Zu viel

Als ich heute nachmittag von der Steueraffäre der Alice Schwarzer gehört habe, hatte ich — natürlich — für einen Moment diese hämische Schadenfreude. Die BILD-Werbefigur und Kachelmann-Hasserin ohne Sinn für Proportionalität oder persönliche Grenzen bekommt ihr Fett weg. Aber das war ein Moment. Dann zog der mediale Diskurs der nächsten zwei Tage vor meinem Auge ab.

Die Fakten sind ja schnell erzählt: Das seit den 80er Jahren bestehende Konto, die unversteuerte Zinsen, die unverfrorene Selbstrechtfertigung der Vorzeige-Feministin. Eine Zeile, zwei Tweets. Da ist eigentlich nicht mehr viel zu debattieren. Und dennoch werde ich, wenn ich morgen die Presseschau im Deutschlandfunk einschalte, viele Versuche hören, dies dennoch zu tun. (PS: Der DLF fand das Kommentar-Thema doch nicht so spannend. Dafür machen andere Medien Presseschauen.) Die Hoeneß-Vergleiche, die Erinnerungen an das hohe Ross, auf dem Frau Schwarzer sitzt, der Verweis darauf, dass sie nur die Spitze des Eisbergs ist. Hunderte Schreiber sind grade damit beschäftigt, den geschliffensten, skandalheischendsten, hämischsten Satz zu ersinnen, der ihren Komentar nach oben schwemmt. Und die Photoshopkünstler, die mit Höneß, Alpen-Öhi und BILD-Werbeplakaten herumexperimentieren.

Das nächste Kapitel: Die Empörung über die Empörung. Alice Schwarzer ist neben einem lebenden fehlbaren Mensch auch eine verdienstvolle Figur der bundesrepublikanischen Geschichte. Eine Symbolfigur, die uns immer wieder daran erinnert, dass die Geschlechtergerechtigkeit immer noch nicht ausreicht auch nur die Couch von Günther Jauch paritätisch unverdächtig zu besetzen. Und seht nur: Die Misogynen, die Frauenfeinde, die Vorgestrigen — wie sie alle verlogen über Alice Schwarzer herfallen. Denn das werden sie tun und Konsequenzen fordern. Als ob es keine Steuergesetze gebe. Und Zuschüsse muss man streichen! Eine Petition? Nein, das ist so Januar 2014. Meine Twitter-Timeline will es schon morgen um 10 Uhr nicht mehr hören. Was sie nicht davon abhält, etwas dazu zu sagen. #schwarzergate. #steuerfehler.

In Zeiten, als ich nur meine Heimatzeitung, die ARD und den Spiegel in der Schulbibliothek als Informationsquellen hatte, bestand das Problem nicht, das ich überflutet werde. Ich wünsche mir diese Zeit weiß Gott nicht zurück. Aber dadurch, dass wir alle alle anderen lesen und jeder mit jedem konkurriert, ist die mediale Debatte zum Mixer geworden. Jeder Kontext wird durch die Link-Moulinette gedreht. Und das Ergebnis schmeckt irgendwie gleich: Bittere Emörung und viel zu wenige aufgeschäumte Fakten.

Niemand ruft: „Zu viel!“ Jedenfalls nicht ohne das letzte Wort haben zu wollen. Die Empörung endet nicht, sie versendet sich. Lernen wir daraus? Nein. Denn nach Schwarzer kommt der nächste ADAC-Skandal, Empörung über die ARD oder Pro7, einen Neuminister der Bundesregierung oder die USA. Was macht eigentlich Dieter Bohlen?

Länger als ein Sechs-Minuten-Ei

Eine Fage, die ich mir stelle: wieso hält sich die Empörung über Guttenberg länger als die über Dioxin in unserem Frühstücksei?

Guttbye

Ein Erklärungsansatz: wenn wir Ägypten, Tunesien spielen wollen, muss irgendwer der Mubarak sein.

Dioxin fürs Hirn

Klischees sind geronnene Wahrnehmung.

Man kann sich gut damit durchs Leben schlagen — genau so wie Gammelfleisch und von Dioxin-Eier nicht sofort auf die Gesundheit schlagen. Den meisten fällt es nicht Mal auf, wenn die Soße nur scharf genug gewürzt ist.

Aber will man das?

The beauty of tragedy

It often happens that the real tragedies of our life occur in such an inartistic manner that they hurt us by their crude violence, their absolute incoherence, their absurd want of meaning, their entire lack of style. They affect us just like vulgarity affects us. They give us an impression of sheer brute force, and we revolt against that.
Sometimes, however, a tragedy that possesses artistic elements of beauty crosses our lives. If the elements of the beauty are real, the whole thing simply appeals to ourt sense of dramatic effect. Suddenly we find that we are no longer the actors, but the spectators of the play. Or rather we are both. We watch ourselves, and the mere wonder of the spectacle enthralls us.

Osar Wilde, The Picture Of Dorian Gray

Hauptsache Zensursula

Bei manchen wirkt das Wort „Kinderporno“ merkwürdig. Emotionen übermannen jede Logik, und der Betroffene ist ganz in einer eigenen Welt gefangen, in der es Bösewichter gibt, die allesamt aus einem Wallander-Krimi zu stammen scheinen.

Das gleiche passiert offenbar auch mit dem Wort „Zensursula“. Wenn ich mir ansehe, welche Behauptungen Behauptungen in dem Zensursula-Lager aufgestellt, gelobt und beklatscht werden, raufe ich mir manchmal die Haare. Die Realität ist komplex, lasst sie uns auf ein Schwarz-Weiß-Schema herunterbrechen.

Aktuelles Beispiel: Diese Meldung, an der auch Ralf Bendrath seine Zweifel angemeldet hat. Da glaubt jemand, dass er über den First-Level-Support und eidesstattliche Versicherungen einen vorzeitigen Beginn der Sperrungen nachweisen kann. Das ist schon merkwürdig. Dann kommt aber als Update

Arcor hat in einem Online-Artikel des BKA am 10. Juli kundgetan, dass ab dem 1. August 2009 Stopp-Schilder vor Kinderpornoseiten gesetzt werden. Dieser Artikel wurde inzwischen gelöscht und ist nur noch über den Google-Cache erreichbar. Was hat Arcor nur dazu bewegt?

Was da als „Online-Artikel des BKA“ einen amtlichen Anstrich bekommt, ist in Wahrheit eine simple dpa-Meldung. Und sie ist nicht von der Webseite verschwunden, weil Arcor etwas verbergen wollte, sondern weil alle dpa-Meldungen auf Arcor.de nach relativ kurzer Zeit verschwinden. Den letzten Part will ich bei niemandem voraussetzen, aber wie verwechselt man eine simple Newsticker-Meldung mit einem BKA-Dokument oder einer Erklärung zur Firmenpolitik von Arcor/Vodafone? Und warum ist keine soziales Korrektiv vorhanden, das den Autoren auf die richtige Bahn schubst?

Aber diese Schwarz-Weiß-Malerei betrifft nicht nur unerfahrene Blogger, sondern auch Leute, die eigentlich genug Medienkompetenz besitzen müssten, um Zusammenhänge, Kontexte und logische Argumentationen zu erkennen. Zum Beispiel der viel gelobte Spiegelfechter, der von der Leyens Indien-Panne aufgreift und dann plötzlich Inzidenz mit Evidenz verwechselt. Die Argumentation verläuft ungefähr so: Das Bundesfamilienministerium zitiert eine veraltete ICMEC-Studie, also ist ICMEC fragwürdig und integraler Bestandteil des Zensursula-Komplexes. Microsoft hat ICMEC einst 1,5 Millionen Dollar gespendet, also steckt der alt bekannte Bösewicht Microsoft hinter dem „System Zensursula“. Skandal!

Blöderweise hat die ICMEC mit den von unserer Bundesfamilienministerin aufgestellten Behauptungen sehr wenig zu tun. Dass es in Indien keinerlei Ächtung von Kinderpornografie gäbe, hat die Organisation nie behauptet. Dass ICMEC mit einer falschen Darstellung der Gesetzeslage in Indien der Regierung dort Microsoft-Systeme verkaufen will, wäre wirklich eine Meisterleistung des Lobbyismus – Indien mag nicht ganz so durchorganisiert sein wie Deutschland, aber die eigenen Gesetze wird die indische Regierung doch kennen? Und zuletzt: Das kritisierte Microsoft-Produkt „Child Exploitation Tracking System“ (CETS) ist ungefähr das Gegenteil vom „System Zensursula“ – geht es hier doch um die Identifizierung von Opfern. Natürlich gibt es geschäftliche Interessen, Lobbyismus und Fehlinformationen, aber die bei Spiegelfechter aufgezeigten Zusammenhänge sind Google-Artefakte und sind von der Realität so weit entfernt wie der Glaube, dass man mit der Blockade von Webseiten heute Kriminelle nachhaltig behindern kann.

Auch kurios war letztens der Beitrag von Thomas Knüwer, in dem er die Lügen der Bundesfamilienministerin als „amtlich“ bezeichnete. Das Kuriosum: Als Beleg verwendet Knüwer ausgerechnet ein Zitat, das zwar etwas an Sarah Palin erinnert, aber eben nicht dem Dokument widerspricht, das Knüwer als Beleg für die amtlichen Lügen verwendet.

Die Liste ließe sich beliebig lange weiter führen. Stören solche Kleinigkeiten? Nein, natürlich nicht. Es steht ja Zensursula drüber und wenn es um die große Sache geht, darf man solche Kleinigkeiten nicht allzu wichtig nehmen. Das Problem: exakt so argumentiert vermutlich auch von der Leyen.

Recherche ist immer Verlierer des Tages

Viel wird grade darüber geschimpft, dass die BILD Björn Böhning zum Verlierer des Tages gemacht hat, weil er sich gegen das geplante Netzsperren-Gesetz ausgesprochen hat. Viele sehen dahinter eine skandalöse Agenda – ich glaube hingegen, dass die meisten Gewinner-Verlierer-Meldungen ausgewürfelt werden. Irgendwer schreibt schnell etwas zusammen ohne groß darüber nachzudenken.

Wie gut es um den Faktengehalt der Rubrik steht, zeigt sich wenn man nur einen Zentimeter nach links wandert:

090612-gewinner

Was? Sat1 hat eine Nachrichtensendung? Und die soll die Tagesschau geschlagen haben – wenn auch in einer willkürlich festgelegten Zielgruppe? Das wäre doch eine kurze Nachfrage wert. Und in der Tat – BILD stellt heute richtig:

130612-gewinner

Ist damit alles gut? Nun – nicht wirklich: In der ersten Meldung hat BILD die untersuchte Altersgruppe um fünf Jahre verkürzt, in der Korrektur wurde die Zuschauerdifferenz falsch abgeschrieben. Für 14 Zeilen Text, die als Aushängeschild des Mediums gelten, ist das eine erstaunliche Quote. Oder auch wieder nicht.

Zuständigkeiten

Ein Polizist soll bei den Krawallen in Kreuzberg Steine auf Kollegen geworfen haben. Der junge Mann ist in der Probezeit, er war privat in Berlin unterwegs – er kann also im Bewerbungsverfahren durchgerutscht sein. Nicht unbedingt ein Skandal, eher ein Kuriosum. Oder?

An seiner Dienststelle in Frankfurt am Main sagte ein Mitarbeiter, man glaube nicht, dass der Polizist als sogenannter Agent provocateur eingesetzt gewesen sei, um Autonome zu Straftaten anzustacheln. „Für solche Aufgaben gibt es andere Dienste in der Bundesrepublik“, sagte ein Beamter.

Schön, wenn alles seine Ordnung hat. Polizisten, die Krawalle anzetteln, sind kein Skandal, sondern schlichtweg eine Frage der Zuständigkeit.

(via)

Stupidity is not enough

In Sachen Wikileaks.de habe ich bisher einfache Verpeiltheit des Domaininhabers als wahrscheinliche Ursache für die vermeintliche Sperre der Domains vermutet. Ein Schreiben eines Providers kann schnell verloren gehen – besonders wenn man zwei Wohnsitze hat. Ich lag falsch.

In einer neuen Presseerklärung zeichnet Wikileaks ein anderes Bild:

Um die Ungleichheit der Anforderungen fuer den BND gegenueber einer normalen Registrierung zu testen, stellte der Wikileaks.de Inhaber, Theodor Reppe, einen Antrag zum Transfer der BND.de Domain bei seinem DeNIC-Mitglieds „Beasts Associated“ in Hamburg, ueber den auch die Wikileaks.de Domain registriert war.

Wie zu erwarten wurde dem Antrag direkt widersprochen.

„Sehr geehrter Herr Reppe,

Sie haben die Domain bnd.de per Transfer angefordert. Es handelt sich hierbei – unschwer zu erkennen – um die Domain des Bundesnachrichtendienstes.

Da es sich hierbei um eine bedeutende Domain handelt, bitten wir Sie umgehend das entsprechende Transfer-Fax und OwnerChange-Formular an uns zu senden.

Bis zu Klärung dieses Vorfalls haben wir Ihren Account gesperrt.

Mit freundlichen Grüßen

Daniel Teixeira“

Allerdings versuchte der Registrar auch direkt das Vertragsverhaeltnis fuer alle von Herrn Reppe registrierten Domains aufgrund von „Vertragsbruch“ aufzuloesen.

Wenn ein Kunde in vollem Bewusstsein – höchstwahrscheinlich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – fremde Domains zu übernehmen versucht und damit seinen Provider in ernste Probleme bringen könnte, dann ist eine fristgerechte Kündigung mehr als gerechtfertigt. Wenn der Kunde nach der Löschung seiner Domains bei Presseanfragen behauptet, er wisse von nichts, dann ist das keine Verpeiltheit mehr. Er wusste etwas Substantielles. Dabei mag er sich in der verbliebenen Laufzeit getäuscht haben. Dass er die Kündigung aber ganz verschwieg, spricht gegen seine Glaubwürdigkeit – wie viele andere Details auch.

Dass der Provider telefonisch den Weiterbetrieb der Domains bis Ende des Jahres versprochen haben soll, obwohl er den Vertrag zum 31. März schriftlich gekündigt hatte, halte ich auch für höchst unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Provider den Account entsperrte und die Weiterführung der Domains bis Ende der Vertragslaufzeit versprach, was ja offenbar auch eingehalten wurde.

PS: Es ist beeindruckend, wie sehr sich Menschen eigentlich klaren Sachverhalten widersetzen. Nein, ein KK-Antrag auf eine existierende fremde Domain ist nicht Denic-konform, auch wenn jemand im Heise-Forum das glaubt. Das wird auch aus jedem KK-Antragsformular auf den ersten Blick ersichtlich. Und nein, der BND ist in der Sache offensichtlich nicht tätig geworden, da der Provider den KK-Antrag gar nicht weitergeleitet hat.

Im Zweifel: Dummheit

Ein Grundsatz, nach dem ich mich meist richte ist: Bevor man Böswilligkeit unterstellt, sollte man Missverständnisse, Verpeiltheit und allgemeine Dummheit ausschließen. Oft entpuppen sich vermeintliche Skandal-Stories als Luftnummern.

Was ich nicht wusste – der Grundsatz hat einen Namen: Halon’s Razor.

The Geschäftsführer who should not be named

Neuer PR-Erfolg für Tobias Huch: Viele Medien berichten über seine neu entdeckte Sicherheitslücke, die – nicht nur in meinen Augen kein Skandal ist.

Sogar die dpa springt auf den Zug auf. Einen kleinen Dämpfer bekommt das Ego-Marketing allerdings – der Name Tobias Huch wird in der Meldung nicht erwähnt:

Der Geschäftsführer einer Firma aus Rheinland-Pfalz hatte von einem angeblichen «neuen Telekom-Datenskandal» berichtet.