Antiheld

Es wird wieder viel diskutiert zum Thema Antihelden, weil „The Joker“ ins Kino kommt. Kann man einen Menschen abfeiern, der amoralisch handelt, der mordet, der eine Stadt in Flammen steckt, weil er sein Ego über alles stellt? Ich habe den Film noch nicht gesehen — deshalb hier ein paar Gedanken zu „Breaking Bad“ und Antihelden. Auch hier ist ja ein neuer Film im Kommen.

—————Spoilerlinie—————–

Mörder und Verbrecher in Filmen gibt es viele. Wie kann man aber dafür sorgen, dass das Publikum ehrlichen Anteil an ihrem Schicksal nimmt? Dass sie zu Helden, zu Anti-Helden werden? Eine Methode ist: Man sorgt dafür, dass sich der Betreffende gegen eine größere Ungerechtigkeit zur Wehr setzt. Wenn ich an Antihelden in Breaking Bad denke, kommt mir als erstes nicht Walter White in den Sinn, sondern sein Schwager Hank Schrader.

Hank, Hank, Hank!

Hank ist ein Widerling von der ersten Folge an. Hank macht andere nieder, weil er selbst einen Minderwertigkeitskomplex hat. Er ist eine Litfasssäulenwerbung für toxische Männlichkeit. Seinen Partner und besten Freund deckt er konstant mit rassistischen Beleidigungen ein. Hank nimmt zwar kein Geld von Drogenbossen, aber er ist dennoch vor unser aller Augen korrupt. Seine Familie holt er aus dem Knast, den kleinen Junkie sperrt er ohne zu zögern und ohne Grund ein. Und wenn er sich prügeln will, geht er eine Bar und provoziert, um sich dann hinter dem Schutz seiner Behörde zu verstecken. Ich bin die DEA, ich bin Gott.

Und dennoch schafft es Vince Gilligan, dass ich plötzlich zum Hank-Fan wurde. Nunja – für eine Minute. Die Szene ist klar: Hank musste seine Marke und Waffe abgeben und sitzt in seinem Auto, als er eine Warnung erhält. Ein Mordanschlag auf ihn steht unmittelbar bevor. Nun sitzt er da. Unbewaffnet. Verängstigt. Und er schafft es dennoch, die beiden Cousins zu besiegen, die sein Leben auslöschen wollten. Hank klammert sich ans Leben. Und wir klammern uns an Hank.

Damit das klappt, wurden wir vorher auf Hank neu eingepegelt. Denn in der Folge vorher haben wir gesehen, dass da ein guter Kern in dem Ekelpaket steckt. Als etwa Walter Hank ausrichten ließ, dass seine Frau Marie im Sterben liegt, war all sein Testosteron-Gehabe plötzlich weg. Er liebt seine Frau über alles. Und sie liebt ihn, weil sie all seinen Bullshit durchschaut. Als er im Fahrstuhl zusammenbricht, hält sie ihn wie ein kleines Kind. Und als die Tür aufsteht, stehen beide da und halten die Fassade wieder hoch. Hank ist nicht mehr nur der eindimensionale Unsympath, das wir in der ersten Folge kennengelernt haben. Er ist plötzlich ein Mensch. Nur so konnte er zum Helden/Antihelden werden.

Schlau mit Defiziten

Eine weitere Methode, einen Antihelden aufzubauen: Die Zuschauer müssen sich mit ihm identifizieren können. Also siedelt man sie in der Ebene an, wo der Charakter schlauer ist als seine Umstehenden — denn wer ist davon in seinem eigenen Kopf nicht überzeugt? — aber doch nicht zu schlau. Hier sind Walter und Jessie das perfekte Gespann. Ein anschauliches Beispiel ist, als sie das Fass aus dem Chemielager stehlen. Einerseits bringt Walter sein überlegenes Chemie-Wissen aus dem Lehrplan der neunten Klasse mit: Thermit-Gemisch, das jede Tür aufschweißen kann. Zum anderen sind die beiden so unbedarfte Verbrecher, dass sie nur mit Glück einen Wachmann in einem Klohäuschen einsperren können und dann das Fass unter enormen Anstrengungen durch die Gegend tragen, wo sie es einfach hätten rollen können.

Vince Gilligan spielt dieses Spiel sehr intensiv am Anfang. Walter ist kein Verbrecher, er rutscht einfach nur in eine Situation hinein, aus er dann einen Ausweg gemäß seinen Möglichkeiten sucht. Und dann gerät er in die nächste Situation. Er musste Crazy Eight ermorden. Denn Crazy Eight hätte sonst ihn ermordet. Und er hat es ja per Münzwurf mit Jesse ausgemacht. Coin flip is sacred!

Als diese Erzählstruktur, diese Lawine an Rechtfertigungen nicht mehr aufrechtzuerhalten sind, greift Gilligan zu einem Trick — oder besser gesagt: zu einem Hut. Der böse Walter White, der Morde plant und ausführt, ist nicht mehr Walter White, der liebende Familienvater, der intelligente Tollpatsch. Er ist sein Alter Ego, Heisenberg. Kühl, berechnend, bedrohlich. Wir sehen zwar immer wieder, dass der Hut nur ein Hut ist. Dass es nur eine Rolle ist, die Walter spielt, um andere einzuschüchtern. Wenn er sich zum Beispiel mit Tuco auf dem Schrottplatz trifft, ist er eigentlich nur ein zitterndes Etwas. Aber dennoch. Wir können die vermeintlich guten Aspekte von Walter von dem Monster trennen, während es ihn immer weiter in Besitz nimmt.

Say my name

Doch auch das Monster Heisenberg gewinnt die Begeisterung des Publikums. Hier verwenden die Autoren zwei Mechanismen. Zum einen: Das Publikum respektiert Heisenberg, weil immer wieder wiederholt wird, wie respektabel er doch ist. Tuco erkennt den Newbie im Drogengeschäft als gleichberechtigten Partner an, weil der sein Hauptquartier in die Luft jagt. Gustavo Fring erkennt Heisenberg an, weil er ein Genie ist und die richtigen Familienwerte vertritt. Und der profillose Vollbart-Drogenhändler erkennt Walter an, weil er Fring ermordet hat. „Say my name!“

„Say my name“ – Klick zum Video

Gleichzeitig wird Walter als eine Art Ehrenmann präsentiert. Anstatt noch auf einer moralischen Ebene zu spielen, die der durchschnittlicher Zuschauer auf irgendeine Weise nachvollziehen könnte, spielt der Antiheld auf dieser Ebene „nach seinen eigenen Regeln“, er hat seinen „eigenen moralischen Code“. Natürlich wollen wir die Morde nicht beklatschen, aber er hatte ja keine andere Wahl. Denn ihm wurde so viel Unrecht getan. Und seht alle her, was für ein toller Vater er immer noch ist. Für Walter Junior und für Jesse.

Das Problem daran: Natürlich ist das Bullshit. In Staffel vier und fünf sehen wir die Fassade zusammenbrechen. Etwa als er Skyler anfährt: „I am the danger…. I am the one who knocks“. Oder als er Jesse aufklärt, dass es schon lange nicht mehr darum geht, seine Familie zu versorgen, sondern dass er seine frühe Liebe Gretchen ausstechen will. „You asked me if I was in the meth business or the money business. Neither. I’m in the empire business.“

Eigentlich hätte Walter White an der Stelle alle Sympathien verlieren müssen. Es war aber zu spät und zu wenig. Anstatt Walter White als skrupellosen Verbrecher zu verachten, postet das Publikum begeistert Share-Pics mit den schlimmsten Zitaten. Heisenberg ist kein Monster. Heisenberg ist cool. Er zeigt dieser ungerechten Gesellschaft, dass er doch überlegen ist. Dass man so nicht mit uns… ähm… dass man so nicht mit ihm umspringen kann, ohne dafür zu büßen. Fuck, yeah!

Wo sind die Antihelden?

Letztlich ist Breaking Bad daran gescheitert, Walter White wirklich zum Antihelden werden zu lassen. Er hinterlässt zwar ein Schlachtfeld. Leichen ohne Ende. Und er hat das Leben seiner Familie und aller in seinem Umfeld ruiniert. Aber er ist kein wirklicher Antiheld, sondern ein Gescheiterter. Um dieses Kunststück zu schaffen, wurden in der letzten Iteration der Serie neue Bösewichter eingeführt, die keine zweite Ebene mehr haben. Todd — oder „Ricky Hitler“, der ohne sichtbare Gefühlsregung Leute und sogar Kinder abknallt. Oder sein White-Supremacy-Onkel, der 80 Millionen Dollar abkassiert und dann einfach mit dem Morden weitermacht wie bisher. Beide verkörpern das absolut Böse, gegen das es sich zu kämpfen lohnt. Und Walter stellt sich nun dem absolut Bösen entgegen, um Absolution, um unsere Sympathie wiederzugewinnen. Er gewinnt. Und stirbt in Frieden.

Wenn ich überlege, fällt mir kein richtig gutes Beispiel ein, wo ein Antiheld wirklich in letzter Konsequenz vorgeführt wurde, so dass sich das Publikum kurz selbst anekeln muss. In Goodfellas muss Henry Hill für seine jahrelangen Verbrechen dadurch büßen, dass er als Niemand in der Provinz schlechte Pasta serviert bekommt. Aber schließlich war er mal jemand! American Psycho Patrick Bateman schlachtet eine Protstituierte ab, indem er eine Kettensäge durchs Treppenhaus wirft. Wie krass ist denn das!?! Sogar Brad Pitts Charakter in Fight Club, der sich als Wahnfigur eines Geisteskranken entpuppt, wird geliebt. Es gibt kein erfolgreiches Multiplayer-Game, kein neues Social Network gibt, ohne dass sich Hunderte Nutzer Tyler Durden nennen.

Antiheld oder Held. Wo ist der Unterschied?

Kate Micucci

Darf ich vorstellen? Das ist Kate Micucci. Jahrgang 1980, aufgewachsen auf dem Lande — eine Stunde von New York entfernt — hat sich die Schauspielerin inzwischen in Los Angeles angesiedelt.

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Kate ist ein „late bloomer“. Ihre Kindheit war gut behütet, ihre Eltern taten alles, um die Kreativität ihrer Kinder zu fördern. Klassisches Klavier, selbstgebasteltes Spielzeug, ein Frosch im Keller. Wenig Geld. Kate finanzierte sich ihr Studium selbst. Und baute im Studentenwohnheim tatsächlich ihre Modelleisenbahn auf und malte alleine, statt auf Parties zu gehen. College Girls gone wild? Nicht Kate.

Das änderte sich, als sie endlich nach Kalifornien umsiedelte und dort den Beruf einer Schauspielerin ergriff. Ihr Äußeres, das so gar nicht der Durchschnitts-Schauspielerin entsprach, öffnete ihr Türen und ihr unbestreitbares Talent brachte den Erfolg. Erfolg? Nunja: Sie erschien — neben ihren Jobs als Babysitter und Sandburg-Tutorin — in vielen Werbespots. Man kann davon leben, aber nicht wirklich mehr.

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Auch kleine independent movies gab es zuhauf. Micucci ging in dem kreativen Umfeld auf. So richtig ging es aber erst los, als sie sich mit Riki Lindholm anfreundete. Die ist auch Schauspielerin und traf Micucci immer wieder bei den Castings, bei denen es nie um die Hauptrolle, sondern um die der komischen, redseeligen, irgendwie quirky Freundin / Bedienung / Assistentin ging. Eine Karriere im Schatten, die die Miete zahlt. Doch Riki und Kate freundeten sich an und es ging los. Kate schrieb lustige Songs, Riki baute die Kamera auf und „Garfunkel and Oates“ waren geboren:

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Es begann wie mit Justin Bieber. Nicht so schnell, nicht so extrem, nicht so jung. Der YouTube-Counter ging steil bergauf, die großen Studios bissen aber nicht an. Tom-Hanks-Fans erinnern sich vielleicht an die Szene aus „That Thing You Do!“ — und wer sonst außer seinen Fans sollte den Film sehen? — an dem das Lied der sympathischen Teenager-Band im Radio läuft und sie auf den Straßen tanzen, weil sie wissen: Sie haben es geschafft: Plattenvertrag, Konzerte, Durchbruch. Bei Riki und Kate rief kein Plattenstudio an.

Die Medienlandschaft ist heute anders. Um Riki zu zitieren: Es gibt keine Ausrede mehr. Niemand muss mehr auf Radio und Plattenvertrag warten. Jeder publiziert heute, es ist so billig. Und wenn die Medienmaschinerie erst einmal angebissen hat, heißt das noch lange nicht, dass man eine Villa in Beverly Hills sicher hat. Riki und Kate — oder: Garfunkel and Oates — sind kein Act, der ohne weiteres dem ganz breiten Publikum nahezubringen ist. Zu viele Worte, nicht genau das, was das Publikum schon kennt. Aber etwas, was in Los Angeles nicht unbemerkt bleibt. Und so castete Bill Lawrence, der Showrunner von Scrubs Micucci nicht für die Rolle, für die sie sich beworben hatte, sondern schrieb eine eigene Rolle für sie. Ein Farbtupfer in der Serie, die nach drei Staffeln kreativ erschöpft war.

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Ja, das ist das gleiche Lied wie oben. Mit dem offensichtlichen Unterschied: „fuck“ wurde durch „screw“ ersetzt. Network Television hat seine eigenen Gesetze.

Riki und Kate setzten ihre Off-Television-Karriere fort. Tatsächlich haben Casting-Agenturen angefangen, YouTube zu durchsuchen. Wer nicht sein eigenes Ding macht, kann nicht ihr Ding machen. Also ziehen Garfunkel and Oates das Ding etwas größer auf. Machen professionelle Low-Budget-Videos. Kate und Riki sind in einer hoch kreativen Umgebung. Erinnert ihr Euch an „Tootsie“? Mittlerweile müsste sich Dustin Hoffman nicht mehr für eine Daily Soap in ein Kleid zwängen, um das Geld für sein Theaterprojekt zu bekommen — er würde einen YouTube-Channel anfangen: #tootsie.

Die Videos von Garfunkel and Oates wurden aufwändiger. Sie kannten Regisseure, Schauspieler, Tänzer, Musiker en masse. Und mit „Sex with ducks“ kam schließlich der entscheidende Durchbruch: Ich bemerkte sie auf YouTube. Erst das low budget music video.

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Und dann die raw and absolutely no budget version.

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9100 Kilometer vom Kalifornien entfernt, lernte ich das Werk von Micucci kennen. Internet hooray. Statt auf Hochglanz-Flachwitz-Magazine zurückzugreifen höre ich mir ganz einfach drei Podcasts mit Kate Micucci an und erfuhr mehr von ihr als wenn ich ihr biopic gesehen hätte. Fans haben Playlisten zusammengestellt, in der zum Beispiel Videos von Micuccis Bühnenshow Playing with Micucci zusammengetragen sind. Ja, das ist ein double entendre. Sie heißt nun mal so, get over it.

Im letzten Jahr hatte sie endlich eine für deutsche Zuschauer sichtbarere Rolle: Sie spielte in The Big Bang Theory die Rolle von Rajs exzentrischer Fast-Freundin Lucy. Aus meiner Sicht ein verschwendetes Talent, denn die Serie hat wie damals Scrubs ihren kreativen Zenith längst überschritten. Dank Werbespots bleibt den Autoren immer weniger Platz für Inhalte, die Prominenz der Show stiehlt ihr die Spontanität. Sheldon darf zum Beispiel nichts Reales mehr schlecht finden und recht behalten. Die aufgebauten Charaktere werden für Witze verheizt. Da mittlerweile in jeder Folge sieben Charaktere untergebracht werden müssen, bleibt eh keine Zeit für Dialoge über Twitter-Länge. Und so ist auch die Rolle von Micucci ist schlichtweg nicht witzig — anders als die ihrer Freundin Riki in Staffel 2.

Kates Karriere wird es nicht schaden, hoffe ich. Ich werde sie aus der Ferne im Auge behalten — egal ob network television sie nach oben befördert oder wieder vergisst. YouTube, spotify, social media — sie hat viele Kanäle zum Publikum und ich gehöre dazu.

Was können Kreative daraus lernen? Produziert. Findet eure Stimme und euer Publikum. Und bleibt nicht stehen. Den großen Durchbruch gibt es noch, aber es gibt so viele andere Wege, die sich lohnen.

Halt — noch eins: Es klappt nicht immer.

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PS: Kaum habe ich es geschrieben, hat Garfunkel and Oates eine eigene TV-Serie. Premiere: 2014 bei IFC, wo auch Marc Maron seine autobiographische Serie untergebracht hat.