Newsrausch

Ich weiß noch genau, wann ich meinen ersten Newsrausch hatte. Ich war gerade Praktikant bei der Online-Redaktion der Stuttgarter Zeitung und nach einigen Routineaufgaben bekam ich den Auftrag zugeteilt, den Tickerdienst zu übernehmen. Vor mir standen zwei Computer und drei Bildschirme. Auf zweien flimmerten die Tickermeldungen von drei Nachrichtenagenturen an mir vorbei, auf dem dritten schrieb ich.

Ich war sofort begeistert. An diesem Arbeitsplatz bekam ich alle möglichen Infos noch bevor sie irgendjemand anders bekommen konnte. (Außer natürlich den paar Zehntausend, die damals Agenturzugriff hatten.) Im Minutentakt ratterten ständig neue Meldungen in das Redaktionssystem und ich wählte aus, was unsere Leser aus der Welt erfahren mussten. Erdbeben in Asien, Wahlen in Europa, ein schwerer Autounfall in Stuttgart. Anders als bei legendären Nachrichtenmomenten wie dem Fall der Mauer oder den Progromen in Rostock fühlte ich mich nicht ohnmächtig, nicht nur in der Zuschauerrolle. Denn ich wählte aus. Nicht nur Sätze, Formulierungen, sondern die Realität.

Denn ich konnte die Muster erkennen: Die eine Agentur war bei Opferzahlen immer daneben, die andere schickte ihre Nachricht ein paar Minuten später mit teils unmöglicher Sprache. Also bastelte ich „meine“ Nachrichten aus zwei bis drei Quellen zusammen und — man möge mir die nostalgische Arroganz verzeihen — immer hatte ich recht in meiner Auswahl. Denn ich sah nicht nur Meldungen, ich sah die Matrix, das Muster, dass alles verband. Ich erkannte die kleinen sprachlichen Anzeichen, wann sich ein Agentur-Redakteur nicht sicher war und viel wichtiger: Ich wusste wie die Welt tickt.

Natürlich hatte ich keine Ahnung — ich bestückte den Ticker nur für ein paar Tage und zwei Redakteure passten auf mich auf. Wie den Tauben bei Aschenputtel oblag es mir Stücke hoch durchformatierter Sprache zu sortieren. Doch ich fühlte mich plötzlich wichtiger, als Akteur auf der Bühne des Weltgeschehens. Dabei dürften meine Werke damals kaum Leser gehabt haben. Internet war damals ein Silberstreif am Horizont.

In den folgenden Jahren konnte ich von zu Hause den Newsrausch erleben. Mit Gleichgesinnten recherchierte ich den aktuellen Geschehnissen nach, mit Begeisterung tauschten wir die neusten Bilder aus, die im Gegensatz zu dem standen, was da noch im Fernsehen behauptet wurde. Fernsehen? Pah! Wir sind im Internet. Wir sind das Internet! Unsere Realität ist Echtzeit. Und mit ständig neuen verfügbaren Quellen – Nachrichtenticker, Google Maps, Facebook-Profile — kam ich mir immer schlauer vor. Man muss nicht warten, bis sich etwas neues ereignet, man schaut einfach in das Privatleben der Menschen, die durch das Nachrichtengeschen gewabert waren.

Doch mit den Jahren hat sich der Rausch gelegt. Zwar verfolge ich immer — ich sage mal: berufsbedingt — noch viele Geschichten in der Pseudo-Live-Ansicht des Internets. Doch bei den Ereignissen in Boston sagte ich mir: Da ist so viel Rauschen, das hat so wenig mit mir und meinem Leben zu tun. Das kann ich später in der Tagesschau sehen. Und auf den Kick der Klicks, der Illusion der Realität und Klarheit verzichten.

Hallo, mein Name ist Torsten. Ich bin Newsaholic. Und ich bin trocken seit — wisst ihr was? Ich bin es nicht. Aber ich arbeite dran.

Ist es wirklich Internetsucht?

Das Wort geht wieder um. Internetsucht. Exzessive Mediennutzung. Spielsucht. Asiatische Heranwachsende zerstören sich am Bildschirm, Schlaf spielt in der Welt von Warcraft keine Rolle — bis zum Kollaps. Tote Kinder zerlegen die Psyche derer, die am Bildschirm deren Schicksal begaffen. Und sich daran aufgeilen.

Ich mag den Begriff „Internetsucht“ nicht. Als ich vor ein paar Monaten in irgend einem Fragebogen ankreuzen sollte, wie oft ich täglich im Internet bin, kreuzte ich mit gutem Gewissen an: Einmal. Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen.

Habe ich deshalb ein Problem? Ja, klar. Wie unsere ganze Gesellschaft. Erinnern wir uns: Einst meinten Menschen, die Eisenbahn sei unnatürlich, weil die Menschen nicht darauf eingerichtet seien, auf Dauer Geschwindigkeiten über 30 Kilometer pro Stunde zu verarbeiten. (Eine Anekdote, zweifellos.) Nun fahre ich mit 250 Kilometer pro Stunde Richtung Frankfurt und lese dabei die neusten Nachrichten im Internet. Chatte gar. Gegen die Fahrtrichtung. Das menschliche Gehirn verträgt mehr als ein bisschen Beschleunigung. Warum sollte man ihm nicht einen Trichter einführen und oben das gesamte Wissen der Welt einfüllen? Und all die Lügen, all die Missgunst, all das Geschwafel dieser Welt hinzu?

Die Rede ist von Internetsucht. Sucht zerstört. Verdrängt die wichtigen Aspekte unseres Lebens. Die Realität. Nichts macht mehr Sinn, nur die Suche nach dem Stoff. I can take about an hour on the tower of power. As long as I gets a little golden shower. Der Kick. Der Kick. Und nochmal der Kick. Nichts spielt eine Rolle. Außer dem Kick.

Ist das Internet der Kick? Vielleicht ein wenig. So wie Geschwindigkeit manche Leute in seinen Bann zieht, ist auch das Internet eine existentielle Erfahrung. Ich habe nicht viel Erfahrung mit Egoshootern, aber was mich mit am meisten faszinierte: Ich kann mir Menschen spielen, die durch einen mächtigen Atlantik von mir getrennt ist. Und schon eine Zehntelsekunde reicht aus, um das Spiel zu zerstören. Der präzise platzierte Kopfschuss klappt nicht mehr, weil selbst Lichtgeschwindigkeit auf 8000 Kilometern hin und her, mit ein paar Routern dazwischen, das Ergebnis verfälscht. Ein gewaltiger Kick. Bin ich spielsüchtig? Nein. Mein letztes Spiel ist Monate her. Einen neuen Rechner, der die geilsten Spiele tatsächlich behrrscht, den kaufe ich nicht.

Ist es wirklich Onlinesucht, die ein Problem ist? Oder geht es um etwas anderes? Wenn ich mich mit jemanden streiten will, finde ich im Netz immer jemanden. Die Homophoben, die Politiker ohne Amt, die verlogenen Selbstvermarkter, die Schlangenöl-Verkäufer. Gegen all die hilft nur eins: Angewandte Ignoranz. Der Mensch kann nur so viele Kämpfe kämpfen. Er kann nur mit so viel Konflikt fertig werden. Und irgendwann muss man sagen: Schluss für heute. Nervt nicht. Fenster zu.

Und wo ist das so einfach wie im Internet? Den Tuba spielenden Nachbarn kann man nicht so einfach ausblenden, wie den Lügner, der im Netz verbreitet, man könne mit seinem Produkt zum Millionär werden, er habe die Schuldigen für unser aller Unglück gefunden, sie könne beweisen, dass zwei plus zwei
fünf ist. GNARGH! Spiel Tuba, aber bitte verbreite nicht so einen Unsinn. Spiel Xylophon in meinem Schlafzimmer. Das Best Of von Modern Talking und den Flippers. Die ganze Nacht. Ich werde ruhig schlafen, wenn Du nicht zur Tastatur greifst und diesen Mist verbreitest. Und sogar Leute findest, die Dir glauben.

Vielleicht gibt es gar kein Internetsucht. Vielleicht müssen wir ein wenig hinter die Router gucken. Denn eins sehe ich ganz deutlich. Den Reiz an Konflikten. Und im Netz — zumindest in der Regel — haut niemand einem anderen die Zähne ein, weil er Blödsinn erzählt hat. Weil er hässliche Bemerkungen über Dein Wesen machte, Deine Freundin, Deine Werte. Das Netz ist eine Konfliktmaschine ohne Folgen. Kommt mit zur Facebookparty, wir sind Tausende. Und keiner wird uns persönlich beachten. Abstrafen. Lächerlich machen. Denn wir sind vielleicht wenige, aber dennoch mehr als einer.

Vielleicht sollten wir uns nicht mehr nach Online-Sucht umschauen. Denn Online ist nicht gleich „virtuell“. Ein furchbarschauriges Wort, weil es so oft verbogen und entkernt wurde. Online ist Realität. Und die Konflikte dort sind Konflikte. Onlinesucht? Konfliktsucht! Wir rennen gegen die virtuelle Mauer, weil es einfach geht. Niemand schlägt uns die Zähne ein, weil wir unter Fantasienamen die Sau rauslassen. Zumindest fast niemand.

Diese Sucht hat nichts mit dem Internet zu tun. Sicher: Das Internet lässt Konflikte so einfach erscheinen. Doch die Datenleitungen sind nur das Medium. Was sind wir für eine gesellschaft, die Konflikte nur lösen kann, wenn einder dem anderen die Zähne einschlagen kann. Selbst das hält viele nicht ab. Ich streite. Ich siege. Oder: ich verliere. Auf alle Fälle: Ich lebe.

Internetsucht? Konfliktsucht? Die Eisenbahn fährt mit 400 Kilometern pro Stunde und beschleunigt so langsam auf ein Drittel Lichtgeschwindigkeit. Unsere Hirne summen. Und wir brauchen einen Weg, damit fertig zu werden.