Illegale Kopien sind gut für’s Kino

Wenn die Musik- und Internetindustrie mal wieder eine Untersuchung verbreitet, die den Weltuntergang per Bittorrent und illegalen Streams verbreitet, stöhne ich nicht mehr auf. Es ist das, was die Lobbyisten tun. Wenn man in die Untersuchungen hineinblickt, muss man sie in der Regel nur kurz antippen und das theoretisch-statistische Kartenhaus stürzt in sich zusammen. Die Realität ist nicht eindimensional. Nicht jeder Download wäre ein Kauf gewesen.

Doch in letzter Zeit häufen sich die Untersuchungen in anderer Richtung, die von Torrentfreak, Gulli und Co begeistert herumposaunt werden. Wer Dateien über Bittorrent illegal lädt, zahlt mehr für Unterhaltungsprodukte. Ein eindeutiger Freispruch für alle Freeloader, sie sind die wahren Stützen der kreativen Gesellschaft. Der Gedankengang ist klar: Wenn die Fans bei dem Konzert das Lied mitsingen können, obwohl fast niemand die CD gekauft hat und das Lied nie im Radio kam — dann haben sie immerhin Eintritt bezahlt. Aber wie viele Menschen passen in einen bezahlbaren Konzertsaal und wie viele haben im Gegensatz dazu Internetanschlüsse? Wenn die Vielzahler zu Bittorrent und Streams abwandern, ist das nicht besonders schädlich?

Ein Beispiel für die Unlizensierte-Kopien-sind-gut-These habe ich nun bei TheNextWeb gesehen: „Researchers find Megaupload shutdown hurt box office revenues„. Hier untersuchen die beiden Autoren die Effekte der Schließung von Megaupload auf die Umsätze an den Kinokassen. Zwar ist die Studie nicht so einseitig wie viele: Die Autoren haben verschiedene Filmarten unterschieden und unterschiedliche Effekte ausgemacht. Aber dennoch stürzt das Kartenhaus zusammen, wenn man es antippt.

Denn das Quasi-Experiment ist kein Experiment. Die Kinobranche ist wie die gesamte Medienbranche im Wandel. Welche Entwicklung die Autoren auch immer feststellen: Megaupload mag höchstens einer von mehreren Faktoren gewesen sein. Da fallen mir viele ein. Meine drei spontanen Highlights:

  • In den fünf Jahren der Untersuchung haben sich große Flachbildfernseher massiv verbreitet und gleichzeitig sind die DVD-Versionen viel früher da. Online-Videotheken haben aufgemacht oder sind richtig populär geworden. Kurzum: Kinofilme bekommen wir einfacher, schneller, billiger und besser im Wohnzimmer als je zuvor.
  • Das Fernsehen hat dem Kino Stoffe, Personal und Publikum streitig gemacht: Sollte der Megaupload-Knick tatsächlich stärker sein als der Game-of-Thrones-Knick? Zudem: 2012 war kein tolles Kinojahr.
  • Und dann sind da noch so Kleinigkeiten wie die Unterhaltungsbudgets der Konsumenten. 20 Minuten unüberspringbare Werbung auf 100 Minuten Film – und dafür soll ich 15 Euro zahlen? — Ja, aber dafür bleiben Deine Schuhe am Boden kleben! Ein tolles Angebot für den Elterngeldempfänger im Zeitarbeitsvertrag.

Ein zentraler Schwachpunkt der Untersuchung ist IMO die Ausdehnung der Untersuchung auf die 35. Woche 2012. Alle Konsumenten von Kinofilmen per Stream die ich kenne, hatten in der Zeit andere Quellen als Megaupload gefunden. Teilweise mussten sie auch gar nicht suchen, da die Linkseiten immer auch andere Quellen hatten. Wenn ich mich auf Seiten wie sidereel.com umsehe, ist da einfach keine Megaupload-Lücke erkennbar. Eine Traffic-Studie legt nahe, dass meine Bekannten keinen Sonderfall darstellen. Wenn also ein negativer Effekt so lange nach dem Ereignis vorliegt, vermute ich, dass er unabhängig von diesem Ereignis ist. Vielleicht gab es einen kurzfristigen Megaupload-Effekt. Aber sollte der nicht in der anderen Richtung ausgeschlagen haben — und zwar in den paar Wochen, in denen die Schließung relevant war?

Neulich berichtete ich einem Bekannten, dass ein Mensch, der mir ein Video auf YouTube zeigte, dass eben der Mansch, der auf dem YouTube-Video zu sehen war in wenigen Wochen live, keine zwei Kilometer von der Wohnung meines Bekannten auftrat. Die Antwort: Och nö. YouTube ist ihm genug. Ich hingegen schwärme ja immer von dem WTFPod von Marc Maron, einem einst abgehalfterten Komiker mit Drogenvergangenheit, der von seinem letzten Job als Radiomoderator entlassen wurde und dann in die Studios schlich, um seinen Podcast aufzuzeichnen. Neulich hat er ein neues Comedy-Album herausgebracht, ich überlegte es zu kaufen. Doch dann sah ich: Bei Simfy kann ich mir alle möglichen Comedyalben von Marc Maron oder Monty Python anhören — zu einem Bruchteil des Preises. Legal. Marc Maron geht es trotzdem nicht schlecht.

Die Wahrheit (TM) ist: Die neuen Verbreitungswege — legal oder illegal — haben Effekte in beide Richtungen. Manche Leute können nicht mehr von Kunst leben, andere hingegen finden bessere Wege dies zu tun. Wer einen Film kostenlos im Internet guckt, sollte sich nicht vormachen, dass er den Filmemachern einen Gefallen getan hätte.

Update: Ich habe einen der Autoren der Studie kontaktiert und ihn befragt, wie er diese Studie andere Effekte auf die Kinoumsätze ausschließt. Seine Antwort war, dass dies durch die Kontrollgruppe gewährleistet sei. Auf Nachfrage erklärte er, dass als Kontrollgruppe Filme dienten, die vor dem Schließen von Megaupload liefen. Sprich: Die beiden Autoren haben nichts anderes gemacht, als die Situation vor und nach dem Januar 2012 zu vergleichen und alle Änderungen Megaupload zuzuschreiben.

Doch das ist eine irrige Annahme. Denn die fundamentalen Änderungen der Kinobranche, von denen ich oben ein paar skizziert habe, sind nicht zu übersehen — und wurden doch übergangen. Was nun der Effekt von Schließung von Megaupload war, ist aus diesem Datenmaterial nicht zu entnehmen. Alles was man sagen kann: Die Kinoumsätze unterscheiden sich von denen der Vorjahre. Da längst andere Streamingdienste die Lücke von Megaupload übernommen haben, ist sogar auszuschließen, dass die festgestellten Effekte irgendetwas mit Megaupload zu tun hatten. Hierzu müsste man die wenigen Wochen unmittelbar nach der Schließung beobachten. Da aber Kinoumsätze sehr stark schwanken, kann man hier auch kaum eine Aussage treffen, welcher Faktor nun welche Auswirkung hatte.