Gesellige Ideen

Eins meiner ersten Lieblings-Podcasts war NPR Planet Money — ein ambitionierter Versuch, unser Wirtschaftssystem im Anbetracht der Weltfinanzkrise von 2008 neu zu erklären. Mir gefiel, wie die Sendung in der Regel unhinterfragte Annahmen des Wirtschaftslebens doch hinterfragte und so einerseits die Mängel des amerikanischen Finanzwesens aufdeckte, aber dabei auch Dinge erklärte, die tatsächlich Sinn machen.

Ich habe schon länger nicht mehr reingehört, bin vor kurzem aber auf dieses Stück gestoßen: The ‚Strange, Unduly Neglected Prophet‘. es geht um Silvio Gesell, dem Gründungsvater der Freiwirtschaftslehre, der ich mich 2008 schon mal an dieser Stelle gewidmet hatte.

Der Anlass ist klar: Da derzeit Negativzinsen nicht mehr nur ein theoretisches Konstrukt, sondern mittlerweile eine Realität für Sparer sind, kann man sich fragen: A) Wer kam schon mal auf eine solche Idee und B) was können wir von ihnen lernen. Die Antwort auf Frage A) ist: Silvio Gesell kam tatsächlich mit der Idee eines Schwundgeldes auf, das stetig an Wert verlieren und somit den wachstumsbringenden Geldwirtschaftskreislauf beschleunigen sollte. Die Antwort auf Frage B: Wir können absolut nichts von Silvio Gesell lernen.

Planet Money hat das nicht erkannt und hat eine lobhudelnde und lückenhafte Schaffensgeschichte zusammengetragen:

Gesell wanted to create a new kind of money — a money that would „rot like potatoes“ and „rust like iron“ so no one would want to hoard it, a money that was „an instrument of exchange and nothing else.“ And the crazy part is that he did create it. Through a series of pamphlets, articles and books, Gesell inspired a worldwide movement that introduced a completely new form of money. It’s one of the most fascinating, and largely forgotten, stories in economic history.

[…]

In 1919, anarchist revolutionaries in Munich, Germany, took the helm of the short-lived Bavarian Republic, and they persuaded Gesell to become their finance minister. Led by pacifist poets and playwrights, it has been called „one of the strangest governments in the history of any country.“ Gesell began pursuing a program that included land reform, a basic income for women with children and, of course, stamped money. But the job lasted less than a week — ending after another group of revolutionaries, this time led by hard-line communists, overthrew the anarchist poets and playwrights. A year later, after the German government reasserted control, Gesell was tried for treason. But, successfully arguing that his only role and purpose was to rescue the Bavarian economy, he was acquitted after a one-day trial and went back to writing.

Was nicht erwähnt wird. Gesells Ideen, die zum Beispiel eine Unterscheidung vom „raffenden“ und „schaffenden Kapital“ vorsahen, fanden Anhänger in vielen Lagern. Unter anderem Adolf Hitler. Das ist auch der Grund, warum sich einige Punkte des 25-Punkte-Programms der jungen NSDAP so lesen, als seien sie direkt aus Gesells Schriften abgeschrieben worden.

Ich hatte mir mal vor über zehn Jahren die Arbeit gemacht in der Universitätsbibliothek die wenigen vorhandenen Schriften von Silvio Gesell im Volltext anzusehen. Und ich kam zum Ergebnis: Nicht nur ist es kein Zufall, dass die Nazis Silvio Gesells Ideen so mochten. Er lag auch mit so ziemlich allem falsch.

Kein Wunder in Wörgl

Zu seiner Ehrenrettung: Eine systematische Volkswirtschaftslehre gab es damals nicht. Leute wie John Maynard Keynes mussten ihre Ideen anhand einer unüberschaubaren Realität entwickeln und riskierten dabei nicht nur falsch zu liegen, sondern auch alles zu verlieren. Silvio Gesell lag mit einem richtig: Das damals existierende Geldsystem klappte nicht. Er konnte aber nie ergründen, woran dieses Nicht-Funktionieren genau gelegen hat. Und auch in der Weltwirtschaftkrise konnte er nicht mehr tun, als das festzustellen, was nun jedem offenbar wurde: Es gab eine Weltwirtschaftskrise.

Das berühmte „Wunder von Wörgl“, bei dem angeblich Gesells Ideen vermeintlich getestet wurden, war keines. Weder war das Ergebnis ein Wunder, noch gab es tatsächlich belastbare Ergebnisse. Eher die Ausprägung eines Cargo-Kultes. In einer akuten Krisenlage wurde etwas Verzweifeltes versucht. Es klappte kurzzeitig, bevor es dann plötzlich nicht mehr klappte. Und seit 90 Jahren hat nie wieder jemand wirklich versucht, ein solches Experiment nachzubauen. Es gab zwar Regiogelder – die erreichten jedoch nicht mal den Umfang von Payback-Punkten und konnten daher keinerlei Währungseffekte entwickeln.

Einer der Punkte, an dem Silvio Gesell so falsch lag: Er betrachtete den Grund und Boden als einzige relevante Ressource. Der einen Seite mag es sympathisch sein, dass er deswegen zu einer Grundreform aufrief. Der anderen Seite war etwas anderes sympathisch: Wenn Grund die einzige relevante Ressource ist, ist ein Eroberungsfeldzug im Osten ja nur Ausdruck des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts. Was heute jeder Seite klar sein müsste: Eine Wirtschaftstheorie, die sich darauf stützt, dass Grund die einzige relevante Ressource ist, kann weder die Realität von heute oder gestern erklären, noch einen Blick nach vorne erlauben.

So war es Gesells ultimative Idee, den Geldumlauf zu erhöhen. Heute jedoch kursieren jedoch bereits Billionen Dollar in unglaublichem Tempo um den Globus, was dann auch zur Weltfinanzkrise führte. Und teils wahnsinnigen Immobilienpreisen. Und dem scheinbar grenzenlosen Kapitalnachschub für Uber. Vielleicht würde Gesell bei der Analyse der heutigen Situation das Gegenteil vorschlagen. Wir können ihn nicht mehr fragen.

Ein Exot, kein Prophet

Insofern: Silvio Gesell war ein Exot. In einer unübersichtlichen Zeit hat er sich daran gemacht, Zusammenhänge zu verstehen und die Welt zum Besseren zu verändern. Der Versuch mag verdienstvoll gewesen sein — er ist jedoch gescheitert.

Und selbst wenn man nochmal ein Währungssystem konstruieren will, das auf Negativ-Zinsen oder Schwund basieren sollte, wäre es an der Zeit, die Schriften von Silvio Gesell zu vergessen. Denn er lebte in einer Zeit, an der die Währungen noch an den Goldwert der Reserven königlicher und kaiserlicher Banken gebunden war. Er kann kein Wegweiser mehr sein in einer Zeit, in der Geld bereits mehrfach neu erfunden wurde und die Probleme, die es damals gab, tatsächlich gelöst wurden. Mn könnte auch sagen: Die alten Probleme wurden durch neue Probleme ersetzt. Diese neuen Probleme jedoch benötigen neue Propheten, neue Ideen und neue handfeste Experimente.

Hot Ones

Wenn Schauspieler einen neuen Film oder eine neue Serie herausbringen, müssen sie auf eine PR-Tour gehen. Wir wissen alle, wie das so ist. Denn wir haben „Notting Hill“ gesehen. Weltstars wie Julia Roberts reisen durch die Metropolen der Welt, schreiten bei der Filmpremiere über den roten Teppich und werden dann in einem anonymen Hotelzimmer durch eine Reihe von fünf, zehn oder zwanzig nichtssagenden Interviews geschleift. Dann Sex mit Hugh Buchhändler, Alec Baldwin taucht auf, Yadda, Yadda, Yadda. Nächster Film.

So war es zumindest einmal. Zumindest fast so. Doch das Filmgeschäft hat sich geändert. PR-Touren sind inzwischen so wichtig geworden, dass man einen Weltstar wie Kevin Spacey nur für eine Szene verpflichtet, damit er nachher bei Stephen Colbert auftritt und für den Film wirbt. Zum anderen ist aus dem anonymen Hotelflur mit den Fließband-Interviews ein regelrechter Hindernislauf geworden. Die Stars müssen sich nicht mehr nur zu langweiligen Interviews bereiterklären. Stattdessen werden sie durch einen ganzen Zirkus von PR-Events geführt. Sie geben in der Garage eines dauermasturbierenden Comedians Interviews, weil ja Obama auch schon da war. Sie müssen mit Jimmy Fallon in New York City dämliche Quiz- und Tanzspiele absolvieren, in L.A. mit James Corden Delphinhoden essen und dann auch noch über den Atlantik zu Graham Norton. Und wenn sie ganz, ganz viel Pech und einen guten PR-Manager haben, werden die Stars in ein kleines Studio in New York geschickt, wo die YouTube-Serie Hot Ones aufgenommen wird.

Das Konzept der Sendung ist einfach: Der hoodie-tragende Hipster-Moderator Sean Evans interviewt einen Star — Schauspieler, Comedian, Rapper, whatever — während beide zusammen Hot Wings essen — also gebratene Hähnchenflügel mit zunehmend scharfer Soße. Und wenn Sean Evans „hot“ sagt, meint er es auch. Den von ihm interviewten Stars bricht unweigerlich nach einigen Minuten der Schweiß aus. Manche schreien vor Schmerz, andere brechen in Tränen aus. Ein Gast hat sich auch vor laufender Kamera in die Hosen — Verzeihung — geschissen. Und dennoch liebe ich die Sendung. Denn es ist eine der besten Interview-Shows von heute.

Der Mythos der Sendung ist, dass die Interviews bei Hot Ones wegen des scharfen Essens so gut gelingen. Evans hat das Phänomen jahrelang in Dutzende Mikrofone erklärt: Wenn die Prominenten mit ihrer physischen Qual beschäftigt sind, werden sie aus dem Konzept geworfen und vergessen ihr jahrelanges Medientraining, mit dem sie sonst jede kritische oder interessante Frage abperlen lassen können.

Das mag so sein, aber es ist maximal die halbe Wahrheit. Das wahre Erfolgsrezept ist: Die Show nimmt nicht nur ihre Gäste ernst, sondern auch ihre Arbeit. Bei einem Interview in der Late Show mit Stephen Colbert behandelt ein Interviewsegment üblicherweise eine Anekdote und dann den Film, die Serie, die Show, die der Gast bewerben will. Bei Hot Ones gibt es „Deep cuts“. Vor der Sendung haben sich Sean Evans und sein Team stundenlang durch Interviews gewühlt, hat den Instagram-Account des Gastes geflöht und sogar die Fanforen nach den spannendsten ungeklärten Fragen durchsucht. Und er stellt sie. So redet er mit Kristen Bell über die Philosophie-Lektionen in The Good Place, mit Charlize Theron über das Kampftrainig für ihre Filme, mit Idris Alba über die Londoner Musikszene seiner Jugend. Er lässt sich nicht von der Prominenz blenden, sondern redet mit den Handwerkern des Show-Business über ihre Kunst.

Natürlich reicht eine 15 bis 25-minütige Sendung, die zum großen Teil aus Standardeinstellungen von kleinen Soßenflaschen besteht, plötzlich ganz neu das Wesen eines Lebenswerks zu entdecken. Aber bemerkenswert oft gibt die Sendung ein paar neue Denkanstöße. Und falls nicht, ist es doch lustig, dabei zuzusehen, wenn Sean Evans seine Gäste zum „Last Dab“ herausfordert — nämlich von der schärfsten Soße noch eine Extra-Portion zu verzehren. Hier sieht man: Niemand, fast niemand von den Stars hat auch nur bisher auch nur eine Folge von „Hot Ones“ gesehen. Ihre PR-Berater haben ihnen kurz das Konzept erklärt und sie in das Auto gesetzt. Trotzdem: Niemand kann der Herausforderung widerstehen, die Fans, die Hater oder auch nur Sean Evans beeindrucken zu wollen.

Meine Empfehlung: Schaut Euch durch den Katalog von Hot Ones und sucht Euch einen Gast raus, der Euch sowieso schon interessiert. Und wenn Euch die Sendung selbst gefällt: Schaut die Folge mit dem Superfan. Denn auch Hot Ones gehört zum Medienzirkus und verdient daher eine bullshitfreie Betrachtung.

Plastiktüten sind furchtbar

Ich finde es grade etwas absurd, wie verbissen sich manche Menschen im vermeintlichen Freiheitskampf für die Einkaufstüte aus Plastik engagieren. Denn selbst wenn es keine Abfalldebatte gebe, selbst wenn Plastiktüten aus verdichteter Zuckerwatte bestünden und nach Gebrauch an Einhörner und Eisbärenbabys verfüttert würden — selbst dann wären sie furchtbar.

Jede andere Methode seine Verkäufe nach Hause zu bringen scheint mir weit überlegen. Zum einen das immer wieder vollführte Drama am Einkaufsband: „Darf ich nochmal durch? Oder könnten Sie mir grade ein Tüte anreichen?“ Dann muss die Tüte aufgeschüttelt werden. Dann bleibt die Tüte nicht offen, sondern wird von der statischen Elektrizität wieder zusammengezogen. Und dann entdeckt man: Oh Gott, ich muss doch die Tomaten nach oben… Und die Bananen…. Und die Eier. Dann greift der Plastikkunde zu den Plastikgriffen und die Last des Einkaufs zerquetscht den Joghurtbecher.

So richtig zehennagelaufrollend wird es dann vor dem Supermarkt. Etwa, wenn jemand versucht, die Tasche aufrecht in seinen Kofferraum zu stellen. Weil: Diesmal fällt sie garantiert nicht um. Anders als die 500 Male zuvor. Oder noch schlimmer: Leute, die ihre Plastiktüte am Fahrradlenker baummeln lassen. Eigentlich ist das keine Fortbewegung mehr, sondern ein mobiler Unfall. Man kann nicht richtig lenken, man kann nur mit halber Kraft fahren, man ist allen anderen Leuten im Wege, weil die Tüte schaukelt und der Rest des Rades auch. Was ich noch nicht gesehen habe: Plastiktüten auf dem E-Scooter. Die Leute auf diesen Gefährten mögen besoffene Hedonisten sein. Aber so ganz von gestern sind sie halt auch nicht.

Denn das einzige was die Plastiktüte für sich hatte: Sie war immer da. Und sie war meist umsonst. Jetzt, wo das nicht mehr der Fall ist: Leute, ihr seid befreit.

„Verbot“ ist verboten

Heute gibt es mal wieder eine besonders verquaste Sommerloch-Mediendebatte. Carsten Linnemann, Vize-Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, hat ein Interview mit der Rheinischen Post geführt. Die dpa-Zusammenfassung führte zu heftiger Kritik, weil die Nachrichtenagentur in der Überschrift von einem „Grundschulverbot“ sprach. Dieses Wort war in dem Interview aber gar nicht gefallen.


Die dpa hat sich entschuldigt und eine neue Meldung hinterhergeschickt. Also eigentlich alles wie üblich und erledigt, oder?

Das Kuriose ist aber: Linnemann hat tatsächlich ein Verbot gefordert. Ja, die dpa hat diesen Aspekt in der Überschrift zu sehr zugespitzt und der Bundestagsabgeordnete hatte sich nicht ganz zu unrecht beschwert. Aber wenn man sich die Korrektur durchliest, geht es um Präsentation und weniger um die Substanz:

Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) weist den Begriff „Grundschulverbot“ für seinen Vorstoß zurück. Ihm gehe es darum, dass es Konsequenzen haben müsse, wenn Kinder vor der Schule die sogenannten Sprachstandstests nicht bestünden. Wenn dann trotzdem eingeschult würde, hätten weder die Kinder aus deutschsprachigen noch die aus nicht-deutschsprachigen Haushalten etwas davon, sagte Linnemann am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Die dpa hatte in der Überschrift einer Meldung vom Montag den Begriff „Grundschulverbot“ verwendet und dies am Dienstag nachträglich korrigiert.

Der „Rheinischen Post“ hatte Linnemann gesagt: „Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen.“ Er schlug für betroffene Kinder eine Vorschulpflicht vor. Notfalls müsse eine Einschulung auch zurückgestellt werden, sagte er.

Also: Linnemann mag den Begriff nicht, den die dpa gewählt hat. Aber seine Forderung ist: Wenn ein Kind den „Sprachstandstest“ nicht besteht, muss es eine Konsequenz geben. Diese Konsequenz heißt: Das Kind darf nicht in die Regelschule. Oder in anderen Worten: Es geht um ein Verbot.

Auch die entscheidenden Textstellen des Ursprungs-Interviews, die zum Beispiel Thomas Knüwer online stellt, da sich der Volltext hinter eine Paywall verbirgt, lassen eben den gleichen Schluss zu.

„Es reicht nicht nur, Sprachstandserhebungen bei Vierjährigen durchzuführen, sondern es müssen auch Konsequenzen gezogen werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen. Hier muss eine Vorschulpflicht greifen, notfalls muss seine Einschulung auch zurückgestellt werden.“

Das gleiche wie oben: Kinder sollen zu einem Test verpflichtet werden. Und wer den Test nicht besteht, darf nicht auf die Schule. Ein klassisches Verbot. Wenn ich den Führerschein nicht bestehe, ist es mir verboten, Auto zu fahren. Wenn ich den Alterstest bestehe, darf ich keine Zigaretten kaufen. Das Wort „Verbot“ alleine mag den Nuancen und Details des Vorschlags nicht gerecht werden, es bleibt aber ein Verbot.

Trotzdem hat sich erstaunlich schnell herumgesprochen, dass man Verbot nicht „Verbot“ nennen soll. So kommentiert Gökalp Babayiğit bei Süddeutsche.de:

Nein, als „Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können“, wie es die Deutsche Presse-Agentur anfangs umschrieb, lässt sich die Forderung von Carsten Linnemann nicht bezeichnen.

Einen Absatz später heißt es aber:

„Linnemann, immerhin stellvertretender Unionsfraktionschef im Bundestag, will Kindern mit ungenügenden Sprachkenntnissen die Einschulung verwehren.“

Also kein Verbot, sondern ein Verwehren? Ich bin mir ziemlich sicher, beide Worte sind in diesem Kontext Synonyme.

Auch Patrick Gensing hat sich im Tagesschau-Faktencheck verzettelt, indem er ebenfalls das Grundschulverbot dementiert. Aber dieses Interview ist — selbstverständlich — ein klassischer „Testballon“. Ein Politiker aus der zweiten Reihe bringt eine womöglich unpopuläre Maßnahme ins Spiel und die Partei wartet die Reaktionen ab, so dass sich die Politiker aus der ersten Reihe dem Thema entweder widmen oder es lieber auf die lange Bank schieben können. Natürlich ist der Vorschlag in Details äußerst vage. So will sich der Bundestagsvizefraktionsvorsitzende nicht wirklich im Detail äußern, da er beim Länderthema Schule eh keine Zuständigkeit hat und die super-teure Vorschule nicht aus seinen Etats bezahlen will. Wie es bei Testballons üblich ist, erscheinen die Reaktionen der politischen Kontrahenten darauf wieder überhitzt. Das kann man zurecht kritisieren.

Aber kann man es auf Fakten prüfen? Es wäre vielleicht eine andere Interpretation möglich: Herr Linnemann improvisierte in dem Interview und ihm fiel gar nicht auf, dass er in der Aufzählung seiner Gedanken zum Thema in der Konsequenz ein Verbot forderte. Es kann auch sein, dass er ein wesentliches Detail vergessen hat — etwa, dass die reguläre Einschulung maximal ein Jahr verschoben werden kann. Die Kernfrage wäre also: Wusste Herr Linemann, was er dort sagt und wie es ankommen wird? Ich vermute: ja. Aber das ist halt kein Fakt, den man so einfach zweifelsfrei checken kann.

Alles in allem: Die dpa hat ihre Meldung überspitzt und einen Fehler gemacht. Sie hätte in der Überschrift ein echtes Zitat verwenden können oder zum Beispiel die verpflichtenden Sprachtests thematisieren können. Im kollektiven Zurückrudern haben die vernetzten deutschen Journalisten aber dann auf bemerkenswerte Weise vergessen, was denn das Wort „Verbot“ bedeutet und dass man tatsächlich Schlussfolgerungen aus verquast formulierten Forderungen ziehen darf, sofern man denn den Leser mitnimmt. Eine klassische Überkorrektur.

PS: Eine Lehre kann ich vielleicht für meine Arbeit daraus zieht: Wann immer jemand eine unbestimmte Einschränkung wie „noch“ ins Spiel bringt, muss eine Nachfrage kommen: Wie lange denn? Was heißt das konkret?