Willkommen im Paralleluniversum

Jens Jessen empört sich über die Auswüchse des ach so anonymen Internets und spricht von einem „Paralleluniversum mit weitem Raum für kriminelle und halbkriminelle Aktivitäten“.

Man kann dem viel entgegnen, hier nur ein Gedanke: Es ist kein Paralleluniversum, es ist dieses, unser Universum. Zwar fühlen sich im Internet viele unerkannt und anonym, in Wahrheit ist es damit aber nicht weit her. Man stelle sich vor, man müsste auf der Straße immer ein zwölfstelliges Nummernschild vor sich hertragen und Kameras würden die Nummer an jeder zweiten Ecke registrieren. Aber im Wesentlichen gelten die gleichen Regeln, die gleichen Mechanismen des Zusammenlebens.

Der Eindruck, dass es im Internet vor Verleumdung und Diebstahl nur so wimmelt, ist auch ein Wahrnehmungsproblem – ein Problem der Sichtbarkeit: Hätte man in den 80ern früher jede getauschte Musik-Kassette auf dem Schulhof per IP erfasst würde – die Jugendkriminalität wäre durch die Decke gegangen. Und wenn man alle Gespräche in einer Kneipe niederschreiben würde, würde man einen Moloch aus Unwissen, Betrug und Verleumdung entdecken. Der Presserat würde geschlossen zurücktreten und Marienhof wäre ein heißer Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis.

Im Internet sind alle Surfer grau

Die Empörung ist wieder groß:

Unbekannte Internet-Surfer haben die Opfer des Amoklaufs von Winnenden und Wendlingen verhöhnt.

Und ja: es war mal wieder krautchan, die mehr oder weniger gelungene Kopie von 4Chan. Interessanterweise sieht sich keiner der Kollegen in der Lage seinen Lesern zu vermitteln, was krautchan denn nun ist. Würde man die Seite als „Forum für meist geschmacklose Witze“ bezeichnen, wäre die Luft aus der Meldung raus. Der Neuigkeitswert wäre so groß wie die Schlagzeile „Franz-Josef Wagner hat wieder was unglaublich Borniertes geschrieben“. Nach der rudimentären Beschreibung des Bildes gehe ich zudem davon aus, dass nicht die Opfer von Winnenden, als vielmehr bild.de und Angela Merkel Ziele der „Verhöhnung“ waren.

Interessant ist der Kontext. So schließen die Stuttgarter Nachrichten die Meldung mit einem Absatz über die 60 Beschwerden, die beim Presserat eingegangen sind. Wohlgemerkt: nicht über „das Internet“, sondern über die besten Adressen des deutschen Journalismus.

Die Süddeutsche schließt auch mit einem ganz anderen Thema:

Unterdessen hat EU-Kommissarin Viviane Reding den Umgang einiger Medien mit dem Amoklauf in Winnenden scharf kritisiert und mehr Datenschutz im Internet gefordert. „Ich glaube, dass zumindest die Online-Profile von Minderjährigen unbedingt standardmäßig als ‚privat‘ eingestuft und für Internet-Suchmaschinen unzugänglich sein müssen“ […]

Auch hier wird der Eindruck vermittelt, dass „das Internet“ irgendwie Schuld wäre. Das Gegenteil ist hier der Fall: StudiVZ-Bilder sind zum Beispiel schon immer für Internet-Suchmaschinen unzugänglich, einige Medien dringen aber gezielt in diesen privaten Bereich ein.