns zu Durchschnittsdenkern machen.

Unter dem Artikel sind übrigens Bit.ly-Links zu zwei weitergehenden Quellen zu finden. Die ClickThrough-Rate ist jedoch gering.