In vielen Beiträgen wurde der World IPv6 Launch Day in den letzten Tagen thematisiert — und meist falsch. Eine typische Formulierung:
An diesem Mittwoch ändert sich die Architektur des Internets: Provider, Betreiber von Webseiten und Hersteller von Internetgeräten aktivieren weltweit den neuen Adressstandard IPv6.
Das ist jedoch nicht nur eine unzulässige Verkürzung, es ist falsch. Wer gestern mit IPv4 surfte, surft höchstwahrscheinlich auch morgen noch mit IPv4. Und wer morgen mit IPv6 surft, tat es höchstwahrscheinlich auch letzte Woche. Das legt schon die Wortwahl nahe: Eine Architektur ändert sich nicht über Nacht. Und in den Artikeln tun sich die Autoren schwer zu erklären, was sich denn heute konkret ändert. Das hat einen einfachen Grund: Es ändert sich nicht wirklich viel. Der Launch Day ist in erster Linie eine PR-Aktion. Eine legitime PR-Aktion, aber eben doch PR.
Die — angesichts der Größe des Internets und der Dringlichkeit des Themas — erschreckend wenigen Teilnehmer des Aktionstages haben ihren Beitrag oft schon vor Monaten geleistet. Und diejenigen, die tatsächlich den 6. Juni nutzen, stellen nicht wirklich auf IPv6 um. In den meisten Fällen sorgen die Admins lediglich dafür, dass ihre Webseiten auch direkt über IPv6 erreichbar sind. Der Unterschied zu vorher ist gering: Die Webseiten bleiben per alter IPv4-Technik erreichbar und wer heute schon auf IPv6 surft, konnte auch bisher Google und Facebook nutzen. Wichtigster Mangel der vermeintlichen Revolution ist die fehlende Auswirkung auf das Publikum. Kein deutscher Privatkunde surft plötzlich mit IPv6.
Der Gedanke, dass das Internet an einem Tag „umgestellt“ würde, ist widersinnig. Denn das Netz hat keine zentrale Entscheidungsinstanz, die ähnlich der Deutschen Bundespost Mal zentral neue Postleitzahlen einführen könnte. Sicher: Es gibt Organisationen wie die Internet Assigned Numbers Authority (IANA), die IP-Adressen zuteilt. Doch diese Zuteilung ist eher technischer Natur, die IANA ist machtlos, den Nutzen der zugeteilten Nummern vorzuschreiben. Die Standardisierungsgremien können die Nutzer lediglich drängen, doch bitte auf eine neue Technik zu wechseln. Und das Beharrungsvermögen vieler Player im Markt kann man sehen, wenn man sieht, wie viele Rechner noch mit Windows 98 betrieben werden. Wieso Geld ausgeben, es läuft doch?
Das Internet ist hauptsächlich ein Netz, gesponnen aus Millionen von Vereinbarungen. Bis sich alle auf etwas Neues einigen, dauert es Jahre. Bis sie es tatsächlich tun, dauert noch länger. Denn wer den ersten Schritt macht, hat im Zweifel die meiste Arbeit, die meisten Kosten. Wenn die Telekom komplett auf IPv6 wechseln würde, hätten andere Provider wieder die Möglichkeit deren veraltete IP-Nummern zu nutzen, um ihre eigene Umstellung auf die lange Bank zu schieben.