Netz- gegen Kinder-Lobby?

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung macht heute mit dem Thema Jugendmedienschutz-Staatsvertrag auf. (Der Artikel ist inzwischen online.) Ich bin überrascht, denn das Thema ist trocken, komplex und interessiert eigentlich niemanden so recht. Kinderschutz ist sicher interessant, aber wer will dafür Paragraphen wälzen? Doch mit den Thesen der Autorin Florentine Fritzen wird es etwas interessanter.

2010 war eine Novelle des Staatsvertrags zum Jugendmedienschutzgesetz gescheitert, nachdem sich Blogger und Netzaktivisten vehement dagegen ausgesprochen hatten. Insbesondere wehrten sie sich gegen den Plan, freiwillige Alterskennzeichnungen für Internetseiten einzuführen: Das sei Zensur.

Die zuständige Rundfunkkommission der Länder macht jetzt, schon zum zweiten Mal, einen zag haften Versuch, den Staatsvertrag zu überarbeiten. Betonung auf zag haft, vor einer echten Reform schrecken die Verantwortlichen zurück. Das liegt an der Macht der Internetkonzerne und der „Netzgemeinde“ – eine unheilvolle Allianz.

Die unsichtbare Allianz

Die Macht dieser unheilvollen Allianz sabotiert den Kinderschutz? Das klingt nach einem spannenden Drehbuch, ist aber doch meilenweit von unserer bundesdeutschen Realität entfernt.

Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ist 2010 nicht an einer ominösen Netz-Lobby gescheitert. Die ach so mächtigen Konzerne Facebook und Google ließen damals so gut wie nichts von sich hören. Interessiert war eine kleine und immer mehr irrelevante Industrie von „Erotik-Anbietern“, die sich in den üblichen Anhörungen zu Wort meldete und mit dem Vorschlag schließlich halbwegs gut leben konnte. Diese Erotikanbieter hätten gerne eine unwirksame Alterskennzeichnung über ihre Seiten gesetzt, um die umsatztötende Ausweiskontrolle abzuschalten zu können.

Die „Netzgemeinde“ hingegen hat tatsächlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, die sie erreichen konnte. Und das reichte nicht. Wie sollte es auch? Es waren ein paar wenige Engagierte, deren Antrieb im Wesentlichen war, dass sie glaubten es besser wissen. So wie sie es auch besser wussten, als Kinderschutzverbände Netzsperren gegen Kinderpornografie forderten. Hier hatten die Netzlobbyisten tatsächlich gewonnen — und wie sich herausstellt, war das gut so. Denn ihre Position diente dem Kindeswohl — wie sich jetzt auch bestätigt hat — während die Pläne der Kinderschutz-Lobbyisten den Schutz geschwächt hätten, weil sie empört irgendetwas tun wollten.

Einen Staatsvertrag abzuschließen ist ein hochkomplexes Thema. Landesregierungen haben Fachabteilungen, die sich treffen müssen, die sondieren, und dann mit Parteifachpolitikern Rücksprache halten, mit dem einen oder anderen Industrievertreter und den Stakeholdern. Dann mischt man das alles zusammen und lässt es von den Landesparlamenten abwinken. Wenn die Landesparlamente richtig mitbestimmen wollen, gibt es eben keinen Staatsvertrag — wir haben das zum Beispiel bei den Glücksspielen gesehen. Ein Staatsvertrag klappt eben nur, wenn er nicht politisiert wird. Und dazu gehört mehr als der „Aufschrei“.

Keine Stimmen, keine Kekse

Die „Netzaktivisten“ konnte den Landespolitikern nicht damit drohen, dass sie Stimmen verlieren würden, sie konnten auch keine Arbeitsplatzverluste androhen — denn die waren schon vor Jahren verschwunden und die Aktivisten keine Arbeitgeber. Der Netzprotest war meiner Meinung nach nur ein willkommener Vorwand, ein Projekt gegen die Wand fahren zu lassen, an dessen Sinn eh niemand wirklich glaubte. Eine bundesrepublikanische Pflichtübung im Schulterschluss wurde nach einer verlorenen Wahl und einer Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen mit einem Tritt ans Schienbein beendet.

Warum auch nicht? Denn wer sich erhoffte, den Kinderschutz zu verbessern, musste die Augen ziemlich fest verschlossen haben. Denn erinnern wir uns: Bis dahin gab es nicht ein einziges Jugendschutzprogramm, dass die Kommission für Jugendmedienschutz zertifiziert hatte. Die Sendezeitbeschränkung, die auch Florentine Fritzen als „Unsinn“ bezeichnet, war hingegen Realität. Auf der Pro-Seite: Man macht irgendetwas, weil man es eben so macht. Contra-Seite: Eine politische Ohrfeige für den Gegner. Die Entscheidung in NRW fiel leicht.

Gegen nackte Brathähnchen!

Wichtiger noch: Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag scheiterte damals und scheitert in Zukunft daran, dass man das Internet nicht sinnvoll auf Basis eines überkommenen föderalen Konstrukts regulieren kann. SchülerVZ ist Vergangenheit und Wer-kennt-wen schließt bald die Pforten. Für wen sollen die Gesetze noch gelten, die die Bundesländer nun über soziale Netzwerke beschließen? Was erreichen wir, wenn wir dem Forum von Chefkoch.de Vorschriften machen? Soll Thilo Weichert nach seiner Zeit als Datenschutzbeauftragter Facebook in Zukunft als Kinderschutzbeauftragter verklagen? Und dann verlieren?

Wenn ein Staatsvertrag durchgewunken wird — wie er auch immer aussehen mag — dann haben wir ein Gesetz, dass von 16 verschiedenen Behörden durchgesetzt werden soll. Die jeweils nur auf ihrem kleinen Flickenteppich entscheiden müssen, was nun den schwammigen Regeln entspricht und was nicht. Beim Jugendmedienschutz ist es nochmal komplexer — ein zur Selbstblockade neigendes System aus Bundesgesetzen, Landesmedienanstalten, Selbstregulierern, Amtsrichtern und sonstigen Stellen produziert irgendetwas, dessen Erfolg niemals überprüft wird.

Filterklasse durch Filtermasse?

An dieser Stelle setzt Fritzen an, um ihre Forderung zu formulieren:

Jugendschützer hielten für sinnvoll, wenn jeder Nutzer beim Installieren eines Computers gefragt würde, ob er ein solches Programm laden möchte. Dann würden Eltern automatisch auf dessen Existenz aufmerksam gemacht – und müssten sich, wenn sie es nicht nutzen wollen, bewusst dagegen entscheiden. […]

Wären solche Programme weiter verbreitet, könnten sich die Gewichte zwischen Anbietern und Nutzern verschieben. Aber nur dann, wenn man gleichzeitig die Anbieter zwänge, ihre Inhalte zu kennzeichnen (zum Beispiel „ab 12“) – und selbst zu kontrollieren ob jemand etwas auf der Seite hinterlässt, das der eigenen Einstufung widerspricht.

Das klingt sinnvoll, hat aber einen Haken. Facebook und Google haben diese Kennzeichnung in ihren Diensten längst drin. Natürlich nicht in Form eines bundesdeutsch zertifizierten Digital-Siegels, sondern einfach in ihren Nutzungsbedingungen. Wer keine 12 Jahre alt ist, darf eigentlich nicht rein. Und zum Jugendschutz wird dann prophylaktisch jede Brustwarze gelöscht. Das ist nicht der Jugendschutzstandard von Sachsen-Anhalt? Bitte stellen Sie sich hinten an, die Türkei hatte einen Termin vor Ihnen gemacht.

Wer sich nicht die Arbeit mit dem Jugendschutzsiegel machen wird: Der Inhaber dieses Blogs. Ich wäre schön blöd, wenn ich mich auf eine Alterstufe festlege und mir dann ein Leserkommentar durchrutscht, der dem nicht entspricht. Ich kann ohne Leser unter 12, 14 oder 18 leben. Ob die jedoch mit einem Internet zufrieden sind, wo sie nur Inhalte von Anbietern sehen können, die sie heute schon per De-Mail erreichen können? Ich glaube ja nicht.

JMStV auf britische Art: Netzsperren für Pornos

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident hat es schon klar gemacht – wenn die schöne Illusion des staatlichen Jugendmedienschutzes nicht durchsetzbar ist, muss man zu härteren Mitteln greifen: Sperrverfügungen – auch bekannt als Netzsperren.

Die britische Regierung — nicht gehindert durch ein föderales System — ist offenbar schon weiter, wie ein Artikel der Sunday Times beschreibt:

THE UK Government is to combat the early sexualization of children by blocking internet pornography unless parents request it, it was revealed today.

[…]

Instead of using parental controls to stop access to pornography – so-called „opting out“ – the tap will be turned off at source. Adults will then have to „opt in.“

Sprich: die Provider sollen sämtliche Internetseiten weltweit nach Porno-Gehalt qualifizieren und für ihre Kunden sperren. Zugang erhält nur, wer sich einem — wie auch immer gearteten — Alterscheck unterzieht. Die Erfahrung lehrt, dass solche Klassifikationen sehr verschieden ausfallen können. Selbst beim relativ gut abgegrenzten Begriff Kinderpornografie gibt es zum Teil große Schwierigkeiten.

Kurios ist die Begründung:

It follows the success of an operation by most British internet service providers (ISPs) to prevent people inadvertently viewing child porn websites. Ministers want companies to use similar technology to shut out adult pornography from children.

Sprich: die Kinderporno-Sperren sind das Vorbild. Was bei Kinderpornos funktioniert, muss ja auch für Pornos klappen.

Dazu gibt es zweierlei zu sagen. Erstens: Ob die Kinderporno-Sperre in Großbritannien ein Erfolg ist, hat bisher niemand wirklich untersucht. Einige Provider sperren, andere sperren nicht. Die Zahl der Sperren wird registriert – und das war es auch schon. Ob die Maßnahme irgendeine Wirkung hatte, ist auch fast ein Jahrzehnt nach Einführung unbekannt. Dass sich Leute unabsichtlich Kinderpornos ansehen, ist nach meiner Erfahrung lediglich eine oft verwendete Schutzbehauptung — ob im Gegenzug die Bemühungen der britischen Polizei zur Löschung von Kinderporno nicht so ausgeprägt sind, wie sie sein könnten, wurde sicherheitshalber auch nicht untersucht.

Das Argument ist: das Mittel ist erfolgreich, weil das Mittel existiert. Mit der gleichen Begründung könnte man sagen, dass der Wintereinbruch in Deutschland keinerlei Verkehrsprobleme verursacht hat. Schließlich fahren ja regelmäßig Streufahrzeuge und die Enteisungs-Teams an den Flughäfen sind dauernd im Einsatz.

Zweitens: Aufgrund der enormen Menge an Pornografie im Netz sind die Maßnahmen sehr schwer umzusetzen. Die Kinderpornografie-Sperren betreffen im Höchstfall ein paar Tausend Seiten – legale Porno-Seiten gibt es hingegen im Millionenbereich. Hier zu filtern führt entweder zu dramatischen Über- oder Unterreaktionen. Entweder werden nur ein paar Seiten gesperrt oder die Ausmaße sind so dramatisch, dass selbst die Wikipedia riskiert, blockiert zu werden. Kinderpornografie und Pornografie sind nicht vergleichbar – im einen fall wird oft realer Kindesmissbrauch gezeigt, im zweiten Fall haben Erwachsene Sex, eins der fundamentalsten Rechte der Menschen. Ob freiwillig, unfreiwillig, ob aufklärend oder schädlich ist für Zugangsprovider schlicht nicht zu unterscheiden. Sexuell aufgeladene Nacktheit, Aufklärung, der obere Reihe im Zeitschriftenregal, der Graubereich ist enorm.

Doch was spielen Fakten für eine Rolle, wenn man öffentliche Empörung zur Entscheidungsgrundlage macht?

„In the past, internet porn was regarded as a moral issue or a matter of taste. Now it has become a mental health issue because we now know the damage it is causing. We are seeing perverse sexual behavior among children. Legislation is both justifiable and feasible.“

She quoted the example of two underage brothers sentenced to at least five years‘ detention this year for a sadistic sex attack on two other boys in South Yorkshire. The brothers were said to have had a „toxic“ home life where they were exposed to pornography.

Die Diagnose gesellschaftlicher Probleme anhand des Extremfalls ist ein üblicher politischer Schachzug — ob und welche Auswirkungen Internet-Pornografie auf die Jugend im Allgemeinen haben, ist bisher keinesfalls erwiesen.

Was werden diese Politiker wohl vorschlagen, wenn sie erkennen, dass Pornografie trotz ihrer Netzsperren weiterhin über P2P-Tauschbörsen oder gar Handies ausgetauscht werden? Wann kommt die Forderung, dass man doch auch Wikileaks sperren sollte? Wenn man Millionen Porno-Seiten sperren kann, sind 2000 Wikileaks-Mirror ja auch kein Problem.

Deutsche Netzsperren-Gegner können sich erst Mal freuen. Ihr Argument, dass Netzsperren einer Art recht schnell zu Sperren anderer Art und damit zu einer umfassenden Internet-Zensur führen werden, wurde einmal mehr bestätigt. Nicht in Saudi-Arabien, China oder der Türkei, sondern in MittelEuropa, in der Geburtsstätte der parlamentarischen Demokratie.

Jugendmedienschutz, fiktiv

Jetzt, wo sogar Hinz und Svensson endlich „The West Wing“ entdeckt haben, kann ich ja meine Gewohnheit aufnehmen, jede politische Situation mit einem Quote aus der Serie zu kommentieren. Thema Jugendschutz und Meinungsfreiheit:

Reverend Van Dyke: If our children can buy pornography on any street corner for five dollars, isn’t that too high a price to pay for free speech?
President Bartlet: No.
Reverend Van Dyke: Really?
President Bartlet: On the other hand, I do think that five dollars is too high a price to pay for pornography.