Ich wurde heute von einem Studenten zu Wikileaks interviewt. Er wollte wissen, wie Journalisten zu Wikileaks stehen und was ich glaube, was Wikileaks dürfe oder machen sollte. Gleichzeitig habe ich in ungezählten Artikeln zu Openleaks das Bedauern wahrgenommen, dass es ja nun gar keine Möglichkeiten für Whistleblower gebe, weil ja weder OpenLeaks noch Wikileaks derzeit neues Material veröffentlichen.
Das ist natürlich bullshit. Heute ist es einfacher als je zuvor vermeintlich geheime Dokumente an die Öffentlichkeit zu bringen. In 99 Prozent der Fälle kann man sogar US-Dienste wie Google oder Amazon nutzen, um Dokumente zu veröffentlichen. Dank Tor, Proxies und Internet-Cafés kann man den meisten digitalen Spürnasen mit vertretbarem Aufwand entgehen. Falls Google das Dokument löscht, haben es genug andere User gespiegelt, sofern man vorher ein wenig Werbung dafür gemacht hat.
Die Produktion neutraler brauner Umschläge wurde nicht eingestellt. Wenn ihr etwas habt, das unbedingt an die Öffentlichkeit sollte: packt es in einen solchem Umschlag und schickt es einem Journalisten oder einer NGO, der ihr vertraut. Wenn ihr paranoid seid, zieht Handschuhe an und hinterlasst keine Speichelspuren auf der Briefmarke. Mailt es. Faxt es. Schickt es per Buschtrommel. Und ruft Mal an, damit man Euch wichtige Fragen stellen kann. Oder damit ihr eventuell erfahrt, wenn das Material nicht verwendet werden kann.
Wesentlich problematischer für Whistleblower: die Kollegen wissen, wie man tickt und welche Dokumente man auf dem Schreibtisch hatte. Daher: die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung wird durch eine Leaking-Plattform nur marginal verringert — und auch das nur, wenn sie ihren Job kompetenter macht als Wikileaks.
Der Verdienst von Wikileaks ist nicht, dass sie das Leaken erfunden haben. Das haben sie nicht. Oder den Informantenschutz. Sie haben auch bei weitem nicht alles ungefiltert veröffentlicht. Aber — Achtung: Chauvinismus! — sie hatten die Eier, brisante Dokumente auf einem altersschwachen Server im Ruhrgebiet zu veröffentlichen! In Deutschland! Und niemand hat ihren Bluff aufgedeckt. Ich hätte das nie im Leben gemacht. Und sonst eigentlich auch niemand. Hier trauen sich nicht mal die Hauptnachrichten Beiträge im Internet zu senden, wenn nicht alle Rechte restlos geklärt sind.
Wikileaks ist keine technische Entwicklung. Der Hauptbestandteil des Erfolgs ist PR. Wie erschaffe ich ein Medienbild, das meiner Mission dient? Wie schaffe ich es, dass mir Leute zuhören? Das hat Wikileaks in meisterhafter Weise geschafft. Und hat damit allerhand Gutes bewirkt: Verlage und Sender, die sich immer mehr damit begnügten Sprechblasen von widerstreitenden Parteien in einem ewig währenden Sommerloch aufeinander treffen zu lassen, wurden daran erinnert, wie wichtig es doch ist, Themen an die Öffentlichkeit zu bringen. Risiken einzugehen. Sich neue Techniken zu überlegen, mit diesem gewaltigen Wissensschatz Internet umzugehen.
Dafür: Danke, Wikileaks.