Neuer Whistleblower will Asyl in Deutschland

(ndpo) Ein hochrangiger Mitarbeiter der amerikanischen Geheimdienste hat Asyl in Deutschland beantragt. Barry O. traf am Dienstagmorgen in Berlin-Tegel ein und bot der deutschen Regierung umfangreiche Unterlagen über die amerikanischen Ausforschungsprogramme an. Noch haben die offiziellen Stellen jedoch nicht entschieden, wie sie mit dem Whistleblower verfahren sollen.

Barry O. soll Medienberichten zufolge bereits Mitte Juni versucht haben, in Berlin Zuflucht zu suchen. Gerüchten zufolge soll es sogar zu einem Geheimtreffen mit Bundeskanzlerin Merkel gekommen sein, bei dem es jedoch nicht zu einer Einigung gekommen sein soll, bevor Barry O. wieder unfreiwillig den Rückweg in einer Regierungsmaschine in die USA antrat. Jetzt scheint es jedoch zu brisant für den Whistleblower geworden zu sein, er setzte sich aus Washington ab und stieg in eine Linienmaschine nach Deutschland.

„Ich hatte echt Angst dort“, schildert der verstörte Whistleblower bei einem kurzen Austausch mit Journalisten in Berlin. „Die sind da alle bis an die Zähne bewaffnet.“ Besonders in seiner Umgebung habe er immer wieder auffällige Männer mit Waffen bemerkt, die ihn nicht aus den Augen ließen. Die Überwachung habe ihn zunehmend belastet, sagt Barry O, der ein sonniges Leben in Hawaai aufgegeben hatte, bevor er nach Chicago ging und dort in die Fänge des Regierungsbetriebs geriet. Doch die Arbeit mit den Geheimdiensten zerrüttete ihn sichtlich: Aus dem optimistischen „Yes-we-Can“-Optimisten ist ein grauhaariger, schmallippiger Mann geworden. Nicht mal sein Hobby, eine kleine Privatbrauerei in der Garage seines Wohnhauses, konnte ihm auf Dauer Ablenkung verschaffen.

Noch ein Whistleblower: Barry O.
Noch ein Whistleblower: Barry O.

Welche Unterlagen Barry O. anbieten kann, ist noch nicht klar. Gerüchten zufolge hat er umfangreiche Informationen über das amerikanische Drohnenprogramm, dem er seit fünf Jahren angehörte. Außerdem traf er sich in den vergangenen Jahren mit vielen ausländischen Regierungsbeamten, hat Berichten zufolge auch intime Kenntnisse über die Organisation des US-Vizepräsidenten Joe Biden gesammelt, der als eigentlicher Machthaber im Weißen Haus gilt.

Die Bundesregierung nimmt den neuen Fall von Whistleblowing sehr ernst. Wie der Regierungssprecher Stefan @Regsprecher erklärte, hat Angela Merkel ihren Vertrauten Hartmut Mehdorn mit der brisanten Mission beauftragt, Verhandlungen mit Barry O zu führen, der sich unterdessen in einer Toilette auf Tegel eingeschlossen hat. Mehdorn wird in den nächsten vier bis fünf Jahren am Flughafen erwartet.

Urlaubsschein

(ndpo) Mehr als 30 Prozent der Deutschen täuschen ihre Ferien nur vor, jede zweite Urlaubs-Postkarte ist gefälscht. Das hat eine Umfrage des Umfrageinstituts Forsensbach ergeben.

Stefan Sichtermann (Name ganz und gar nicht geändert) hat es sich zu Hause gemütlich gemacht. Das Wohnzimmer hat er in eine Strandpromenade verwandelt, in der Küche gibt es statt Kaffee Caipirinhas. Doch die Tropensonne kommt aus der Steckdose. Die Rollläden hat er heruntergelassen. Denn sein Urlaub ist nur ein Scheinurlaub.

Wie viele andere Deutsche hat sich Sichtermann mit dem Klischee abgefunden: Im Sommer packt der deutsche Familienvater die Familie in seinen komfortablen Mittelklassewagen, lässt ihn für eine vierstelligen Beitrag am Flughafen stehen und fliegt nach Mallorca, Antalya oder RTL2istan, um dort eine Woche mit Schwitzen, Diarrhö und Familienstreit zu verbringen. „Doch eigentlich mag ich das gar nicht“ sagt Sichtermann. „Warum soll ich das viele Geld ausgeben, wenn ich doch viel lieber zu Hause wäre?“

Sichtermann, der im Hauptberuf eine florierende Nachrichten-Webseite betreibt, hat seine gestreiften Geschäftsführerhosen gegen die Shorts des Zu-Hause-Animateurs eingetauscht. „Meine Tochter ist nicht mal drei Jahre alt, die wird das schon nicht merken“, sagt der verheiratete Junggeselle. Dem privaten Glück kommen seine beruflichen Qualifikationen zupass. „Wenn ich den Papst zum Sado-Maso-Hohepriester und Steinbrück zum ernsthaften Kanzlerkandidaten machen kann, kann ich für meine Tochter auch ein paar Urlaubsbilder fälschen“, sagt Sichtermann (Name ganz und gar nicht geändert).

Wie Sichtermann (Name ganz und gar nicht geändert) haben Millionen Deutsche den Scheinurlaub entdeckt. Die Personalabteilungen großer Konzerne haben sich dem Trend schon angepasst und stellen „Scheinurlaubsscheine“ aus. Die Zeit verbringen die Erwerbstätigen nach einer aktuellen Telefonumfrage zu 43 Prozent mit Twittern unter falschen Identitäten, 13 Prozent onanieren zwanghaft und 93 Prozent erforschen einen neuen Ansatz, Einsteins Relativitätstheorie zu widerlegen.

Mittlerweile hat der Scheinurlaub auch die Scheinpolitik erreicht. Bundeswirtschaftsminister Rösler kündigte an, das Thema zu einer neuen Folge von „Günther Jauch“ zu machen. „Wenn die Leute anstatt zu scheinurlauben weiter scheinarbeiten würden, könnten wir sicher 15 Scheinbanken retten“, sagte der Vizekanzler.

Eternal September, Wahlkampf edition

„Online-Wahlkampf“ klang mal gut. Die wichtigen Leute nehmen unseren Lebensraum wichtig. Und das Web kann politischen Diskurs auf neue Höhen bringen. Wo jeder alles googeln kann, gibt es keine Lügen mehr.

Von wegen. Onlinewahlkampf heißt: Deine Timeline verwandelt sich in eine Bundestagsdebatte. Jeder beklagt dass niemand über die Themen redet und sucht Satz-Versatzstücke, die den politischen Gegnern entlarven soll. „Hast Du das gehört? Hast Du? Hast Du? Retweet!“ Und die Bundestagsabgeordneten sitzen neben Dir im Bus, in Deinem Wohnzimmer, auf der Nachbartoilette und finden sich ganz toll und die anderen ganz doof. Und sie machen Wortspiele.

Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu überleben. Entweder man ignoriert jeden politisch interessierten Mensch für die nächsten drei Monate oder man nimmt sie einfach nicht ganz so ernst. Man kann ihre Nachrichten sogar remixen.

Volker Jarzombek

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Generalverdacht der Algorithmen

Kai Biermann schreibt über den Generalverdacht durch Einsatz von Algorithmen

Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten? Nein, das ist eine Lüge. Denn weil die zugrunde liegenden Handlungen so alltäglich und die daraus gewobenen Muster so komplex sind, kann sich niemand dieser Rasterung entziehen. Es ist unmöglich, bewusst friedlich zu leben, um dem Staat und seiner Neugier aus dem Weg zu gehen. An sich harmlose Verhaltensweisen können genügen, um überwacht und verfolgt zu werden. Es reicht, ähnliche Dinge getan zu haben, wie ein Verbrecher. Stundenlange Verhöre sind dann noch eine vergleichsweise harmlose Folge.

Da kann man sagen: Tja, dann braucht man eben bessere Algorithmen. Das ist eine tolle Idee, ABER…

Vor ein paar Wochen habe ich für den Tagesspiegel über Bewegungserkennung in Überwachungskameras geschrieben. Dort sagte mir ein Wissenschaftler, dass die Daten an jedem Einsatzort neu angelernt werden müssen. Denn Bewegungsmuster, die in Saudi-Arabien völlig normal sind, würden in Deutschland als alarmierend und anormal wahrgenommen.

Was also verdächtig ist, müssen im Prinzip die selben Leute festlegen, die schon heute nach Verdächtigem gucken. Statt einem Verbrechens-Suchalgorithmus wird man so ein Programm bekommen, das so tut als sei es Polizist. Oder Wachmann. Wenn die früher dunkelhäutige Menschen verdächtig fanden, dann auch das von ihnen angelernte System.

Doch kein Problem — da braucht man einfach mehr Daten und es wird sich schon alles einrenken. Doch diese Annahme scheitert oft am Menschen, der halt seine eigenen Annahmen durchsetzt. So hat die Stadt New York eins der am weitesten entwickelten und auch eins der mächtigsten Polizei-Datenauswertungs-Systeme — das übrigens auch an Lizenznehmer weitergegeben wird und in seiner neuesten version auch Auswertung der Videodaten aus ganzen Stadtvierteln beherrscht, Samt Kennzeichenscannern und Erfassung merkwürdig humpelnder Menschen.

Die Polizei hatte damit in den letzten Jahren bemerkenswerte Erfolge. Am Times Square trifft man auf Kommerz und Comicfiguren statt auf Zuhälter und Straßenräuber. Doch die Polizei hat allzu gut mit dem System gearbeitet. Beförderungen, Geldmittel und Mentalität wurden ganz auf den Computer ausgerichtet.

Folge: Einige Polizeivorgesetzte schickten ihre Männer los, um die Straftäter zu fassen, die der Computer sah — ob sie nun da waren oder nicht. Gerade bei Winzvergehen wie Telefonieren am Steuer gab es feste Quoten. Wer weniger erwischt, ist kein guter Polizist. Und wer unschuldig in die Fängen des Systems kommt, fällt eben aus dem Rahmen der Algorithmen. Er kann ja umziehen in eine andere Stadt mit weniger Algorithmen.

Andere Verbrechen — wie zum Beispiel eine Vergewaltigungsserie — wurden hingegen nicht erfasst. Denn so etwas lässt die Revierleiter schließlich vor dem Computer schlecht aussehen. Das zumindest ist die Geschichte von Adrian Schoolcraft, der im Polizeidienst stand und solche Anweisungen aufgezeichnet hat. Ach ja: Nicht die Vorgesetzten wurden entlassen, sondern er — er landete sogar in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung. 

Die Algorithmen schaffen ein selbstverstärkendes System, oder besser gesagt: Wir Menschen schaffen es. Wir belügen den Computer, damit er uns sagt, was uns passt. Wir übertragen unsere Urteile und Vorurteile auf ein System, das scheinbar neutral und überlegen ist — unsere Fehlbarkeit aber imitiert.

CDU: Vorratsdatenspeicherung? Ohne uns!

Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, erklärte heute im Bericht aus Berlin zum Thema „Prism“.

Die Amerikaner machen geltend, damit hätten Dutzende Terroranschläge — das ist die Wortwahl gewesen — verhindert werden können…..Das mag sein, aber trotzdem rechtfertigt das sicherlich nicht, aus unserer Sicht, den flächenmäßigen, unspezifischen … Zugriff auf alle Kommunikationsdaten von 80 Millionen Menschen.

Tja. Wenn nicht einmal Terrorismus als Rechtfertigung für den unspezifischen Zugriff auf Kommunikationsdaten taugt — ist dann die Vorratsdatenspeicherung erledigt? Oder will man sich auf darauf rausreden, dass die Daten von den Providern zwischengespeichert und erst anschließend der staatlichen Auswertung zugeführt werden?

Nundenn, das war bei den Funkzellenabfragen auch der Fall und wurde massenhaft genutzt. Und die Amerikaner nutzen die gleiche Ausrede. Es gibt also nichts auszusetzen, oder doch?

Ingress: Baut Wagenburgen

Wie viele mitbekommen haben, bin ich ja auch Ingress beigetreten. Ingress ist ein Augmented Reality-Game, oder für die Unkundigen: Schach mit Lasern mit der Welt als Spielfeld.

Seit mittlerweile fünf Monaten bin ich aktiver Spieler und habe mittlerweile Level 7 erreicht. Gestern bekam ich fünf Invites auf mein Konto. Das heißt wohl: Bald geht es los. Google bereitet das Ende der Invite-Only-Politik vor und will Ingress auf die breite Bevölkerung loslassen.

In den letzten Wochen hat sich Ingress sehr gewandelt. Anfangs waren Angreifer mit viel Zeit hoffnungslos im Vorteil und konnten quasi jedes Portal übernehmen. Man konnte es richtig auf der Karte verfolgen, wie ein Level-8-Spieler eine Schneise ins gegnerische Lager ziehen konnte.

Das ist vorbei. Motivierte Verteidiger — und zu die Kategorie zähle ich mich selbst — können die Portale in ihrer Umgebung mit Schilden und Links stark aufrüsten. Wachsame Spieler können portale auch während eines Angriffs aus der Ferne aufladen und so einen Angreifer zum Aufgeben bringen. Wenn der am schwersten zugängliche Resonator plötzlich immer wieder 100 Prozent erreicht, geben auch hartnäckige Level8-Spieler zuweilen auf. Manchmal pausieren sie auch nur ein paar Minuten und geben dem letzten Resonator dann den Rest.

Deshalb stimmt jetzt mehr als zuvor, was Kristian Koehntopp sagte: Ingress ist ein Teamsport. Um Portale aufs Äußerste hochzurüsten, braucht man acht Level-8-Spieler. Aber der Spieler-Mittelstand ist auch wichtig, denn man braucht auch Resonatoren von Level 4 bis Level 6, um ein Portal voll auszustatten.

Gleichzeitig ist das Spiel für Neulinge unattraktiver geworden. Konnte ich im Januar direkt als Frischling mit dem Erobern von Portalen beginnen, müssen sich Neulinge heute auf unattraktive Tätigkeiten wie das Aufladen bestehender oder das Einreichen neuer portale beschränken. Nachwuchsförderung wird damit zu einem wichtigen Thema. Man sucht sich gezielt Mitspieler in Gegenden, wo man Unterstützung gebrauchen kann und lernt die so gut an, wie es geht. Und man nimmt sie mit auf Ingress-Touren, damit sie ihre ersten Levelsprünge bewältigen können. Man baut Wagenbrgen, um den Neulingen eine geschützte Umgebung zu bietren, wo sie erste Erfahrungen sammeln und Links setzen könnnen.

Wer Ingress als Herausforderung spielen will, wer Strategie und Ausdauer belohnt haben will, sollte in Deutschland dem grünen Team, den Enlightened beitreten. Denn die sind in Deutschland in chronischer Unterzahl. Wer möchte hier schon ein „Erleuchteter“ sein, wenn er dem „Widerstand“, der „Resistance“ beitreten kann? Dass sich die Situation genau umgekehrt verhält, wissen neue Spieler ja nicht.

Fan funding: Wer schon hat, dem wird gegeben

Ein neuer Kickstarter flimmert über meine Timeline: Zach Braff — bekannt aus „Scrubs“ — möchte Geld für einen neuen Film: Wish I was here. Ich habe sein letztes Werk „Garden State“ noch nicht gesehen, aber schon einiges Gutes darüber gehört.

Ich bin relativ sicher, Zack Braff hat das Zeug dazu einen tollen Film zu machen mit dem Geld, das ihm nun zugeworfen wird. Als ich zum ersten Mal auf den Link stieß hatte er schon 1,3 Millionen von angestrebten 2 Millionen Dollar zusammen. Aber ist das noch „crowd funding“, wie es anno dunnemal — also vor ein paar Monaten — vorgestellt wurde?

Zach Braff ist schon ein Star. Und wie er selbst sagt, hätte er keine Probleme Finanzierung für sein Projekt zu finden, aber zu einem Preis: Seine künstlerische Freiheit wird von den Finanziers beschränkt.

Und hier wird es jetzt albern und ich glaube Zach Braff kein Wort mehr. Die Finanziers könnten dafür sorgen, dass Jim Parsons nicht die Rolle seines Freundes spielen könne. Oder sein Kumpan aus Scrubs-Zeiten Donald Faison. Welche Investoren sollen so etwas machen? Im Gegenteil: Die Leute, die das Kickstarter-Publikum begeistern, begeistern gerade auch die Investoren.

Dass es mit der künstlerischen Freiheit nicht ganz so weit her ist, zeigt Braff in der nächsten Szene, in der er Nerdist-Shooting-Star Chris Hardwick einspannt und dem Publikum eine komplette Storyline auf der ComicCon verspricht. Hier appeliert er klar an den Investoren: Er bekommt eine Handlung ganz nach seinem Geschmack, wenn er nur Geld gibt. Zählt das nun als künstlerische Freiheit? Zudem: Hollywood liebt die ComicCon.

Crowd funding war zumindest nach meinem Verständnis eine Möglichkeit, jemanden aus der Crowd die Möglichkeiten zu geben, die er sonst nicht gehabt hätte. Doch der egalisierende Effekt schwindet mit dem Auftritt der Reichen, Schönen und Prominenten. Das kann sicher auch gute Effekte haben, aber nennen wir es besser „fan funding“. Denn die crowd ist hier nicht der bestimmende Faktor, es sind keine Menschen wie die Empfänger des Geldes. Sie sind sondern eine Herde, denen man etwas verkaufen will: Fans.

Newsrausch

Ich weiß noch genau, wann ich meinen ersten Newsrausch hatte. Ich war gerade Praktikant bei der Online-Redaktion der Stuttgarter Zeitung und nach einigen Routineaufgaben bekam ich den Auftrag zugeteilt, den Tickerdienst zu übernehmen. Vor mir standen zwei Computer und drei Bildschirme. Auf zweien flimmerten die Tickermeldungen von drei Nachrichtenagenturen an mir vorbei, auf dem dritten schrieb ich.

Ich war sofort begeistert. An diesem Arbeitsplatz bekam ich alle möglichen Infos noch bevor sie irgendjemand anders bekommen konnte. (Außer natürlich den paar Zehntausend, die damals Agenturzugriff hatten.) Im Minutentakt ratterten ständig neue Meldungen in das Redaktionssystem und ich wählte aus, was unsere Leser aus der Welt erfahren mussten. Erdbeben in Asien, Wahlen in Europa, ein schwerer Autounfall in Stuttgart. Anders als bei legendären Nachrichtenmomenten wie dem Fall der Mauer oder den Progromen in Rostock fühlte ich mich nicht ohnmächtig, nicht nur in der Zuschauerrolle. Denn ich wählte aus. Nicht nur Sätze, Formulierungen, sondern die Realität.

Denn ich konnte die Muster erkennen: Die eine Agentur war bei Opferzahlen immer daneben, die andere schickte ihre Nachricht ein paar Minuten später mit teils unmöglicher Sprache. Also bastelte ich „meine“ Nachrichten aus zwei bis drei Quellen zusammen und — man möge mir die nostalgische Arroganz verzeihen — immer hatte ich recht in meiner Auswahl. Denn ich sah nicht nur Meldungen, ich sah die Matrix, das Muster, dass alles verband. Ich erkannte die kleinen sprachlichen Anzeichen, wann sich ein Agentur-Redakteur nicht sicher war und viel wichtiger: Ich wusste wie die Welt tickt.

Natürlich hatte ich keine Ahnung — ich bestückte den Ticker nur für ein paar Tage und zwei Redakteure passten auf mich auf. Wie den Tauben bei Aschenputtel oblag es mir Stücke hoch durchformatierter Sprache zu sortieren. Doch ich fühlte mich plötzlich wichtiger, als Akteur auf der Bühne des Weltgeschehens. Dabei dürften meine Werke damals kaum Leser gehabt haben. Internet war damals ein Silberstreif am Horizont.

In den folgenden Jahren konnte ich von zu Hause den Newsrausch erleben. Mit Gleichgesinnten recherchierte ich den aktuellen Geschehnissen nach, mit Begeisterung tauschten wir die neusten Bilder aus, die im Gegensatz zu dem standen, was da noch im Fernsehen behauptet wurde. Fernsehen? Pah! Wir sind im Internet. Wir sind das Internet! Unsere Realität ist Echtzeit. Und mit ständig neuen verfügbaren Quellen – Nachrichtenticker, Google Maps, Facebook-Profile — kam ich mir immer schlauer vor. Man muss nicht warten, bis sich etwas neues ereignet, man schaut einfach in das Privatleben der Menschen, die durch das Nachrichtengeschen gewabert waren.

Doch mit den Jahren hat sich der Rausch gelegt. Zwar verfolge ich immer — ich sage mal: berufsbedingt — noch viele Geschichten in der Pseudo-Live-Ansicht des Internets. Doch bei den Ereignissen in Boston sagte ich mir: Da ist so viel Rauschen, das hat so wenig mit mir und meinem Leben zu tun. Das kann ich später in der Tagesschau sehen. Und auf den Kick der Klicks, der Illusion der Realität und Klarheit verzichten.

Hallo, mein Name ist Torsten. Ich bin Newsaholic. Und ich bin trocken seit — wisst ihr was? Ich bin es nicht. Aber ich arbeite dran.

Netzopa erzählt: DDOS

Heute berichten die Medien von der wahrscheinlich größten DDOS-Attacke, die man bisher dokumentiert hat. Nicht nur werden jede Sekunde Gigabyte an Daten auf die Ziele abgefeuert, das Gefecht soll auch das Netz insgesamt verlangsamen. Ich habe zwar nicht davon bemerkt, aber es wird berichtet.

Was ist ein DDOS-Angriff? Es ist ein bisschen so, als würde man seinen Gegner mit Wattebällchen bewerfen. Datenpakete sind klein und weich. Die Hardware auf die sie auftreffen, macht den ganzen Tag und jede Minute nichts anderes als Bits und Bytes anzunehmen und weiterzuleiten. Der DDOS-Angriff ist jedoch ein regelrechter Sturm aus Datenpaketen. Es sind einfach zu viele um sie ordentlich verarbeiten zu können. Und wie bei einem Schneesturm, ist es schwer auszumachen, woher der Schnee denn kommt — alles ist weiß und flockig. Ganz besonders hinterfotzige DDOS-er konzentrieren ihre Wattebällchen auf verletzliche Ziele, wie den Tank eines Autos (Ihr dachtet wohl nicht, ihr kommt hier ohne einen Autovergleich raus? Aber es kommt noch besser.) Ein DDOS ist ein Daten-Shitstorm. Aus Watte. Mit Datenpaketen.

Meine erste Begegnung mit Shitstorms hatte ich sehr früh in meinem Netzleben. Damals — wir schrieben noch ein anderes Jahrtausend: statt Euro gab es De-Mark und ECU, und Justin Bieber hieß noch Justin Timberlake — waren neben Foren das so genannte IRC meine erste Heimstätte im Netz. Der Internet-Relay-Chat war und ist ein relativ simples Chat-System. Text-basiert, ohne Audio, Video — und damals ohne Clients, die Smilies in knuffige, eklige Gesichterchen verwandelten. Hier war die Echtzeit, man konnte direkt mit Menschen anderer Herkunft sprechen, und das über ein Analog-Modem. PFRRRIIIIÜÜÜÜÜÜTTKRZKRKRT.

Ein schon damals erstaunliches Feature von IRC war die Vernetzung verschiedener Server. Was wir heute so wichtigtuerisch und geheimnisvoll „Cloud“ nennen, war damals ein simpler Zusammenschluss von Servern. Da ein einzelner Server mit Zehntausenden Chattern überlastet war und Entfernung zum Server noch eine größere Rolle spielte, wurden die Server zusammengeschaltet. Man konnte sich auf einem australischen Server einwählen und relativ zeitnah mit jemandem in Bulgarien sprechen. Der Lag betrug dann zwar ein paar Sekunden, aber wenn man jede Äußerung erst tippen muss, passt das schon.

Ein weiteres Feature von IRC war die Absteckung von Claims. Man chattete primär nicht von Person zu Person, sondern in so genannten Channeln. Es gab Tausende Channel, die sich zu bestimmten Themen zusammenfanden. Die CCC-Sympathisanten hatten ihren Channel, die Amiga-Fans hatte einen anderen, die Justin-Bieber-Fans hatten keinen Channel, denn der hieß ja noch Timberlake. Aber ich schweife ab.

In jedem dieser Channel entstand eine kleine Gemeinschaft. In dem einen Channel war es verboten, ZU LAUT IN DEN CHANNEL ZU TIPPEN, in anderen war das Stellen blöder Fragen verpönt. Die so genannten „Ops“ waren die Wächter über das Channel-Leben. Sie konnten nicht nur das Topic eines Channels verändern und die Willkommensbotschaft festsetzen, sie konnten bestimmte Teilnehmer auch aus dem Chat hinauswerfen, sogar auf Dauer verbannen. Die Technik schenkte uns grenzenlose Kommunikation. Und wir machten eine Kleinstaaterei daraus.

Es kam, wie es kommen musste. Channel A vertrug sich nicht mit Channel B und Channel C bestand aus lauter arroganten Blödmännern. (Ja, mit Channel C meine ich #amigager.) Wenn sich zwei Kanäle mal so richtig raufen wollten, versuchten sie den Kanal des anderen zu übernehmen. Entweder ein U-Boot wurde eingeschleust, der sich den Status eines OP erschlich und alle anderen Ops rauswarf. Oder man griff zum DDOS.

Datenverbindungen waren damals nicht so sonderlich stabil. Und teuer. Wenn Verbindungen ab und an abbrachen, lief der Chat weiter — wurde aber getrennt. Aus einem Channel wurden dann zwei, die auf verschiedenen Servern unabhängig weiterliefen. Plötzlich war der halbe Channel weg, oder drei Viertel, oder man war plötzlich alleine. Wenn der so genannte Netsplit vorbei war, verbanden sich die Channel wieder und die Server mussten die zwei unterschiedlichen Realitäten wieder zu einer zusammenfügen. Wer genau sollte OP sein, welches Topic sollte bestehen. Und wenn plötzlich zwei Chatter mit dem gleichen Namen anwesend waren, konnte nur einer überleben. Der Highlander lässt grüßen. (Kinder, schaut es in der Wikipedia nach.)

Diesen Netsplit konnte man mit DDOS-Angriffen provozieren. Wenn man also Op im verfeindeten Channel werden wollte, musste man nur die Verbindungen der Server manipulieren und wenn die Attacke beendet war, war man plötzlich der König der Welt. Beziehungsweise: Man hatte das Op-Flag in einem Kommunikationsmedium, das niemand in 30 Kilometer Umkreis kannte. Und konnte alle anderen Ops entmachten. Mit ein paar vorgefertigten Skripten, musste man nicht mal schneller sein als die anderen. Man musste nur etwas arschlochhafter sein, ein solches Skript einzusetzen.

Nun, was ist draus geworden? IRC existiert noch, ist aber keine Heimat mehr. Die Kleinstaaterei haben wir immer noch in so vielen Bereichen. DDOS-Attacken gibt es immer noch. Und sie sind meist kein Ausdruck von Bürgerprotest und Selbstverteidigung, sondern die Machtspiele kleiner Arschlöcher, die das Netz in so kleine teile zerstückeln wollen, dass sie in ihrem Stück, die Größten, die Besten und Schönsten sind. Und die Doofsten.