Ohne Relevanzkriterien keine Wikipedia

Die derzeitige Aufregung um die Relevanzkriterien der Wikpedia nimmt obskure Züge an. Vor allem bin ich erstaunt wie uninformiert auch ein großer Teil der Netzbevölkerung ist, die sich gerne das Wort „Medienkompetenz“ an die Brust heftet.

So schreibt Pavel:

99% aller Deutschen sind irrelevant. Und werden es auch immer bleiben. Jedenfalls nach den Relevanzkriterien der deutschen Wikipedia.

Ähm – ist das ein Vorwurf? Natürlich sind die allermeisten Menschen für Wikipedia irrelevant. Wie kann man sich über Datenlücken bei StudiVZ aufregen, wenn man parallel in der Wikipedia eine Personendatei aufmacht, von der nicht mal Wolfgang Schäuble zu träumen wagt?

Ich persönlich bin ganz froh keinen Wikipedia-Artikel über mich zu haben, den ich ständig nach Vandalismen untersuchen müsste und in dem plötzlich ein Abschnitt „Kritik“ auftaucht, in dem ein Worst-Of der auffindbaren Äußerungen über mich gesammelt werden.
Arrogant oder notwendig?

Wikipedia will das Weltwissen sammeln, ein hehrer Anspruch. Man kann nun fragen, ob der Straßenkehrer Dominik Müller in Bad Salzdettfurt weniger wert ist als ein Mathe-Professor, der auch nur sein Tagewerk vollbringt? Gehört Dominik nicht auch zum Weltwissen? Woher kommt diese Arroganz?

Nun – schauen wir uns das Grundprinzip der Wikipedia an. Zunächst: Wikipedia will Weltwissen sammeln, nicht nur eine Sammlung von Behauptungen. Was trivial klingt, ist in Wahrheit die Quadratur des Kreises. Denn in Wikipedia kann quasi jeder schreiben, was ihm in den Sinn kommt. Man muss sich nicht mal anmelden.

Wissen aus dem Chaos destillieren

Damit aus diesem Chaos an Behauptungen nun so etwas wie Wissen destilliert werden kann, müssen einige Voraussetzungen erfüllt werden. Das Grundprinzip der Wikipedia beruht darauf, dass Artikel ständig überarbeitet und verbessert werden. Denn erstens ist Wissen keineswegs statisch und zweitens soll sich der berühmte Neutrale Standpunkt der Wikipedia dadurch herauskristallisieren, dass Menschen mit unterschiedlichen Standpunkten zusammenarbeiten. Ohne solche Zusammenarbeit wäre Wikipedia nur so etwas wie ein Free-Hosting-Provider, oder ein Portal wie OpenPR, wo jeder einfach veröffentlichen kann, was er will und es niemanden interessiert, wenn es falsch ist.

Die Relevanzkriterien sind ein Mittel dazu einen Ausgleich unterschiedlicher Standpunkte und Quellen herzustellen. Denn Wikipedia kann sich nur aus bereits veröffentlichten Informationen speisen. Wenn der bösartige Schwager schreibt, dass Dominik Müller wegen Vergewaltigung zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde – wie soll ein anderer Wikipedianer das überprüfen? Falsche Quellenangaben sind schnell produziert und Menschen, die Wikipedia-Artikel tatsächlich auf Falschbehauptungen abklopfen sind leider sehr selten. Nur wenn eine Person oder ein Thema lange genug in der Öffentlichkeit ist, werden Fehlinformationen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erkannt.

Jeder Tippfehler wird zur Quelle?

Stichwort Quellen: Ich bin als Online-Journalist in einer seltenen Machtposition. Meine Behauptungen sind googlebar, sie erscheinen in Medien, die viel Wert auf Recherche legen. Dennoch mache ich – wie jeder andere – Fehler. Wie soll man es nun verhindern, dass meine Recherche-Versäumnisse, meine Tippfehler gar durch die Wikipedia zum Weltwissen geadelt werden? Auch hier helfen Relevanzkriterien.

Denn wenn ich dem Bundestagsabgeordnete Dominik Müller fälschlicherweise 100 statt 10 Aufsichtsratsposten andichte, werde ich mit einiger Wahrscheinlichkeit korrigiert werden. Wenn ich einen ähnlichen Fehler bei dem Straßenkehrer Dominik Müller mache, wäre eine Korrektur reine Glückssache. Zudem ließen sich zu den Aufsichtsratsposten höchstwahrscheinlich viele Quellen finden, zu Haftstrafen von unbekannten Menschen hingegen findet man so gut wie keine öffentlichen Quellen – erst recht keine gesicherten. Wenn dazu jemand noch eine toll klingende Quellenangabe (siehe Seite 332 des Standardwerks „Die Müllers“) macht, stößt das System Wikipedia an seine Grenzen. Wer soll dieses Buch ausleihen und dem Ganzen seinen Stempel aufdrücken?

Wissen erfordert Arbeit

Relevanzkriterien haben noch viele weitere Begründungen. So kursiert die Behauptung, dass vermeintlich irrelevantes Wissen der Wikipedia nicht schade – das bisschen Speicherplatz kostet doch nichts. Das ist leider falsch. Alleine schon das Speicherplatz-Argument ist schwach – wer das bezweifelt soll mal einen vollständigen Datenbank-Dump der englischen Wikipedia herunterladen und auf seinem Rechner entpacken. Oder einen Blick in das Operationsbudget der Wikimedia werfen.

Hinzu kommt aber die notwendige Pflege von Artikeln. Niemand kann von sich aus die – großteils sinnvollen – Formatierungsvorgaben auf Anhieb richtig machen. Wie man einen Wikipedia-Artikel richtig mit Projekten wie OpenStreetMap oder der Personennamendatei verknüpft, ist Spezialwissen, für das man einige Stunden trockene Lektüre investieren muss. Gleichzeitig bieten diese Routine-Arbeiten wertvolle Informationen für den Leser. Dazu kommen noch viele andere Probleme, wie das Bemühen den Wissensbestand einigermaßen übersichtlich zu halten, so dass zum Beispiel nicht zum selben Thema unterschiedliche Informationen in unterschiedlichen Artikeln erscheinen.

Relevanzkriterien sind notwendig

In der englischen Wikipedia gibt es ebenfalls erbitterte Kämpfe um die Relevanz. Zwar wird immer wieder angeführt, dass dort quasi jede Folge einer bekannten US-Serie mit einem eigenen Artikel versorgt wird. Aber das hat – hier muss ich etwas mutmaßen – vor allem zwei Gründe: Die Autorengemeinschaft der englischen Wikipedia ist über die ganze Welt verstreut. Der Autor aus Indien wird nie mit den Autoren aus Texas oder Honululu zusammen treffen. Die weltweit verbreiteten US-Serien sind da ein prima Feld um Gemeinsamkeiten auszuloten. Zudem verfügt die englische Wikipedia über ein Vielfaches an Autoren und Korrekturlesern und kann somit mehr Artikel in den eigenen Kanon integrieren. Gleichzeitig jagt in den USA ein Verleumdungsskandal den anderen, längst gehört Wikipedia zum bevorzugten Ziel von Astroturfern.

Jetzt habe ich lange begründet, warum Relevanzkriterien notwendig sind. Qualität, Genauigkeit, Privatsphäre und Relevanz sind eng miteinander verwoben. In meinen Augen kann niemand, der sich ernsthaft das System Wikipedia vor die Augen führt an der Notwendigkeit von Relevanzkriterien zweifeln – ohne sie wäre Wikipedia längst in Falschbehauptungen, Eigen-PR und Verleumdungen versunken.

In der Wikipedia geht einiges schief

Gleichzeitig behaupte ich nicht, dass alle Löschungen vertretbar und gut sind, dass die Praxis der Wikipedia nicht wesentliche Mängel aufweist. Die Relevanzkriterien sind weder „gerecht“, noch übermäßig konsistent. Sie wurden entworfen wie eine Hausordnung eines IRC-Channels oder die Satzung einer Newsgroup. Ein paar Leute haben das mal entschieden – wer und warum das bestimmt hat, verliert sich in den Untiefen der Wikipedia-Diskussionsseiten. Es gibt eine Unmenge von Schein-Abstimmungen und Pseudo-Regularien, die im Endeffekt darauf hinaus laufen, dass ein paar Leute unter sich ausmachen, was durchgesetzt wird. Die checks and balances funktionieren nicht richtig, zu viele selbstverstärkende Mechanismen ziehen die Wikipedia in bestimmte Richtungen.

Wer entscheidet letztlich, dass Artikel gelöscht werden? Menschliche Spamfilter, die sich Tag für Tag Themen widmen, die sie eigentlich nicht weniger interessieren könnten. Dass sich diese daran orientieren, ob ihr Kumpel einen Artikel gut findet oder ob ein Schreihals sie 15 Mal als Nazi-Blockwart beschimpft hat, ist kaum verwunderlich.

Störenfriede und Mitarbeiter frustriert

Das System Wikipedia beruht zum Teil darauf – (Vorsicht: verkürzte Darstellung!) – Störenfriede zu frustrieren. Ich habe letztens einer PR-Arbeiterin die Regeln über Selbstdarsteller zum Lesen gegeben – sie hat dann davon abgesehen, die Eigendarstellung ihres Klienten in der Wikipedia abzuladen. Aber das ist das Leichteste – Wikipedia hat alle Trolle des gesammelten Usenets abbekommen, jeder Heise-Troll verewigt seine Weltsicht gerne Mal in der Mitmach-Enzyklopädie. Dabei hat das System eine bemerkenswerte Standhaftigkeit gezeigt. Gleichzeitig wurden aber viele wohlmeinende und konstruktive Mitarbeiter frustriert und abgeschreckt.

Wer Ideen hat, dieses Problem nachhaltig zu lösen, ist bei der Wikipedia-Community in der Regel gerne willkommen. Man sollte aber darauf gefasst sein, dass die hundertste Wiederholung des selben Vorschlags für wenig Begeisterung sorgt – besonders wenn der Vorschlagende sich bisher nie für die Arbeit in der Wikipedia engagiert hat und demnach keine Ahnung hat, welche Regeln und Entscheidungsprozesse bereits existieren, oder ein Stichwort nicht von einem Lemma unterscheiden kann. Viele gute Ideen sind schon bekannt, es fehlen aber Menschen, die sie auch durchsetzen und dafür arbeiten würden.

Wer gänzlich anderer Meinung ist: ein anderes Grundprinzip der Wikipedia ist das right to fork. Es ist ein leichtes sämtliche Edits der Wikipedia abzufischen – selbst die nachher gelöschten. Bisher hatten zwar alle bekannten Forks höhere Relevanzkriterien als die Wikipedia, aber eine Anarchopedia könnte mal ein spannendes Experiment sein.

Embracing Post Privacy – Datendienstleister

Ich hab mir eben per Stream plomlompoms Vortrag Embracing Post Privacy angehört. Grundthese: Die Privatsphäre ist nicht mehr zu retten – das sollten wir jedoch als Chance sehen und die neuen Möglichkeiten der allumfassenden Information. Ganz nette Ideen – manche vielleicht etwas sehr naiv, alle leider viel zu theoretisch.

Schon heute lernen wir immer mehr Möglichkeiten, ungehobene Datenschätze zu nutzen. Warum zum Beispiel aufwändige Verkehskontrollsysteme installieren, wenn quasi jeder Autofahrer einen Peilsender – ob Handy oder Bordcomputer – bei sich hat, der als Abfallprodukt Auskunft über Verkehrsflüsse geben kann?

Wenn wir schon Daten konsequent nutzen, ist es Zeit für ein neues Berufsfeld. Der Datendienstleister. Und zwar ein Dienstleister, der nicht nur im Auftrag von Versicherungen und Direktmarketing-Unternehmen arbeitet, sondern für mich, den Kunden. So könnten zum Beispiel die aussterbenden Videotheken in diese Lücke vorstoßen. Statt nur physische Datenträger zu bevorraten könnte sich jede Videothek einen Datenschrank einbauen, der meine Kundendaten verwertet und mir andere Daten zugänglich macht. Simples Beispiel: Wir haben immer mehr Musik ohne physischen Datenträger. Ein Blitzeinschlag zur falschen Zeit und Tausende Euro an Informationen sind weg. Wenn ich hingegen die Musiksammlung bei meiner Videothek um die Ecke sicher verwahren kann, wäre das eine interessante Dienstleistung.

Ich sehe großes Potenzial in dezentralen oder lokal verankerten Datendienstleistert. Last.FM beweist, das das Verknüpfen möglichst vieler oberflächlicher Daten eben nicht zum ultimativen Musikgenuss führt. Nebeneffekte wie die Kleinigkeit der Finanzierung solcher Dienste spielen natürlich auch eine Rolle. Ich zahle in der Regel lieber direkt als über versteckte Provisionen.

Wie wäre es also, wenn man lokal seinen Multi-Media-Dienstleister hat? Man zahlt pro Monat wie im Fitness-Club – dafür kann man zu den Öffnungszeiten hineinschneien und fragen wie das Lied mit dem „laaalaaalaaa love youuuuuu – siewissenschon“ heißt. Und bei dem sich die Tatort-Fans versammeln können, die dann – dank Koordination des Datendienstleisters – jeden Sonntag abend eine Premiere-Bar erobern und dort das Erste einschalten. Der Vorlieben erkennen kann und sie jenseits einer SQL-Datenbank verknüpfen kann.

Hungerlöhne?

Aua. Aua. Auweh:

Die 27 und 35 Jahre alten Fahrer hatten ein an die «Frankfurter Rundschau» geschicktes Paket geöffnet und den Stollen daraus gegessen. Anschließend nahmen die Mitarbeiter eines von sechs an die LBB adressierten Daten-Pakete und klebten darauf das Etikett des geöffneten Stollen-Pakets.

Eine andere Meldung vom Tage:

Die Kläger wollen weiter ihre eigenen Mindestlöhne von 6,50 Euro bis 7,50 Euro zahlen, auf die sie sich mit der neu gegründeten Gewerkschaft Neue Brief- und Zustelldienste (GNBZ) geeinigt hatten. Allerdings ist auch diese Gewerkschaft umstritten. Es besteht nach wie vor der Verdacht, dass sie nur zum Schein installiert wurde, um den Mindestlohn zu umgehen.

Brrrrrrrrrrrrrrmmmmmahhhhhhhhhhh

Ich war heute bei in der Münchner Niederlassung von Google. Höhepunkt des Rundgangs: ein Coder ohne Socken im Massagestuhl – bei der Arbeit. Er sah nicht mal auf, als wir vorbeikamen.

Ich dachte, das gibts nur in US-Sitcoms.

Justiziare mailen nicht doch

Ich habe diese Woche eine kleine Frage an einen großen deutschen Verband gehabt. In der Pressestelle erfur ich, dass sich ein Justiziar mit dem Thema gut auskenne, ich könne mich direkt an ihn wenden. Auf meine Mail kam tatsächlich relativ zügig Antwort. Der Weg dahin war aber wohl steinig.

Statt meine Mail mal eben zu beantworten, hat der Justiziar die Antwort offenbar seiner Sekretärin diktiert. Die hat ihm das Ergebnis ausgedruckt – säuberlich auf dem Faxbriefbogen des Verbandes. Der Justiziar las zur Sicherheit Korrektur und setzt seine Unterschrift darunter. Die Bürokraft nahm daraufhin die zwei Seiten Papier und jagte sie durch den praktischen Fax-Kopierer-Drucker, um sie in eine PDF-Datei zu verwandeln. Die schickte sie mir dann ohne ein weiteres Wort zu.

PS: Eine kurze Nachfrage hat der Justiziar vorbildlich schnell und kompetent per Textmail beantwortet.