Die Drücker der Facegängerzone

Auch ich habe vor kurzem diese eindrucksvolle Guardian-Grafik gesehen, wo der rote Google-Graph den blauen Google-Graph über Jahre hinterherhinkt und plötzlich, kurz nach der Einführung der Guardian-Facebook-App, da holt der rote Graph den blauen ein. Das heißt: Jetzt finden so viele Leser von Facebook zum Guardian wie vorher von Google. Die Einbindung bei Facebook ist also ein voller Erfolg im Interesse der Leser. Und die Guardian-App ist offensichtlich sehr, sehr gut.

Doch ein Ausflug in die Fußgängerzone — Verzeihung — in die Facegängerzone belehrte mich eines Besseren. Das Wetter war sonnig, ich und meine 3478 Freunde flanierten unter dem markengeschützten blauen Himmel einher, als der Ruf eines jungen Mannes mit einem Guardian-T-Shirt erklang. „Kostenlose Qualitätszeitung, der Guardian, kostenlos! Heute bei uns im Blatt: Wie Daten das Radio verändern. Das lesen Sie exklusiv bei uns im Guardian. Kostenlos!“

„Ach ja, der Guardian“, sagte ich im medienkompetenten Kenner-Tonfall. Sehr gute Zeitung. Freunde sagen nur gutes über Sie.“ Der junge Mann war sichtlich erfreut: „Kostenlos, der Guardian, exklusiv. Greifen Sie zu, klicken Sie hier.“ „Aber gerne doch, geben Sie her“, sagte ich und griff nach der hingestreckten Zeitung. „Moooooooment“, sagte der junge Mann und riss mir die Zeitung wieder aus der Hand. „Das ist der exklusive und völlig kostenlose Guardian!“ „Jaja.“ „Exklusiv und kostenlos!“ „So geben Sie ihn mir doch…“ „Um ihn zu bekommen, unterschreiben Sie bitte hier!“

Wie aus dem Nichts hatte der junge Mann ein Klemmbrett hervorgezaubert und hielt es mir unter die Nase. „Was ist denn das?“, fragte ich. „Nur eine Abobestätigung“, sagte er mit einem starren Lächeln. „Keine Bange. Kostenlos! Sie kommen täglich hier vorbei, ich mache ein Foto von Ihnen, wie sie die Zeitung halten. Und allen Freunden von Ihnen sag ich, was sie gelesen haben. Kostenlos. Exklusiv! Ihr Geburtsdatum brauche ich. Exklusiv! Kostenlos Geben sie mir Ihren Ausweis. Qualitätscontent.“

Von dieser Forschheit überrascht, war mein Enthusiasmus wieder abgekühlt. „Ach nein, so dringend war es mir nicht“, sagte ich. „Wissen Sie, im Büro liegt der Guardian kostenlos aus. Dann lese ich ihn halt dort…“ Ich wandte mich ab, um zu sehen ob einer meiner Freunde in der Facegängerzone nicht ein Katzen- oder Waschotterbaby zum Kraulen hätte. Nach solchen Konfrontationen beruhigt mich so etwas immer. Doch die Flauschstunde musste warten. Wieder aus dem Nichts hatte sich ein zweiter junger Mann vor mir aufgebaut, wieder mit einem Klemmbrett, das er mir begierig unter die Augen hielt.

„Alle ihr Freunde lesen den Guardian hier! Und alle lassen sich mit der Zeitung fotografieren.“ sagte er — nein: rief er mir aus wenigen Zentimetern Abstand entgegen. Dabei war er so erregt, dass er mir immer wieder das Klemmbrett gegen die Nase drückte. „Installieren Sie. Greifen Sie zu! Es ist kostenlos! Exklusiv! Super-duper-hyper-baby. Sie haben die volle Kontrolle. Wupdidu!!!“ Erschreckt von dieser Enthusiasmus-Attacke wandte ich mich ab und suchte eine Lücke in den Guardian-Trikots, die mich unbemerkt umringt hatten.

Ich lief los. „Abbrechen, Abbrechen“, gellte es aus meiner Kehle. Schnell rannte ich die Facegängerzone entlang. Egal, ob Otterbaby oder nicht, ich wollte weg von hier. „Haltet ihn“, rief einer der Guardian-Promoter. „Doch sein Kollege hielt ihn fest: „Lass das, ich mach das“. Eine Sekunde später spürte ich einen schwachen Schlag gegen den Hinterkopf. Der Promoter hatte mir eine Zeitung an den Kopf geworfen.

Doch ich blieb nicht stehen. Panikerfüllt lief ich weiter – nur weg von hier. „Laufen Sie nur“ schallte es hinter mir mit höhnischem Gelächter. „Heute bekommen sie die Zeitung ohne Unterschrift. Aber vergessen sie nicht: Wir sind immer hier. Und wir werden es immer wieder probieren!“

Ich gehe nicht mehr gerne in die Facegängerzone. Und wenn ich den Ruf der Promoter höre, dann klappe ich den Kragen hoch, mache mich klein und verdünnisiere mich.

Popcorn-Krieg um Wikileaks

Ich habe die Geschichte um die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange als Strohfeuer bezeichnet. Aber in diesem Sommer gibt es offenbar keinerlei Mangel an Stroh, so dass die Geschichte wohl noch einige Zeit Schlagzeilen verursachen wird.

Gerade habe ich den Tagesspiegel-Artikel von Christoph von Marschall gesehen, der mit der Märchenstunde um Julian Assange aufräumen will.

Die meisten US-Zeitungen schlagen einen distanzierten, aber nicht unfreundlichen Ton an. Viele deutsche Zeitungen lassen ihre Sympathie mit Assange und ihr Misstrauen gegenüber US-Militär und Geheimdiensten durchklingen. Die meisten deutschen Online-Medien betreiben bewusst oder unbewusst die Stilisierung Assanges zu einem Robin Hood des Internets. In Konfliktfällen wird seine Darstellung breit zitiert. Fakten, die diesem Bild widersprechen, und die Darstellung der Gegenseite, werden oft weggelassen.

In der Tat haben in der Vergangenheit viele Behauptungen von Wikileaks über nicht standgehalten. Allerdings schießt von Marschall für meinen Geschmack etwas über das Ziel hinaus. Das liegt aber auch daran, dass ich jetzt grade nicht nachvollziehen kann, wie viele Aussagen von Assange, denen der Tagesspiegel-Autor widerspricht, tatsächlich gefallen sind oder eventuell verfremdet wiedergegeben wurden. Zudem: ob Wikileaks in den USA tatsächlich gegen das Gesetz verstoßen hat, ist keinesfalls geklärt.

Man muss aber gar nicht lange suchen, um eindeutige Widersprüche zu finden: So zitiert der Guardian Assange in einem lesenswerten Artikel über die Fakten zum Vergewaltigungsvorwurf den Wikileaks-Gründer:

In subsequent tweets and interviews, Assange suggested that the timing of the allegations against him was „deeply disturbing“. He told al-Jazeera on Sunday: „It is clearly a smear campaign … The only question is who was involved. We can have some suspicions about who would benefit, but without direct evidence, I would not be willing to make a direct allegation.“

Das ist eine Logik-Konstruktion, die mancher Politiker erst nach zermürbenden Jahren im politischen Kampf hinbekommt. Wenn die Vorwürfe Teil einer Kampagne gegen Assange sind, dann ist dies ganz logisch eine direkte Anschuldigung gegenüber den beteiligten Frauen.

Dass die Anschuldigungen gegenüber Assange bekannt wurden, überrascht keineswegs. Ergeht ein Haftbefehl, müssen viele Polizisten Bescheid wissen. Und Boulevardmedien legen viel Wert auf Beziehungen zur Polizei um eben solche Informationen zu bekommen. Auch eine Art von Transparenz.

Einige enthusiastische Wikileaks-Anhänger sind unterdessen nicht zimperlich dabei, die beteiligten Frauen zu ermitteln und zu beschimpfen. Besonders skurril: einige Leute legen sehr großen Wert darauf, dass eins der vermeintlichen Opfer eine „radikale Feministin“ sei. Aber keine Sorge: erste vermeintlichen Verbindungen zur CIA wurden schon identifiziert, die Verschwörungsspirale rotiert. Wem Fakten zu langweilig sind, muss sich nicht mit ihnen beschäftigen.

Der britische Blogger David Allen Green fasst es so zusammen:

But if the enemies of WikiLeaks had actually wished to bring discredit on it with some smearing conspiracy, then they would not have brought WikiLeaks as much discredit as some of its supporters have managed by themselves in the last few days.

Aber auch im anderen Lager gießt man reichlich Öl ins Feuer: ein Abgeordneter des US-Repräsentantenhauses fordert die Todesstrafe für den mutmaßlichen Whistleblower Bradley Manning:

Following news that an Army private was accused with leaking thousands of pages of intelligence documents related to the war in Afghanistan, Congressman Mike Rogers says he supports execution for the soldier involved if he is ultimately found guilty.