Er fährt 60 Stundenkilometer, wo andere 100 fahren, bei Tempolimit 70 bremst er runter auf 40 und innerorts bleibt er gerne unvermittelt stehen. Grade zu Pfingsten können ihr ihn in freier Wildbahn erleben: Den Sonntagsfahrer. Grade wenn ich eine lebensmüde Trantüte auf der Straße vor mir verfluchen will, kommt mir manchmal der Gedanke: Sollten wir nicht alle viel mehr wie Sonntagsfahrer sein? Uns einfach etwas mehr Zeit nehmen und Regeln Regeln sein lassen? Was kümmert es schon?
Nun – mich kümmert es. Ich bin wahrhaftig nicht mit Bleifuß geboren und ich werde mir auch keine Radarfallen-App zulegen, die mir verrät, wo ich nicht mit zu hoher Geschwindigkeit fahren darf. Meine Maxime ist: Fahr einfach überall korrekt. Oder auch langsamer. Das alleine macht jedoch keinen Sonntagsfahrer aus.
Zunächst einmal: Der Sonntagsfahrer ist nicht an ein Verkehrsmittel, Geschlecht oder Alter gebunden. Der 70jährige Mercedes-Fahrer mit Filzhut ist sicher ein ganz heißer Kandidat, daneben gibt es aber auch sonntagsfahrende Motorradfreunde, Sonntagsradfahrer und jede Menge Sonntags-Bahnfahrer. Allen gemein ist, dass sie in einer Ausnahmesituation sind, zumindest nach ihrem Gefühl. Es ist Sonntag, sie sind unterwegs zum Baggersee oder zu Kaffee und Kuchen bei den Verwandten. Sie haben die ganze Woche oder gar ein Erwerbsleben lang geschafft, und nun wollen sie sich keine Gedanken machen. Das haben sie sich verdient.
Der Sonntagsfahrer fährt nicht nur langsam, sondern auch rücksichtslos. Diese Rücksichtslosigkeit ist unbedingt gegen andere gerichtet. Der Sonntagsfahrer richtet sich nach der Devise: Ich habe Ferien und in seinen Ferien verdient es niemand überfahren zu werden. Dieses Denken ermöglicht ihm Fahrmanöver, die kaum ungefährlicher sind als das, was Cobra11 werktags vorführt. Der Blinker wird erst gesetzt, nachdem er eine Vollbremsung auf offener Straße hingelegt hat.
Und Vollbremsungen macht er oft, der Sonntagsfahrer. Denn er hat keine Zeit, 50 Meter weiter zu fahren, zu blinken, seinen Wagen auf einem Parkplatz abzustellen und dann wieder zu der Stelle zu laufen, wo man den besonders schönen Blick auf das Schloss Neuschwanstein, auf den Nibelungenfelsen, auf den Nürburgring hatte. Denn nach 30 Sekunden Staunen muss es schon weiter gehen. Impulskontrolle ist für Alltagsfahrer. Unvermittelt fährt er wieder an und setzt den Weg einen Kilometer lang auf der linken Standstreifen fort. Wenn der Warnblinker angeschaltet ist, heißt das: Aus dem Weg, ich hab Urlaub!
In gewisser Weise fühlen sich die Sonntagsfahrer sogar dem Kantschen Imperativ verpflichtet. Nur ist ihre Handlungsmaxime nicht das, was zu einem allgemeinen Gesetz werden könnte. Ihre Version lautet vielmehr so: Handle gerade so, dass Dir nach Deiner Vorstellung keine Gefängnisstrafen drohen sollte. Oder noch besser: Alle anderen sollten so handeln, dass ich nach meiner Nase Leben kann.
Seid keine Sonntagsfahrer.