Dass soziale Medien zu Teilen toxisch sind, ist wahrlich keine neue Erkenntnis. In letzter Zeit ist mir aber immer wieder aufgefallen, wie sehr selbst trivialste Gruppenunterschiede zu giftigsten Kommentaren führen. Ein Beispiel ist die Dauerfehde zwischen „Radfahrern“ und „Autofahrern“. So finden es einige Leute auf Facebook mittlerweile in Ordnung, den Tod von Radfahrern zu belachen, weil die sich ja schließlich alles erlaubten. In Radfahrergruppen wird hingegen der Autofahrer als Feind und alleinige Ursache allen Übels gesehen, dem man einfach alle Straßen und Parkplätze wegnehmen muss, damit die Mobilität wieder klappt.
Dabei sollte es doch an sich die Wahl des Verkehrsmittels doch nicht direkt in eine Identität umwandeln: Ich fahre oft Rad, also bin ich Radfahrer. Doch wenn ich vom Rad absteige, bin ich Fußgänger. Und wenn ich dann sogar in ein Auto steige, bin ich Autofahrer.
Drei Herzen in einer Brust? Nicht nötig.
Diese drei Identitäten stehen nicht wirklich im Widerspruch. Sie informieren sich sogar gegenseitig. Als Autofahrer überhole ich Radfahrer mit Abstand — und falls das nicht möglich ist, raste ich nicht aus. Ich hab einen siebten Sinn dafür entwickelt, wann jemand ohne auf den Verkehr zu achten auf die Straße tritt oder von einem Parkplatz ohne zu blinken in den Verkehr einbiegt. Als Fußgänger achte ich darauf, nicht blind auf die Radwege zu treten. Als Radfahrer weiß ich, wann ich in einem toten Winkel fahre oder den quer kommenden radverkehr blockiere. (Natürlich bin ich kein perfekter Fahrer oder Fußgänger, aber ich bemühe mich.)
Im Stadtverkehr sehe ich dann natürlich die vielen Mängel im Verhalten der anderen — wie könnte man auch nicht? Mal ganz pauschal nach Gruppen sortiert:
- Radfahrer behandeln Ampeln als Vorschläge.
- Autofahrer blinken nicht mehr.
- Fußgänger sind überfordert selbständig in Gruppen von mehr als zwei Personen eine Straße gefahrlos zu überqueren.
- Segways und E-Skateboards sind…eine lächerliche Art sich fortzubewegen.
Menschen sind ein Problem. Infrastrukturen auch.
Gleichzeitig sehe ich aber auch, warum sich die Leute neben ihrer individuellen Verschlunztheit solche Verhaltensmuster angewöhnen. Das Fundament der Probleme ist die autozentrierte Infrastruktur. Natürlich glaubt der Autofahrer, die Fahrbahn sei für ihn gebaut. Sie ist es schließlich auch. Die Fahrbahnbreite ist auf das Auto abgestimmt, das Tempolimit, die Beschilderung. Ein Radfahrer, der halb so schnell auf einer halben Spur fährt, ist da ein Fremdkörper. Dass mehr Radverkehr weniger Stau auf den Autospur bedeutet, ist eine Abstraktion, die man nicht mal eben hinbekommt. Zumal es ja trotz Radfahrern immer noch eine Unmenge Autofahrer gibt — hallo Kölner Ringe.
Radfahrer hingegen sehen sich zu oft als immun gegenüber Verkehrsvorschriften. Ein Grund dafür: Auch Verkehrs- und Städteplaner sind über Jahrzehnte dieser Auffassung gewesen. Wenn Radwege im Nichts enden oder sich unbeachtet in Holperpfade verwandeln, dann ist das nur damit zu erklären, dass man Fußwege und Straßen als alternative Radwege anzusehen sind. Wenn vor jeder Baustelle ein prophylaktisch ein „Radfahrer absteigen“-Schild steht — egal ob es Sinn ergibt oder nicht — dann weiß der Radfahrer: Das ist nicht wirklich als Lösung gemeint, sondern nur als Haftungsausschluss für Stadt und Baustellenbetreiber. Die in Beton und Blech gefasste Botschaft lautet: Fahrt doch wie ihr wollt, ist nicht unser Problem. Und das tun sie dann auch.
Gewohnheiten: Lang erprobt und plötzlich tödlich
Nun könnte man das als Status Quo akzeptieren und einfach weiter machen. Ver Verkehr ist ein Nullsummenspiel und wer sich nicht anpasst, geht halt unter. Das funktioniert aber nicht. Die Verstädterung schreitet rapide fort, wir müssen uns dran gewöhnen, dass der Verkehr auf den Straßen sich umbildet.
Das tückische an solchen Entwicklungen: Lange erprobte Gewohnheiten können ganz plötzlich zur tödlichen Gefahr werden. Dabei hat sich nicht wirklich was verändert als das jedes Jahr ein paar mehr Radfahrer auf der Straße fahren, dass die SUVs vor dem Bioladen und der Grundschule jede Generation einen Zentimeter breiter geworden sin, dass drei Mal am Tag ein Lieferwagen Zalando-Pakete und Getränkekisten vorbeibringt, dass das 80jährige Ehepaar von gegenüber seine Lebensqualität per E-Bike erhöht. Und plötzlich ist die Frau, die seit 30 Jahren aus dem Supermarkt nach Gehör auf die Straße tritt, ein weitere Nummer in unserer Verkehrsunfallstatistik.
Die Sache mit dem Kopfhörer
Apropos Gehör: Gestern las ich einen Artikel, wonach ein FDP-Politiker ein radikales Kopfhörerverbot für Radfahrer gefordert hat. Das ist nicht nur ein schönes Beispiel, wie Radfahrer als Verkehrsteilnehmer zweiter Klasse gesehen werden — denn niemand träumt auch nur davon, Autofahrern oder Joggern laute Musik zu verbieten. Ein Kopfhörer in der Öffentlichkeit zu tragen ist eigentlich einer der unmittelbarsten Akte von Freiheit, den wir in unserem Alltag erleben. Wer das nur für eine Klasse von Verkehrsteilnehmern abschaffen will, will wohl nicht mehr zu den „Liberalen“, sondern zu der „Autofahrerpartei Deutschlands“ gehören.
Mehr noch: Der Vorschlag ist bemerkenswert zukunftsblind. Denn Elektroautos machen keinen Motorenlärm. Mahr Radfahrer und mehr Elektro-Autos bedeuten, dass wir uns immer weniger auf unser Gehör verlassen können. Ich hatte schon im Alltag diverse Aha-Erlebnisse, wo ich ein Elektro-Auto schlicht übersehen habe, weil ich mir angewöhnt habe, einen teil meiner Periphärsicht den Ohren zu übertragen. Nun könnte man kleine Lautsprecher an Elektroautos montieren. Oder jemanden mit einer roten Fahne und einer kleinen Hupe voranschicken. Weniger Lärm ist ein Fortschritt.
Schulterblick für alle!
Was passieren muss: Wir müssen zu einer neuen Kultur des Miteinander im Verkehr einstellen. Dazu gehört einerseits, dass Verkehrswege neu geplant werden, so dass sich Radfahrer tatsächlich an Verkehrsregeln halten können. Sie müssen dies dann aber auch nutzen. Und sie müssen sich selbst drauf einstellen, dass sie nicht mehr die Sonderlinge im Straßenverkehr sind.
Jeder, der am Straßenverkehr teilnimmt, sollte ein wenig mehr Rücksicht nehmen. Zum einen meine ich das physisch: Ein Schulterblick kann auch Fußgängern das Leben retten. Denn selbst der Zusammenstoß mit einem Jogger kann tödlich enden. Hier finde ich auch Veranstaltungen wie die Radfahrdemo Critical Mass wichtig, da hier Radfahrer lernen können, wie es ist unter lauter Radfahrern unterwegs zu sein. Denn ganz von alleine lernt man das nicht. Wir müssen neue Gewohnheiten entwickeln.
Eine Chance für alle
Als Gesellschaft müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass sich die Verkehrssituation für den einen Bürger nur bessert, wenn man dem anderen Bürger etwas wegnimmt. Hier sind auch die Stadtplaner gefragt: Kein Radweg darf mehr im Nichts enden, aber genau so müssen die Bürger eine Möglichkeit haben, legal zu parken – zumindest solange der öffentliche Nahverkehr nicht einen gewaltigen Sprung nach vorne macht. Hier in Köln zum Beispiel wäre die Einrichtung von Quartierparkhäusern in einigen Vierteln dringend notwendig. In dem Gebäude können dann halt keine fußbodenbeiheizten Quader-Wohnungen für 5000 Euro pro Quadratmeter entstehen — aber irgendwie muss die Stadt ja auch noch funktionieren.
Dazu gehören auch Ladezonen für Lieferverkehr und Packstationen, die den Lieferverkehr reduzieren. Flugtaxis hingegen, die kann man ruhig privaten Investoren überlassen. Und vielleicht finde ich ja auch irgendwann einen Platz in meinem Herzen für Segway-Fahrer und E-Skateboards. Die Welt wandelt sich. Und wir bewegen uns besser mit ihr als gegen sie.