Schengen-Routing? Nur zu, aber ohne Gesetze

Als ich das erste Mal von „E-Mail made in Germany“ gehört habe, dachte ich: Nur zu. Warum habt ihr so lange gewartet? Die Erklärung von Telekom, United Internet und Freenet, dass sie ihre E-Mails endlich beim Transport verschlüsseln wollten, war zumindest ein Hoffnungsschimmer. Dass die Teilnehmer dieser „Allianz“ ein besonderes Symbol bekommen sollten, wo sie in Sachen E-Mail-Sicherheit zum Beispiel Google so weit hinterherhinkten, war zwar etwas gewagt — aber jeder kämpft mit seinen Mitteln um Marktanteile. Google installiert dafür Google Mail auf fast allen Smartphones.

Ähnlich dachte ich beim „Schengen-Routing“ oder dem verspotteten #schlandnet: Das Internet ist zwar sehr auf weltweite Verbindungen angewiesen. Aber die Router schießen Datenpakate aber nicht aus purer Freude und Übermut über den Atlantik. Sie sind so eingestellt, dass sie die schnellste oder günstigste Route nehmen. Wenn nun also die deutschen, europäischen oder schengenräumischen Anbieter mehr gute und günstige Verbindungen aufbauen wollen: Nur zu. Das könnte sogar etwas an den Abends stockenden YouTube-Videos ändern, die Google natürlich nicht jedesmal aus Amerika herübersendet, sondern aus den in Europa angesiedelten Rechenzentren und Zwischenspeichern. Und: Der GCHQ bekommt etwas weniger zum Schnüffeln — zumindest nicht direkt ins Haus geliefert.

Kein Telekom-Zwang per Gesetz!

Problematisch wird es aber dann, wenn dieses Routing in Gesetze gegossen werden soll. Dann wird es hoch problematisch. Die Deutsche Telekom verwies auf der Konferenz Cyber Security Summit zwar wiederholt daraufhin, dass auch andere Länder solche Routing-Regeln hätten. Mir fielen da spontan nur China, Iran, Kuba und Co ein. Auf wiederholte Nachfrage nannte der Telekom-Vorstand dann die USA als Beispiel. Da dort fast alle wichtigen Tier-1-Provider, Facebook, Google und Apple sitzen, dringt natürlich wenig Datenverkehr nach außen. Zudem gebe es im Telekommunikationsbereich Vorschriften, den Telefonverkehr nicht über anderen Länder zu leiten. Die Amerikaner wissen warum. Wenn man den Enthüllungen Snowdens glauben mag, nutzten sie Kooperationen ihrer eigenen Telekom-Konzerne, um in Netze anderer Länder einzubrechen.

Doch Telefonverkehr ist nicht das Internet. Es gibt keine Ländervorwahlen und viele der obsoleten Telekom-Vorschriften greifen nicht mehr. Der BND nutzt diese Erkenntnis angeblich, um das ganze Internet zur Auslandskommunikation zu erklären. Darüber sollten wir, darüber sollte der Gesetzgeber dringend reden. Auch mit Schengen-Routing kann man keine brauchbare Trennung zwischen geschützter und ungeschützter Kommunikation ziehen. Auch wenn ich per Facebook oder Skype kommuniziere, sollte meine Telekommunikation nach Grundgesetz vor dem deutschen Staat geschützt sein. Und ein Gesetz, das so tut, als ob Deutsche nur ihre T-Online-E-Mail nutzen, ginge an der Realität vorbei.

Das Internet muss flexibel sein. Man stelle sich vor, ein Gesetz zwingt die kleinen Anbieter mit dem einen großen deutschen Telekom-Konzern so weit zu kooperieren, wie es technisch und wirtschaftlich nie erreichbar wäre. Eine Störung bei der Telekom würde das gesamte deutsche Netz ins Wanken bringen. Denn die Verbindungen zu US-Anbietern wie Level3, die durch Telekom-Verbindungen ersetzt worden wären, wären flugs überlastet. Zudem wäre es ein bequemer Unterpfand für die Pläne der Telekom, für die Nutzung des eigenen Netzes von Content-Anbietern wie YouTube Geld zu kassieren. Denn wenn die US-Konkurrenz gesetzlich ausgesperrt oder gebremst würde, flösse mehr Verkehr über die Telekom. Wenn die an der einzigen Hochgeschwindigkeits-Anbindung ins deutsche Netz ein Mauthäuschen aufbaut, dann müssen die Großspediteure wohl oder übel zahlen. Gibt es mehrere gleich gut ausgebaute Zufahrten, wer soll ausgerechnet die Mautstrecke nehmen?

Eine AG kann keine Geschenke verteilen — und tut es nicht.

Natürlich hat die Telekom recht, wenn sie die vielen Forderungen nach Netzausbau, Qualität und Neutralität mit den Frage beantwortet: Wer soll das bezahlen? Die Politik hat entschieden, die Telekom zu einer Aktiengesellschaft zu machen, sie ist daher profitorientiert und kann nicht pausenlos Geschenke verteilen, weil es der Politik gefällt. Kapitalanleger verlangen, dass sich Investitionen in fünf Jahren bezahlt machen. So baut man kein Glasfasernetz. Vielleicht lernen Kapitalanleger ja dazu.

Die Umkehrseite heißt dann aber auch: Mit der Telekom gibt es kein informelles quid pro quo. Wenn die Politik dem Konzern Einnahmen in Höhe von einer Milliarde Euro zuschustert, darf der sich gar nicht in den deutschen Netzausbau pumpen, wenn ein Investment im Ausland so viel lukrativer erscheint. Wenn ich also lese, dass Bundesinnenminister Friedrich das Deutschland/Schengen-Netz in ein vermeintliches, höchstwahrscheinlich missverstandenes Sicherheitsgesetz gießen will und die Telekom gleichzeitig um umfangreiche Regulierungserleichterungen, sogar „Regulierungsferien„, lobbyiiert, liegt ein solcher politischer Tauschhandel nahe: Eine vermeintlich verbesserte Sicherheitsinfrastruktur wird gegen Wettbewerbsvorteile eingetauscht. Und der Bund muss nichts bezahlen, spart sogar ein paar Stellen bei der Bundesnetzagentur.

Ein solcher Handel wäre jedoch ein Kuhhandel. Die Sicherheitserhöhung ist nur marginal, wenn die Anbieter endlich aufwachen und ihre Verbindungen verschlüsseln — und was der BND tut, sollen wir eh nicht erfahren. Die Auswirkungen auf das Internet, den Wettbewerb und die Rechtssicherheit von Angeboten wäre jedoch beträchtlich. Wenn US-Anbieter auf unzulässige Weise in den Markt eingreifen, um Herrschaft über Datenleitungen zu bekommen, dann sind die Wettbewerbsbehörden gefragt.

Die vielen Seiten von Netzneutralität

Zur Zeit ist ja viel Geschrei „für“ oder „gegen“ Netzneutralität. Doch die spannende Frage ist: was ist Netzneutralität überhaupt?

Gerade versuchen die Provider Vodafone und Deutsche Telekom ihre Diensteklassen als ultimative Lösung zur Netzneutralität zu verkaufen — was eindeutig nicht meinem Verständnis des Wortes Netzneutralität entspricht, sondern so ziemlich genau das Gegenteil davon darstellt. Die Idee entspricht mehr dem System „BTX“ und nicht dem weltumspannenden Internet, wie wir es heute kennen. Das konnte sich nur durchsetzen, weil niemand mit Rechenschiebern Bytes und Sendeminuten zählte und nach altbekannten Tarifen abrechnete.

Doch die spannende Frage ist weiter unbeantwortet: Was ist Netzneutralität überhaupt? Es hat was mit „gleichberechtigtem Zugang“ zu tun, aber wie geht es weiter?

Ein drei Meldungen vom Tage:

  • Google verbannt Freehoster co.cc aus seinem Index: Google ist als marktführender Suchdienstleister einer der zentralen Dienstleister der heutigen Internetwelt. Nach welchen Regeln kann sich dieses Unternehmen einfach Teile des Netzes aus seinem Index entfernen, wenn nicht Mal alle davon Malware verteilen?
  • Der neue Bitkom-Chef überlegt virenversuchte Rechner unter Quarantäne zu stellen. Wer eine Virenschleuder betreibt wird vom Netz getrennt. Sinnvoll, oder? Mein Provider Netcologne macht das heute schon. Aber haben wir in den letzten Jahren nicht gehört, dass es für Privatpersonen quasi unmöglich ist, zu Hause die Internetsicherheit einzuhalten? Wie soll es Tante Paschulke gelingen, was nicht Mal Sony schafft? Und wenn Tante Paschulke ihren Rechner nicht anschaltet, erfährt sie nicht Mal, dass ihr IP-gestütztes Telefon nicht mehr funktioniert oder die AAL-Dienste, die das Leben per Internet lebenswerter machen sollen. Soll man Tante Paschulke diskrimieren oder die User, die mit Spam-Mails und Viren zugeschüttet werden?
  • Verizon beendet die unbegrenzten Datentarife. Na und? Es sind ohnehin nur ein Prozent der Kunden, die über 5 Gigabyte verbrauchen. Warum sollen die das Netz verstopfen dürfen? Andererseits: Gerade Mobilfunkanbieter entdecken gerade den Videovertrieb als neuen Einnahmezweig. Wenn die Videostreams im eigenen Mobilfunknetz nicht ins Datenvolumen einfließen, ist das doch nur Kundendienst, oder? Wer wollte Verizon zu anderem zwingen?

Eine konsistente Definition von Netzneutralität würde all diese Punkte betreffen – und Tausende anderer Fälle. Und wie auch immer diese Definition aussehen würde — ein Teil der Antworten, die durch die Netzneutralitäts-Direktive vorgegeben würden, würden uns gar nicht gefallen. Egal, welches „uns“ dabei grade gemeint ist.

Logikneutralität

Zuerst Mal die Feststellung: es gibt ernste Probleme mit der Deutschen Telekom und der Netzneutralität. Und deswegen ärgern mich Beiträge wie dieser von Peter Piksa, der heute auf Twitter wie warme Semmeln Absatz findet.

Telekom-Sprecher Mark Nierwetberg bestätigte im FOCUS das Problem und versprach: „Die Kapazitäten werden jetzt verdreifacht“.

Freilich lässt die Feststellung des Herrn Nierwetberg den Rückschluss zu, daß die Bandbreite für YouTube bereits mindestens gedrittelt worden ist – anderenfalls liessen sie die Kapazitäten schließlich nicht verdreifachen.

Nein, das ist kein Rückschluss, es ist eine ganz und gar unlogische Behauptung. Natürlich kann man Kapazitäten verdreifachen ohne sie vorher zu reduzieren. Und die Verdreifachung ist nicht Mal ein belastbarer Fakt, sondern eine relativ unverbindliche Absichtserklärung: welche Kapazitäten und wann?

Ebenfalls ist die oft wiederholte Erklärung, dass YouTube über VPN schneller laufe als über die normalen Telekom-Leitungen, kein tragfähiges Indiz für eine Drosselung des Youtube-Datenverkehrs durch die Telekom. Um in einer Auto-Analogie zu sprechen: Wenn auf der A4 Stau ist, kommt selbst ein Radfahrer schneller voran. Dass die Infrastruktur-Anbieter die „Datenautobahnen“ ausbauen sollen und müssen, ist eine andere Frage.

Nochmal: Es gibt ernste Probleme mit der Netzneutralität. Und deshalb verdient die Debatte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Fakten.

O2-Pornosperre: Netzneutralität trifft Netzsperren

Der Guardian hat eine Geschichte veröffentlicht, die als ein cautionary tale, eine mahnende Lektion für die Themen Netzneutralität und Netzsperren gesehen werden kann.

Der Mobilfunkprovider O2 hat demnach eine Sperre für „18+“-Webseiten eingeführt. Wer sich Webseiten ansehen will, die nichts für Jugendliche sind — zumindest nach Ansicht des Dienstleisters von O2 — wird auf eine Seite umgeleitet, wo sich der erwachsene User über eine Kreditkartenzahlung verifizieren soll. Wie bei so einem groben Eingriff in den Netzverkehr zu erwarten ist, hatte das unerwünschte Konsequenzen.

Lovefre.sh, a location-based service for finding fresh food, discovered that it had been rated at „only suitable for over 18s“ by a third-party company which provides content filtering for O2, and that users of its iPhone app – which has seen nearly 18,000 downloads from Apple’s App Store since its launch – would only see a blank page.

Sprich: die von O2 beauftragten Jugendschützer haben einen Service für frische Lebensmittel gesperrt. Weil: „fresh“ und „love“ sind ja eindeutige Zeichen für Teen-Pornographie, oder etwa nicht? Die Nutzer der iPhone-App des Anbieters bekamen den Hinweis auf die vermeintliche Jugendgefährdung durch frische Lebensmittel erst gar nicht angezeigt, da der Anbieter nicht damit gerechnet hat, dass ein Provider seine Datenströme anzapfen und verfälschen würde. Um die ungerechtfertigte Sperre abzustellen, benötigte O2 mehrere Tage.

Etwas misstrauisch wurde ich bei diesem Absatz, der das Vorgehen bei der Nutzerauthentifizierung beschreibt:

O2 says that the move is not censorship, and that it is not profiting from the verification process. A £1 payment is made, but £2.50 is then refunded to the credit card and the phone is approved for full access.

Ich glaube ja viel – aber dass O2 1,50 britische Pfund verschenkt, ist unrealistisch. Solche Geldgeschenke werden gewöhnlich nur verteilt, wenn eine Firma mit künftigen Einnahmen rechnet. Und der Gedanke scheint richtig: Den Leserkommentaren entnehme ich, dass die Kreditkarten-Verifizierung von der Firma bango.com bereitgestellt wird. Und der Webseite des Unternehmens entnehme ich, dass Bango nicht etwa Jugendschutz-Spezialist ist, sondern eine mobile Zahlungplattform bereitstellt.

Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um hier zwei und zwei zusammenzuzählen. O2 leitet Leute, die vermeintlich auf Pornos zugreifen wollen, auf einen Zahlungsservice um, wo sie sich zwangsweise registrieren müssen. Der Zahlungsanbieter gibt den Leuten einen kleinen Anfangsbonus, weil er erwartet an zukünftigen Einnahmen beteiligt zu werden. Und was verkauft sich im Netz besonders gut? Richtig: Pornos.

(Update:) Bango versichert auf seiner Website:

What content types can be billed?
All forms of content from general through to all forms of adult. However, all content which is not suitable for those under 18 must be rated as R in the Bango system and payment may only be collected from those which have been verified by Three as over 18. The Bango system handles this automatically.

Auf deutsch: O2 beweist hier keine Fürsorge für Kinder, sondern nur für die eigene Bilanz. In der Preistabelle von Bango.com wird O2 UK mit einer bemerkenswert hohen Auszahlungsrate von 84,1 Prozent für die Gewerbekunden aufgeführt. Sprich: 15,9 Prozent der abgewickelten Beträge bleiben bleiben bei Bango und O2. Zahlen die Kunden hingegen über einen Zahlungsanbieter, der kein Abkommen mit O2 hat, dann geht der Provider leer aus.

Jugendschutz kann so ein einträgliches Geschäft sein.

Update: wie Wired berichtet waren weitere Seiten betroffen:

Among the sites blocked at the time of writing are Gawker’s car blog Jalopnik, sexual health charity Brook and even Google Translate. Thankfully, Wired.co.uk slips through the net — for now.

The Register hat einige Hintergründe zu den Jugendschutzsperren. Demnach sind mobile Provider seit Jahren verpflichtet, Jugendschutzsysteme anzubieten. Die Umsetzung grenzte aber schon immer ans Kuriose:

All the UK’s mobile operators face the same issue – unlike fixed internet service provides the mobile operators are required to police access to adult content. Orange will let you drop into a shop with a photo ID and most operators will verify age over the phone one way or another – your correspondent’s suggestion, while employed at O2 half a decade ago, was that customers should just be asked to name two Pink Floyd albums, but that wasn’t considered secure enough.

Wohlgemerkt: die Regeln gelten nur für das mobile Netz. Wer über einen O2-Hotspot online geht, kann ohne age verification weiter surfen.

OpenDNS und der Netzneutralitäts-Showdown?

David Ulevitch, Gründer von OpenDNS, beklagt sich gegenüber der Washington Post über eine Blockade durch einen der weltweit größten Provider, weiter könnten folgen:

Q: Why do you have a dog in this fight?
A: We just want a level playing field. Verizon Wireless is blocking us and there are reports that ISPs want to block OpenDNS. They don’t want third party domain name services.

Q: Why would they do this?
A: We have 20 million users, it’s free (for consumers) and we are making money. We serve search results and ads like Yahoo or Google to people who have opted in and chosen to use my service. So we monetize traffic that way. The ISPs see this as all this revenue they are leaving on the table that they believe belongs to them. I don’t know why they think so because it doesn’t belong to them.

Der Fall könnte ein Showcase für Netzneutralität sein. Ein Zugangsprovider dreht einem innovativem Startup den Hahn ab und raubt seinen Kunden, die Möglichkeit dessen Service zu nutzen. Ein Verstoß gegen Netzneutralität. Sonnenklar! Spätestens seit dem Google-Deal hat sich Verizon ja eh auf der Seite des Bösen platziert, ist einer der Vorzeige-Schurken in der Netzneutralitätsdebatten.

Schönheitsfehler: Verizon erklärt gegenüber der Washington Post, dass Sie OpenDNS gar nicht blockieren.

A Verizon Wireless spokeswoman said Monday its network engineers „see no issue from our end“ and that the service isn’t being blocked.

Aber auch wenn das Dementi falsch wäre: OpenDNS ist im Gegensatz zu dem Namen der Firma alles andere als offen. Die Firma macht genau das, was Netzneutralitäts-Verfechter manchen Access-Providern vorwerfen. Statt standardgemäß die Kunden bei falscheingaben mit der korrekten Fehlermeldung zu bedienen, biegt OpenDNS diese Anfragen um, um für sich Werbeeinnahmen zu generieren. Also gehört OpenDNS eigentlich zu den Bösewichten, die intransparent und heimtückisch das Netz vergewaltigen. Aber gleichzeitig sollten die Kunden doch die Möglichkeit haben, sich selbst zu entmündigen, oder?

Netzneutralität? Gesundheit!

Die Pressearbeit der Deutschen Telekom hat sich zur Verteidigung des Angriffs auf die Netzneutralität ein schönes Thema ausgesucht: Gesundheitsanwendungen über das Internet. Wer würde auch gegen Gesundheit sein wollen?

Wo könnte latenzfreie Verbindungen wichtiger sein als bei Herz-OPs, bei denen der Operateur ein paar Tausend Kilometer entfernt ist, wie es in den weiten Steppen Deutschlands immer wieder der Fall ist. Wo?

Richtig: im Finanzsektor. Hier wird Diskriminierungsfreiheit und Latenz so groß geschrieben, dass die New Yorker Börse die Länge der Netzwerkkabel überprüfen muss, damit niemand eine Millisekunde mehr herausschlagen kann.

Warum hat die Finanzbranche also noch nicht den Abbau der Netzneutralität verlangt? Sonst sind die Ackermänner doch gar nicht schüchtern, wenn es um Forderungen geht.

Nun, einen Hinweis bietet eine Pressemitteilung von Level3, die mich heute erreichte.

Frankfurt/Main, 17. August 2010 – Level 3 bietet ab sofort eine direkte Anbindung an BATS Europe, den Betreiber einer europäischen Multilateral Trading Facility (MTF). Damit erhalten Level 3-Kunden aus der
Finanzdienstleistungsbranche Zugang zum internationalen Tier-1 Glasfasernetz von Level 3 und profitieren von niedrigen Latenzzeiten bei der Ausführung von europäischen Aufträgen in Nordamerika.

„Bei Finanztransaktionen zählen häufig Bruchteile von Sekunden, deshalb haben wir unsere Lösungen so ausgerichtet, dass sie auch den extrem hohen Ansprüchen der Finanzindustrie genügen“, erklärt James Heard, President European Markets bei Level 3. „Die an BATS angeschlossenen Händler haben jetzt Zugang zu Lösungen, die neun von zehn Top-Banken im Tagesgeschäft nutzen. Dazu gehören der Handel mit geringer Verzögerung, skalierbare Hochgeschwindigkeitszugänge und die Datenübertragung auf einem Sicherheitsniveau, das die wichtigen Industriestandards erfüllt.“

Aber über dieses Netz kann man sicher keine Herz-OPs ausführen. Welches Herz ist auch so viel wert, wie eine Million Finanzobligationen, die man 20 Sekunden später für einen Cent mehr weiter verkaufen kann?

Netzneutralität für Fortgeschrittene

Drüben auf dem Planeten Rot-Grün gibt es grade eine Petition Unterschriftenliste Pro Netzneutralität. Und es geht um wichtiges:

Ein freies und barrierefreies Internet ermöglicht es, dass innovative Produkte und Dienstleistungen überall auf der Welt angeboten werden können. Dies fördert Innovationsprozesse.

Das ist zwar korrekt – ohne Netzneutralität hätten wir heute in Deutschland vielleicht ein stark ausgebautes BTX an Stelle des Internets. Niemand will das. Aber Netzneutralität kann man auf so viele Weisen interpretieren, dass letztlich auch René Obermann den Appell unterschreiben könnte. Machen wir es daher etwas konkreter: Statt dem gefälligen „Seid ihr für Netzneutralität?“ sollte man vielleicht spezifischer fragen:

  • Wer soll ein Internet „ohne staatliche oder wirtschaftliche Eingriffe“ durchsetzen, wer entscheidet wann sie von einem Provider gebrochen wurde? Die Bundesnetzagentur nach den Vorgaben von Enquette-Kommission, Bundestag und Wirtschaftsministerium? Eine amerikanische Regierungsbehörde?
  • Darf die Telekom Bandbreite für ihr T-Entertain-Multicast reservieren oder soll im Zweifel das Fernsehbild gestört werden, wenn ein besonders großer Download läuft?
  • Darf mein Voice-over-IP-Telefon meinem Provider signalisieren, dass ein Telefongespräch unfreundlicher auf Verzögerungen im Datenfluss reagiert als die E-Mail, die ich parallel abschicke?
  • Darf ein Mobilfunkprovider gesonderte Datentarife für das neuste iPhone erheben? (Zusatzfrage: wenn ihr dagegen seid, warum kauft ihr es dann massenhaft?)

Netz der Netze

Vielleicht hat Obermann ja recht: der Telekom-Backbone ist leidlich gut und YouTube verbraucht eine Menge Traffic. Das muss doch bezahlt werden!

Aber eine Frage: YouTube-Videos abzuspielen verbraucht auch massig Strom, ohne Strom klappt weder T-Entertain noch das iPhone. Was zahlt die Telekom an RWE und Konsorten für den Stromverbrauch ihrer Kunden?

Tag der Abrechnung

Und wieder Mal die alte Leier

Die Deutsche Telekom will Anbieter von datenintensiven Diensten wie Google und Apple künftig stärker zur Kasse bitten. "Ein gut gemachtes Netzangebot ist am Ende auch kostenpflichtig", sagte Telekom-Chef René Obermann einem dpa-Bericht zufolge dem Manager Magazin. Wenn die Telekom besondere Netzsicherheit oder höchste Übertragungsqualität zum Beispiel für Musik oder Video biete, müsse dies "auch differenziert bepreist werden". Entsprechende Diskussionen mit Diensteanbietern wie Google seien angestoßen.

Das Lustige an der Diskussion ist, dass immer wieder Google als böser Traffic-Nassauer angekreidet wird. Wenn man aber sieht, welche Investitionen Google in die Infrastruktur gesteckt hat, ergibt sich ein ganz anderes Bild.

Teuer für Provider ist es, wenn sie Traffic über vier, fünf oder gar zwölf Hops in fremde Netze transportieren müssen. Wenn sie dagegen Traffic in ihrem eigenen Netz verteilen, ist der Kostenfaktor im Vergleich kaum erwähnenswert.

Nun hat Google aber nicht nur in der ganzen Welt seine Rechenzentren verteilt, sie haben sich auch an direkte Anbindung bei allen möglichen Providern bemüht. Google ist quasi sein eigenes Akamai-Netzwerk – wenn die Telekom mehr als einen Hop außerhalb ihres Netzes gehen muss, um Google zu erreichen, machen sie etwas falsch.

Wenn man also alles ökonomisch durchrechnet und die Trafficleistungen der Parteien genau beleuchtet, könnte – Achtung: das ist eine wilde Hypothese – Google tatsächlich Geld herausbekommen, statt es an die Telekom zu bezahlen.

Apple hingegen müsste hingegen wohl draufzahlen (sei es an die Telekom oder Akamai) – obwohl: die Telekom könnte als Vertriebspartner ja auch die lächerlich großen iPhone-Updates verteilen und so den Traffic ins interne Netzwerk verschieben.

Netzneutralität ist nicht einfach

Tillmann Neuscheler hat sich für die FAZ die Mühe gemacht, das komplexe Thema „Netzneutralität“ anzugehen. Dabei ist er relativ stringent vorgegangen, hat sich nicht von den üblichen Klischees der internetverstopfenden Filesharer leiten lassen und sogar Fachleute befragt.

Ökonomen warnen davor, eine solche Priorisierung im Internet einfach gesetzlich zu verbieten. Bei vielen Anwendungen mache es kaum etwas aus, wenn die Daten leicht verzögert am Ziel ankämen. Etwa bei E-Mails oder beim Runterladen von großen Dateien über Nacht. Andere Anwendungen dagegen seien sehr zeitsensibel – etwa die Internet-Telefonie oder Video-Konferenzen über das Internet. Die unterschiedliche Zeitsensibilität müsse beachtet werden.

Da ich selbst Volkswirt bin, ein paar nicht ganz unwesentliche Anmerkungen:

  • Das Internet ist nur so groß geworden, weil es die einzige Technik ohne aufwändige Abrechnungsmechanismen war. Paketvermittelte Datenverbindungen gab es auch vorher – wäre das alleinige der Erfolgsfaktor gewesen, dann würden wir heute mit 64kBit und Datex-P surfen. Naja: eher paddeln. Und die Bundesnetzagentur würde Skype vielleicht im Jahr 2015 probeweise für 1000 Haushalte in Berlin-Wilmersdorf zulassen.
  • Priorisierte Pakete in Deutschland mögen in der Theorie schön und gut sein – was macht man aber, wenn die Gegenstelle in den USA oder Neuseeland nichts davon hält? Eine explizite Aufhebung der Netzneutralität würde unmittelbar zu Marktschranken und damit Wohlfahrtsverlusten führen – die Verwaltung dieser komplexen Verträge, die jeder Provider mit quasi jedem anderen Provider weltweit abschließen müsste, übersteigen die mittelfristig zu erwartenden Einnahmen bei weitem. Und selbst wenn die Politik zu einer Art Kyoto-Abkommen für Daten fähig wäre, die Ökonomen haben wenige Modelle in der Schublade, die das Problem lösen könnten. Wir können ja nicht Mal wirklich ausknobeln, ob Fernsehsender die Kabelnetzbetreiber für die Durchleitung bezahlen müssen oder die Kabelnetze den Content bezahlen sollten.
  • Die Netzneutralität ist in Deutschland längst unter Beschuss. Hat niemand gemerkt, was zum Beispiel die Telekom in Verbund mit Apple macht? Traffic wird teurer, weil man ein bestimmtes Endgerät benutzt. Bestimmte Services werden zentral und ohne Kontrolle verhindert. Dabei geht es alleine um Produzentenrente und Marktanteile, nicht etwa um Investitionen und Servicequalität.

Es gibt noch viele, viele weitere Aspekte, aber das soll an dieser Stelle für heute genügen.